Bernstein:Archiv des Lebens

  • Bernstein aus Myanmar ist bei Forschern und Sammlern hoch begehrt.
  • Diese Bernsteinexemplare sind besonders groß und schließen auch Wirbeltiere ein.
  • Doch die Arbeit der Wissenschaftler wird durch die Konflikte in der Region erschwert.

Von Joshua Sokol

An einem Frühlingsmorgen, Wolken über Tengchong, entsteht hier - Stück für Stück - ein Mosaik des Lebens. Es kündet von der Blütezeit der Dinosaurier, und erstreckt sich über Hunderte Tische, am Boden liegende Laken und Glastheken in kleinen Läden. Einige Händler verkaufen Jade oder Snacks, aber die meisten bieten Bernstein an: Rohbernstein, überzogen mit grauer Vulkanasche; polierter Bernstein, zu lächelnden Buddhas geschnitzt; eiergroße Kugeln aus Bernstein in der Farbe von Honig, Melasse oder Granat. Einige Besucher fahnden nach Schätzen für ihre eigene Sammlung, andere betätigen sich als virtuelle Händler. Sie halten Bernsteinteile vor ihr Smartphone, damit entfernte Käufer sie begutachten.

Auch Wissenschaftler durchkämmen den Markt der westchinesischen Stadt, etwa der Paläontologe Xing Lida von der Chinesischen Universität für Geowissenschaften in Peking. An einem Tisch bleibt er stehen und untersucht einen Bernstein von der Form und Größe eines Golfballs, in ihm eingeschlossen eine Kakerlake aus der Kreidezeit, gekrümmter Körper, intakte Gliedmaßen. Der Händler verlangt 900 US-Dollar. "Ein guter Preis", sagt Xing. Aber er geht weiter, er sucht nach wissenschaftlich wertvolleren Objekten.

Xing ist ein Star unter den Dinosaurierforschern. Allein im vergangenen Jahr veröffentlichte er 25 wissenschaftliche Aufsätze und einen Fantasyroman über Dinosaurier, 2,6 Millionen Menschen folgen ihm auf Weibo, einer chinesischen Mischung aus Facebook und Twitter. Berühmt ist er auch für Entdeckungen, die er im Bernstein gemacht hat: Küken primitiver Vögel, der gefiederte Schwanz eines Dinosauriers, Eidechsen, Frösche, Schlangen, Schnecken. Xing und andere Forscher verfassen mithilfe des fossilen Harzes eine Chronik des Lebens im Regenwald vor 100 Millionen Jahren.

"Es ist ein Wahnsinn", sagt der Paläontologe David Grimaldi, Kurator der Bernsteinsammlung im American Museum of Natural History in New York City. Hunderte wissenschaftliche Arbeiten beruhen auf den Bernsteinsammlungen, viele Funde sind noch nicht publiziert, darunter Vögel, Tausende Insektenarten und Wassertiere wie Krabben oder Salamander.

Aber so sehr der myanmarische Bernstein Wissenschaftler zum Träumen bringt, hinter ihm steckt auch ein ethisches Minenfeld. Die Fossilien stammen aus dem von Konflikten heimgesuchten Bundesstaat Kachin. Hier konkurrieren politische Fraktionen um das Geld, das der Bernstein bringt. "Diese Waren schüren den Konflikt", sagt Paul Donowitz von der in Washington ansässigen NGO Global Witness. "Sie liefern Einnahmen für Waffen und Konfliktparteien, zugleich begeht die Regierung Menschenrechtsverletzungen, um den Zugang zu diesen Ressourcen zu verhindern."

Ein Großteil des Bernsteins wird nach China geschmuggelt, allein im Jahr 2015 soll der Umsatz bei diesen Geschäften bis zu einer Milliarde Dollar betragen haben. In China konkurrieren Juweliere, Privatsammler und Wissenschaftler um die begehrten Objekte, bezahlt wird per App. Häufig gewinnen die reichen Sammler die virtuellen Auktionen, deshalb können die Forscher den Bernstein häufig nur auf Leihbasis untersuchen. Das ist es, was Xing auf den Markt treibt. "Wenn wir ein Objekt nicht kaufen, wird es wahrscheinlich zu billigem Schmuck am Hals eines jungen Mädchens."

Vor knapp hundert Millionen Jahren, ungefähr 220 Kilometer entfernt von Tengchong im heutigen Myanmar, verhallten die Rufe fremdartiger Wesen im Küstenwald. Die Bäume dort verloren gewaltige Mengen Harz, als Insekten sie angriffen oder Äste im Sturm abbrachen. Das Harz sammelte sich in Lachen, unzählige Kreaturen versanken darin. Mit der Zeit verdampften die weihrauchartigen Gase des Harzes, seine Moleküle verbanden sich zu Polymeren, härteten aus und wurden zu dem, was wir heute Bernstein nennen.

Im Bernstein bleiben selbst feine Details und weiches Gewebe erhalten. Der Harz sickert in das Gewebe, trocknet Tiere und Pflanzen aus und bewahrt sie vor Pilzen und Fäulnis. Die harte Hülle schützt die fossilen Einschlüsse weiter. Im besten Fall "bleiben Details auf zellulärer oder sogar subzellulärer Ebene erhalten", sagt Victoria McCoy, Paläontologin an der Universität Bonn

Anders als in anderen wichtigen Sammelgebieten wie den Stränden des Baltikums oder der Dominikanischen Republik, findet sich im weitaus älteren myanmarischen Bernstein ein Panoptikum an Kreaturen, einfach schon wegen der Mengen und der Größe der Funde, die oft kleinen Melonen gleichen. Hier gibt es nicht nur Insekten und Krabbeltiere, sondern erstaunlich viele Wirbeltiere.

Allein im vergangenen Jahr meldeten Wissenschaftler die Entdeckung von 321 neuen Arten, insgesamt kennt man nun 1195 Arten aus der Region. In den Bernsteinminen Myanmars ist die Artenvielfalt größer als in jedem anderen fossilen Vorkommen aus der Zeit der Dinosaurier. Sie hilft, den Baum des Lebens besser zu rekonstruieren.

Die Kriegsparteien wollen am Gewinn beteiligt werden

Fotos von Hkun Lat. HONORARPFLICHTIGE BILDER!!! Honorar muss noch verhandelt werden. Reserviert für Wissen.

Amber Mining

Mit behelfsmäßigen Zeltplanen haben die Bergleute von Tanai die Minen abgedeckt.

(Foto: Hkun Lat/Redux/laif)

Der wichtigste Umschlagplatz für das alte Harz ist der geschäftige Markt im chinesischen Tengchong. Doch abgebaut wird es in einer Konfliktzone. Deshalb hat sich Xing 2014 nach Myanmar eingeschlichen, um an die Quelle jener Bernsteinfunde zu gelangen, die ihn so faszinieren. Sie stammen aus Minen nahe der Gemeinde Tanai im Kachin-Staat, ein für Ausländer gesperrtes Gebiet. Hier kämpfen die Regierungsarmee Myanmars und aufständische, ethnische Milizen seit Jahrzehnten um die Kontrolle über lukrative Ressourcen wie Jade, Holz und nun auch um Bernstein. Ein Freund Xings schmuggelte Xing dort ein, gekleidet in einem Longyi, dem traditionellen Wickelrock des Landes.

Xing und andere Besucher der Minen berichten von einst üppigen Landschaften, die sich in karge Hänge verwandelt haben. Zelte bedecken beklemmende Löcher mit einer Tiefe von bis zu 100 Metern. Dort arbeiten ärmliche Bergleute, die sich nach Unfällen selbst um ihre medizinische Versorgung kümmern müssen. Sie graben nach unten und tunneln in die Waagrechte, wenn sie auf Bernsteinschichten treffen. Ihre Funde sortieren sie in der Nacht, damit niemand etwas mitbekommt. Bernstein mit fossilen Einschlüssen bedeutet, dass eine Mine rentabel werden könnte. Die Bergleute berichten, dass beide Kriegsparteien Bestechungsgelder für Schürfrechte und Ausrüstung und zudem zehn Prozent der Gewinne als Steuer einfordern.

Doch Xings Reise nach Tanai führte ihn auch zu neuen wissenschaftlichen Spekulationen. So vermutet er, dass die Ursprünge des Bernsteins komplizierter sind als gedacht. Das meist genannte Alter von 99 Millionen Jahren ist auf die radiometrische Datierung von Vulkanasche zurückzuführen, die man einem Bergmann abgekauft hatte. Neuere Ascheproben lassen Paläontologen wie Wang Bo vom Nanjing-Institut für Geologie und Paläontologie (Nigpas) in China vermuten, dass der Bernstein über einen Zeitraum von mindestens fünf Millionen Jahren entstanden ist.

Die Bergleute und Händler interessieren sich nicht für solche geologischen Details. Nachdem sie den Bernstein ausgegraben und grob sortiert haben, bringen sie ihn per Motorroller, Auto, Boot und Elefanten zu Händlern nach Myitkyina oder direkt über die Grenze nach Tengchong. Das Gesetz verbietet zwar den Export von Fossilien ohne Erlaubnis - aber Bernstein wird als Edelstein eingestuft und darf passieren. Weil jedoch China Schmuckimporte besteuert, schmuggeln die Leute den Bernstein über die Grenze. Die lokalen Behörden in Tengchong tolerieren dennoch den Markt, überwachen ihn sogar. Das erleichtert die Geschäfte.

Wissenschaftler haben das schnell mitbekommen. Bereits seit den 1920er-Jahren gibt eine kleine Sammlung im Londoner Naturkundemuseum Einblick in die Vielfalt des Lebens im myanmarischen Bernstein. Und während eines Waffenstillstands Ende der 90er-Jahre baute eine kleine kanadische Firma Bernstein in Kachin ab. Sie verschiffte 75 Kilogramm Rohbernstein in das American Museum of Natural History in New York. Kurator Grimaldi zählte bereits damals, dass jedes Kilogramm, das er mit Säure wusch, schnitt und polierte, durchschnittlich 46 Organismen enthielt. So richtig zu boomen begann der Markt in den frühen 2010er-Jahren, als Bernsteinminen in China erschlossen wurden. Die Nachfrage nach neuen Quellen stieg - und das Rinnsal der Bernsteinfossilien aus Myanmar verwandelte sich in eine Flut.

Xing hatte bereits vor seinem Besuch auf dem Markt in Tengchong einen Kauf arrangiert, nachdem er Bilder auf sein Handy geschickt bekommen hatte. In einem schwach beleuchteten Laden präsentiert ihm ein Händler aus Myitkynia die attraktiven Objekte: zwei Eidechsen in Bernstein. Bei einer sind stellenweise Haut und Gewebe weg, zerbrechliche Knochen zeigen sich. Xing nimmt sein Smartphone, tippt auf eine Bezahl-App - gekauft für ein paar Hundert Dollar. Das ist relativ günstig, weil dieses Stück zu trüb und unrein war, um attraktiven Schmuck herzustellen.

Im Jahr 2014 begann Xing ein Netzwerk von Käufern aufzubauen, denen er beibrachte, wie man die Klauen eines Flügels aus der Kreidezeit erkennt oder unterscheidet, ob ein Fuß von einer Eidechse oder einem Dinosaurier stammt. Sobald er einen Tipp bekommt, fragt er Spezialisten, ob die wissenschaftliche Bedeutung hohe Preise rechtfertigt. Sobald etwa im Bernstein ein Vogel identifiziert wird, kann der Fund Hunderttausende Dollar kosten.

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Amber Mining

Die Bergleute treiben die engen Schächte bis zu hundert Meter in die Tiefe, bis sie auf die Bernstein-Schichten stoßen, meist ohne die Unterstützung von Maschinen. Kommt es zu Unfällen, müssen sich die ärmlichen Arbeiter selber um ihre medizinische Versorgung kümmern. Beide Konfliktparteien in dem Krisengebiet verlangen Bestechungsgelder für Schürfrechte und Ausrüstung, außerdem müssen die Schürfer zehn Prozent ihrer Gewinne als Steuer abtreten.

(Foto: Hkun Lat/Redux/laif)

Xing investierte anfangs sogar sein eigenes Geld in den Kauf der Fossilien. Dann überredete er seine Eltern, beide Ärzte, ihr Haus zu verkaufen, um an Bargeld zu kommen. Nachdem auch dieses 2016 ausgegeben war, gründete er zusammen mit Freunden die gemeinnützige Organisation Dexu Institute of Palaeontology (DIP) in der südchinesischen Provinz Guangdong. Sie sollte eine permanente Sammlung aufbauen, die Proben für andere Wissenschaftler zur Verfügung stellt.

Xing selber hat seitdem in seinen Aufsätzen so viele Wirbeltiere vorgestellt, dass sie ein ganzes kreidezeitliches Terrarium füllen könnte. Aufsehen erregte das Fossil einer Babyschlange, die vordere Hälfte eines zwei Zentimeter langen Frosches und ein gefiederter Dinosaurierschwanz, der sogar noch den Blutfarbstoff Hämoglobin zu enthalten scheint. Sein größter Erfolg allerdings war die Entdeckung winziger, urzeitlicher Vögel, die ersten, die im Bernstein gefunden wurden. "Der Preis war ungefähr so hoch wie bei einem neuen BMW, aber wir haben ihn trotzdem bekommen", sagt er. Es waren nur die ersten einer Reihe von Funden. Die Vögel stammen aus einer bereits bekannten primitiven Gruppe namens Enantiornithes, die mit den anderen Dinosauriern ausgestorben war. Doch im Bernstein fanden sich noch nie gesehene Merkmale ihrer Haut und Federn. Sie erlauben neue Einblicke in die Entwicklungsgeschichte der Vögel.

So glaubten Paläontologen bis vor Kurzem, dass die Federn fossiler Vögel denen moderner Vögel ähnlich wären, beide hätten einen zentralen Schaft, der wie ein hohles Rohr gebaut ist. Im Dezember 2018 veröffentlichte Xing jedoch die Beschreibung von Federn aus 31 myanmarischen Bernsteinstücken, die einen ganz anderen, einen offenen und superdünnen Zentralschaft zeigten. Angesichts der Tatsache, dass auch diese Federn in den üblichen Stein-Fossilien gerade erscheinen, müssen sie auf irgendeine Weise in einen starren Zustand geraten sein.

Pigmentspuren zeigen, in welchen Farben Kreaturen in der mittleren Kreidezeit schimmerten

"Anhand dieser 3-D-Bernsteinproben sehen wir, dass alles, was wir von abgeflachten Fossilien abgeleitet haben, falsch ist", sagt Jingmai O'Connor, die Xings Vogelfossilien am Institut für Wirbeltierpaläontologie und Paläoanthropologie in Peking untersucht. Im Februar veröffentlichte das Team eine weitere bernsteinfarbene Entdeckung: einen mit Federn bedeckten Vogelfuß - ein vermuteter, aber zuvor nicht nachgewiesener Evolutionsschritt bei modernen Vögel, der später zu schuppigen, federlosen Füßen führte.

Der Traum aus dem Film Jurassic Park, DNA aus Bernstein herauszufischen, ist noch nicht in Erfüllung gegangen, trotz vieler Versuche auch bei sehr jungem Bernstein, sagt Victoria McCoy. Bernsteinforscher haben jedoch andere chemische Spuren in den Fossilien gefunden: Pigmente, die zeigen, in welchen Farben Kreaturen unter der Sonne der mittleren Kreidezeit schimmerten, Chitin aus Arthropoden-Exoskeletten sowie Lignin und Zellulose aus Pflanzen. Im April dieses Jahres berichtete McCoys Gruppe über Aminosäuren aus einer Feder in myanmarischem Bernstein, die vor der Analyse vermutlich noch in Proteinfragmenten gebunden waren. Als Nächstes will man uralte Proteine sequenzieren, die Forschern eine andere Möglichkeit bieten könnten, evolutionäre Beziehungen zu verfolgen.

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Die einst üppigen Wälder um Tanai im Kachin-Staat im Norden Myanmars werden gerodet, um Platz für Bernstein-Minen zu schaffen.

(Foto: Hkun Lat/Redux/laif)

Aber McCoys Experiment bestand darin, Federn im Bernstein mit einem Hammer zu pulverisieren. Wissenschaftler - und Sammler - würden andere Methoden bevorzugen, um eingeschlossene Biomoleküle zu untersuchen. Manche Forscher experimentieren mit intensiven Röntgenstrahlen, unter denen die einzelnen chemischen Elemente bei unterschiedlichen Wellenlängen fluoreszieren. Vermutlich wird man in einem Jahrzehnt noch viel mehr Informationen aus dem Bernstein holen.

2100 Kilometer entfernt, im historischen Zentrum von Nanjing, gießt Wang Bo vom Nigpas-Institut Tee ein. Dann präsentiert er etikettierte Beutel mit Insekten in Bernstein. Wang, ein Paläo-Entomologe, hat 30 000 Pflanzen und Insekten zusammengetragen, von denen viele mit Geldern seiner Einrichtung gekauft wurden. Er hat noch längst nicht alle untersucht. "Wir vermuten, dass wir letztlich 4000 oder 5000 Arten unterscheiden werden", sagt er.

In seinem Labor werden High-Tech-Bildgebungssysteme eingesetzt, um Proben zerstörungsfrei zu untersuchen. In einem Raum lässt ein Laserkonfokalmikroskop empfindliche Strukturen fluoreszieren, etwa das facettenreiche Augen einer Fliege. In einem anderen Raum erstellt ein Computertomograf 3-D-Modelle der inneren Struktur von Fossilien.

Mit diesen Techniken hat Wang zahlreiche neue evolutionäre Prozesse entdeckt, etwa bei den Florfliegen, eine Insektengruppe, die heute Ameisen und Blattläuse jagt. In einer großen Bernsteinkugel zeigt der verlängerte Flügel einer schmetterlingsartigen Florfliege einen Täuschungspunkt, der möglicherweise dazu beigetragen hat, Raubtiere in die Irre zu führen. In einem anderen Fall sieht eine Florfliegenlarve wie ein Leberblümchen aus. Wieder andere Florfliegen haben Waldbodenreste auf den Rücken geklebt, eine Tarnstrategie, die auch moderne Insekten noch anwenden

Einige Gruppen haben keine direkten Nachkommen, etwa die Haidomyrmecini, die auch Höllenameisen genannt werden. Sie entwickelten sich am Fuß des Ameisenstammbaums und trugen scharfe, sichelförmige Stoßzähne, die möglicherweise nach oben geknallt sind, um andere Insekten aufzuspießen. Einige der Ameisen hatten ein langes Horn, das wahrscheinlich dazu diente, die Beute festzunageln. Sie waren die Tyrannosaurier der Ameisenwelt. Bizarr waren auch frühe Phasen der Spinnenevolution. Da gab es etwa Arten mit spinnenartigen Körpern, die von langen, skorpionartigen Schwänzen gezogen wurden, aber auch schon über Seidenspinnorgane verfügten.

Auf den ersten Blick ohne Glanz, aber von größter Bedeutung waren kleine, mit Pollen bedeckte Käfer. Sie zeugen von einem dramatischen Wandel in der Geschichte des Lebens, dem Auftauchen der Blütenpflanzen, deren Pollen hauptsächlich von Insekten verbreitet werden. Andere bernsteinfarbene Exemplare aus demselben uralten Wald weisen Pollen einer älteren Baumgruppe auf, die Gymnospermen - Nadelbäume und Ginkgos -, die heute größtenteils vom Wind bestäubt werden. Aber einige der Pollen auf den Käfern sehen zu groß aus, um vom Wind verweht zu werden. Der Bernstein scheint den Moment eingefangen zu haben, in dem viele Insektengruppen ihre Fütterung von Gymnospermen auf Blütenpflanzen umstellten und die jahrmillionenlange Koevolution auslösten, die heute zu der außergewöhnlichen Vielfalt der Blumen und ihrer Bestäuber führte.

Mit dem Studium dieser Prozesse wollen Forscher verstehen, warum Insekten gedeihen oder scheitern, eine wichtige Frage in einer Zeit, in der Klimawandel ein Massensterben von Insekten auslösen könnte, sagt der Paläo-Entomologe Michael Engel von der Universität von Kansas in Lawrence. "Myanmarischer Bernstein passt perfekt zu diesem großen, tragischen Experiment, das derzeit auf der Welt stattfindet", sagt Engel.

Nachdem Xing Lida in Tengchong die Stände im Freien durchgesehen hat, geht er von Geschäft zu Geschäft, setzt sich an einen eleganten Teetisch nach dem anderen, um mit den Besitzern zu plaudern. Unter den Glastheken der Juweliergeschäfte werden Farne, Blumen, Skorpione, furchterregende Spinnen und ein winziger Tannenzapfen ausgestellt. Ein Geschäft bietet sogar ein Vogelbaby an, dessen zarter Flügel - mit der verräterischen Klaue - deutlich zu erkennen ist. Aber der Händler verlangt 145 000 Dollar. Ein bisschen viel.

Myanmars Erbe wird über die ganze Welt verteilt

Fotos von Hkun Lat. HONORARPFLICHTIGE BILDER!!! Honorar muss noch verhandelt werden. Reserviert für Wissen.

Amber Mining

Ein potenzieller Käufer auf einem lokalen Markt prüft mit einer Taschenlampe die Qualität des Rohbernsteins. Der fossile Harz wird vor allem in der Stadt Myitkyina in Myanmar gehandelt oder über die Grenze nach Tengchong in China geschmuggelt. Ausländer dürfen Kachin wegen der Konflikte zwischen Regierungsarmee und Separatisten nicht besuchen.

(Foto: Hkun Lat/Redux/laif)

Am Ende des Tages trägt ein Student Xings einen gepolsterten Rucksack, gefüllt mit wirbellosen Tiere in Plastikhüllen sowie den beiden Echsen. Als Nächstes fliegt Xing in die nahe Großstadt Kunming, um sich mit Xiao Jia zu treffen, einem wohlhabenden Privatsammler und Online-Händler, der ihm die erste Bernsteinschlange zur Untersuchung geliehen hatte.

Nachdem Xiaos Fahrer Xing vom Flughafen abgeholt hat, summt sein Telefon: Ein Händler in Myitkyina möchte das Fragment eines Bienenstocks in Bernstein verkaufen. Xing bespricht sich mit Xiao. Wenn keiner der beiden zugreift, könnte ein konkurrierender Sammler zugreifen, etwa Xia Fangyuan aus Shanghai - Sammler, Händler und begeisterter Koautor von etwa einem Dutzend hochkarätiger wissenschaftlicher Paper. Xia sagt, er gebe jährlich rund 750 000 US-Dollar für myanmarischen Bernstein aus. Wissenschaftler haben nach ihm Kakerlaken-, Angler-, Parasiten- und Köcherfliegenarten benannt. Zu seiner Sammlung, die in einem Banktresor aufbewahrt wird, gehören ein Vogel, Eidechsen und ein Frosch. Sein Lieblingsexemplar ist ein perfekt erhaltenes Insekt: eine Gottesanbeterin, die er für 22 000 US-Dollar gekauft hat und die so aussieht, als könnte ihr jeden Moment der Kopf abbrechen.

Zu Xias Sammlung gehört auch eine kuriose Muschel, die von einem Händler als Schnecke verkauft wurde. In einem CT-Scan entdeckte Wang die für einen Ammoniten charakteristischen inneren Kammern - es handelte sich um einen ausgestorbenen marinen Kopffüßer, der einem Nautilus ähnelte. Die bemerkenswerte Muschel muss in einem Strandwald im Harz gelandet sein, vielleicht nachdem ein Sturm sie an Land gespült hatte.

Solche Arrangements zwischen Privatsammlern und Wissenschaftlern sind nicht ungewöhnlich. Chinesische Sammler zögern, den Museen Ausstellungsstücke einfach zu überlassen, weil sie für solche Spenden keine Steuererleichterungen erwarten können. Einige westliche Paläontologen tun sich jedoch schwer damit, über Fossilien zu publizieren, die sich in privater Hand befinden. So ist nicht gewährleistet, dass andere Forscher eine Hypothese zu einem Objekt jederzeit überprüfen könnten.

Dabei ist PNAS nicht die einzige Zeitschrift, die zu Exemplaren aus Chinas privaten Bernsteinsammlungen veröffentlicht hat. Science Advances etwa hat über die Bernsteinschlange veröffentlicht, die jetzt in einer Ausstellung in Xiaos Spielzeuggeschäft in Kunming zu sehen ist. Allerdings fühlen sich sowohl Xiao als auch Xia schon wegen der Bedeutung ihrer Objekte der Öffentlichkeit verpflichtet. Sie planen, ihre Sammlungen in private Museen umzuwandeln und wollen auch Anfragen ausländischer Forscher akzeptieren.

Einige Forscher bleiben skeptisch. Paläo-Entomologe Michael Engel von der Universität von Kansas erinnert sich, wie er einmal einen publizierten Fund aus einer Fundstätte in Jordanien untersuchen wollte. Das vermeintliche, von einem Sammler betriebene Museum entpuppte sich als privater Keller. "Er sagte, ja sicher, Sie können den Fund untersuchen - kostet 10 000 US-Dollar."

Doch die Faszination der Bernsteinfossilien könnte noch wachsen, allein schon wegen ihrer Knappheit. Das Angebot ist seit einem Peak um 2015 deutlich gesunken. So schnell sich das Fenster zur Kreidezeit auch geöffnet hat. So schnell könnte es auch wieder zugeschlagen werden.

Im Juni 2017 schwirrten Hubschrauber der Armee Myanmars über Tanai. Sie warfen Flugblätter ab, in denen sie die Bergleute und Bewohner der Stadt zur Flucht aufforderten. Es folgten Luftangriffe und Straßensperren. Seitdem hat die Armee die Aufständischen aus den Bernsteinabbaugebieten von Kachin vertrieben. Ein Ermittler der UN sprach in einem Bericht aus dem Jahr 2018 von vier toten Zivilisten und bis zu 5000 Eingeschlossenen. Ein anderer UN-Report forderte, dass gegen vier Top-Generäle wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermittelt werden müsse.

Zwei ehemalige Minenbesitzer sagen in einem Telefongespräch, dass die Steuern noch gestiegen seien, seitdem die Regierungstruppen Kontrolle über das Gebiet übernommen hätten. Beide schlossen ihre Minen, als sie nach der Regierungsübernahme unrentabel wurden, und fast alle Tiefbauminen seien jetzt außer Betrieb. Nur noch Minen nahe der Oberfläche und vielleicht ein paar verborgene Unternehmen liefen noch.

Von außen ist nur schwer nachzuvollziehen, wie die Einnahmen aus Bernstein die Armee und Milizen von Myanmar finanziert haben. "Als Verbraucher", sagt Paul Donowitz von der NGO Global Witness, "sind Sie Teil dieses Konflikts, weil Sie zur Wertsteigerung dieser Waren beitragen."

Das ist nicht das einzige ethische Problem beim Bernstein. Viele fossilreiche Nationen, darunter China, Kanada, die Mongolei und Myanmar, haben Gesetze erlassen, um einzigartige Fossilien innerhalb ihrer Grenzen zu halten. Nach den Regeln in Myanmar drohen bei Verstößen eigentlich fünf bis zehn Jahre Gefängnis, Tausende Dollar Geldstrafe oder beides. Dennoch verlassen Bernsteinfossilien als vermeintliche Edelsteine das Land, und so "wird Myanmars kulturelles Erbe, das paläontologische Erbe, einfach großflächig aus dem Boden gerissen und über die ganze Welt verteilt", sagt Engel.

Xing betont, er sei nur an wissenschaftlichen Details interessiert, nicht an Besitz. Er sei sensibel für das Thema, weil auch viele chinesische historische Objekte heute in ausländischen Museen untergebracht sind. "Wenn Myanmar eines Tages Frieden findet und sie ein Museum für Bernstein oder ein Museum für Naturgeschichte bauen wollen, würden wir (Xings eigenes Institut, d. Red.) gerne alle Exemplare nach Myanmar zurückbringen", sagt er.

Einige Paläontologen hoffen auch auf eine Bernsteinsammlung in der Nähe der Minen oder zumindest innerhalb der Landesgrenzen. "Wenn Myanmar ein Museum zu Bernstein bauen wollte", sagt David Grimaldi vom American Museum of Natural History, "wäre es ein Riesenspaß, mein Fachwissen einzubringen."

In den vergangenen Monaten wurde in Yangon, Myanmars größter Stadt, ein privates Bernsteinmuseum eröffnet. Neben der Ausstellung bietet die englische Website auch Bernstein zum Verkauf, maßgeschneiderten Schmuck sowie begleitete Einkaufstouren zu Bernsteinmärkten.

Für die Bewohner von Tanai sind die Diskussionen um den Bernstein angesichts der alltäglichen Gefahren verblasst. "Im Moment gibt es keine Stabilität und keine Rechtsstaatlichkeit", sagt ein arbeitsloser Bergmann in einem Telefonat. Aber er habe noch eine Frage. Die Bergleute, die den Bernstein ausgraben, wüssten nicht, warum sich Wissenschaftler für die Insekten und andere Kreaturen interessieren, die darin eingeschlossen sind. "Wenn Sie es wissen, teilen Sie es uns bitte mit."

Mitarbeit: Wudan Yan.

Dieser Beitrag ist im Original im Wissenschaftsmagazin Science erschienen, herausgegeben von der AAAS. Deutsche Bearbeitung: cwb. Weitere Informationen: www.aaas.org.

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