Süddeutsche Zeitung

Paläoanthropologie:So sahen wir aus

Die Brüder Adrie und Alfons Kennis sind weltberühmt für ihre realistischen Rekonstruktionen von Vor- und Frühmenschen in Lebensgröße. Ein Werkstattbesuch.

Von Hubert Filser

Überall liegen Schädel. Es beginnt direkt neben dem Fenster zur Straße mit den kleinen Otterschädeln und endet auf der anderen Seiten des lang gezogenen Raums am Fenster zum leicht verwilderten Garten mit Dutzenden menschlichen Schädeln. Nach Gattungen und Arten sortiert liegen sie, Gesicht nach vorn, in weißen Regalen, die gesamte Breite des Hauses entlang. Wie es wohl einem Einbrecher ginge, würde er nachts in diesen Raum leuchten? Ob er realisieren würde, dass ihn hier die Evolution anglotzt, praktisch die gesamte Ahnenreihe der Menschheit, vom primitiven Vormenschen über den Homo erectus und den Neandertaler bis zum modernen Menschen unserer Zeit? "Das ist unser Ersatzteillager", sagt Adrie Kennis und deutet auf die Schädelwand. "Unsere Werkstätte", ergänzt sein zehn Minuten jüngerer Zwillingsbruder Alfons. Er öffnet die Schubladen, und es kommen weitere Köpfe zum Vorschein, und Hunderte Knochen.

Die Kennis-Brüder aus dem niederländischen Arnheim haben einen ziemlich besonderen Beruf: Sie rekonstruieren unsere Vorfahren für Museen in ganz Europa, geben sieben Millionen Jahren Menschheitsgeschichte ein Gesicht. Mit ihren ausdrucksstarken und oft nackten Figuren rufen sie bisweilen starke Reaktionen hervor. Doch ihr kantiger, emotionaler Stil hat sie auch zu Stars der Branche gemacht. Sie sind die derzeit wohl berühmtesten Paläo-Künstler weltweit. Nur Elisabeth Daynès aus Paris, die unsere berühmte Urahnin Lucy rekonstruiert hat, ist ähnlich bekannt. Deren Stil finden die Brüder aber viel zu "romantisch und weich". Kennis & Kennis, wie sie international heißen, können sich solche Urteile leisten. Sie haben Ikonen geschaffen: den Eismann "Ötzi" fürs Bozner Archäologiemuseum, den "ersten" Neandertaler mit seinem Wurfspeer für das Neanderthal Museum in Mettmann oder jüngst den viel diskutierten, weil dunkelhäutigen und blauäugigen ersten Briten für das Naturkundemuseum in London.

Ihre linke Hand legt sie keck ans Kinn und guckt einen dabei freundlich an

In leicht verschlissenen Arbeitsklamotten legen sie an diesem Tag an ihrem neuesten Werk Hand an, einer Homo-erectus-Frau aus Java. In der Mitte des Raums werkeln Adrie und Alfons gemeinsam an der Frühmenschen-Dame mit den leicht hängenden, verschieden großen Brüsten. Ihre linke Hand legt sie keck ans Kinn und guckt einen dabei freundlich an. Es ist ein Auftrag des Museums Naturalis in Leiden. Die eineiigen Zwillingsbrüder unterscheiden sich kaum. Beide wirken sportlich-dynamisch, haben kantige Gesichter, lockiges Haar, Adrie trägt eine Brille, die er sich immer wieder in die Locken schiebt, Alfons an diesem Tag zumindest nicht. Mit einer grünen Weinflasche walken sie eine helle Knetmasse in dünne Scheiben, schneiden Streifen heraus und drücken sie vorsichtig an den Körper der Frau. Alfons kümmert sich gerade um die Fußfesseln, Adrie formt derweil den Hintern. Stückweise entsteht so die sanfte Rundung. Kleine rechteckige Flecken passt er sanft ein, tupft dann die Oberfläche mit einem Silikontuch nach. Es ist eine Spezialität der Brüder, dass sie Hautoberflächen lebensecht imitieren können. "Wir haben bei uns und Freunden Hautabdrücke aller Körperteile genommen, die wir dann bei den Rekonstruktionen verwenden", erklärt Adrie. Hinter ihm auf dem Tisch liegen kreuz und quer durcheinander blaulilafarbene Silikonabdrücke, von Knien, Fingern, Zehen, der Haut am Bauch, im Gesicht, im Nacken. Alle Muster und Furchen unterscheiden sich ein bisschen und machen so die Figuren lebendiger.

Für ihre Rekonstruktionen haben die beiden Niederländer zweimal hintereinander den internationalen Paläo-Künstler-Preis bekommen. "Danach hatten wir keine Lust mehr, uns zu bewerben", sagt Alfons Kennis und lacht. Die Preisplaketten haben sie zwischen zahlreiche Köpfe in allen möglichen Hauttönen gestellt. Diese sind weniger geordnet als die Schädel gegenüber. Zwischen ihnen steht versteckt eine kleine Büste von Charles Darwin.

"Zu Hause haben wir die Schädel dann in Töpfen ausgekocht, um das Fleisch zu lösen."

Um die beiden Spezialisten herum finden sich in Regalen und auf Tischen Kartons, Kisten, Werkzeuge, Schnüre, Drähte und Kabel, auf dem Boden stehen Kanister und kleine Eimer mit einer Art Tonknete, wie sie Kinder verwenden. Das ist das Material, aus dem sie die Urmenschen bauen, Tag für Tag, monatelang, von zehn Uhr morgens bis sechs Uhr abends.

Gefragt, wie die beiden Autodidakten eigentlich zu ihrem sehr speziellen Handwerk gekommen sind, sprechen beide sofort wild durcheinander. "Wir waren in der Schule schlecht in Mathematik, konnten auch nicht super lesen, nur zeichnen konnten wir toll, vor allem Köpfe von Tieren", erzählt Alfons. Und so begannen sie, Schädel zu sammeln. Roadkill, tote Tiere am Straßenrand. "Wir hatten immer eine Fuchsschwanzsäge in der Schultasche dabei", ergänzt Adrie. "Zu Hause haben wir die Schädel dann in Töpfen ausgekocht, um das Fleisch zu lösen." Und dann zeichneten sie.

Es habe damals kaum Bücher über die Evolution des Menschen gegeben. Nur eines fanden sie gut, vom tschechischen Künstler Zdeněk Burian. Er zeichnete vor allem wilde Neandertaler, behaarte Männer, die mit ihren Zähnen Fleisch von großen Knochen herunterzogen. "Uns gefielen die Charaktere und dieser raue Stil, wir fuhren mit unseren Eltern in Gegenden, in denen einst Neandertaler lebten, nach Deutschland oder Italien", ergänzt Alfons. Dinosaurier hätten sie nie so interessiert. "Reptilien sind eher wie Aliens, zu weit weg." Die Kennis-Brüder begeisterten sich eher für eine primitive Welt, in der es für ihre Figuren ums Überleben geht.

"Unseren Durchbruch hatten wir mit einer Titelgeschichte beim Magazin National Geographic über ausgestorbene Säugetiere", erzählt Adrie. "Wir haben für unsere Bilder erstmals selbst Schädel modelliert." Das war 2003. Auf einem Drehstuhl am großen Arbeits- und Esstisch liegt noch heute ein mächtiger Säbelzahntigerkopf von damals.

Anfangs seien sie Einzelkämpfer gewesen, erzählen die Brüder, mittlerweile arbeiten sie viel mit Paläoanthropologen zusammen. Von ihnen erhalten sie Kopien von Knochen oder 3-D-Daten. Der spanische Anthropologe Jean Luis Arsuaga stellte ihnen für die Neandertaler in London Abgüsse von Skelettteilen aus dem nordspanischen Atapuerca zur Verfügung, nicht eben selbstverständlich in einer Zunft, in der Forscher bisweilen jahrzehntelang auf einem neuen Fund sitzen. Die Kennis-Brüder erkunden deshalb genau, wie "die Typen" so drauf sind, von denen man erzählt. "Ardi", Gattung Australopithecus ramidus, würden sie gern mal bauen, auch Homo naledi, den der Paläoanthropologe Lee Berger vor wenigen Jahren in Südafrika fand.

Jetzt ist erst mal die Homo-erectus-Dame dran. Auch sie ist eine Berühmtheit, stammt ihr Schädeldach doch von einem historisch besonderen Exemplar. Der niederländische Anthropologe Eugène Dubois hatte das Original mit den markanten Wülsten über den Augen im Jahr 1891 zusammen mit einem Zahn und einem Oberschenkelknochen im Osten der indonesischen Insel Java gefunden, an einer steil ansteigenden Kalksteinwand in der Nähe des Flusses Solo. Es war das erste Fossil eines Vor- und Frühmenschen, das außerhalb Europas gefunden wurde. Dubois hielt es zunächst für den Missing Link zwischen Menschen und Schimpansen. Er war der erste Forscher, der gezielt nach Vorfahren von Menschen suchte. Solche Pioniere lieben die Kennis-Brüder. Charles Darwin, Alexander Humboldt, Eugène Dubois sind ihre Helden. "Wir lesen all ihre Geschichten und Biografien, das waren streitbare Typen", sagt Adrie. Brüder im Geiste.

Der 52-Jährige klickt Sequenz für Sequenz an, auf denen der Affe langsam zerlegt wird

Seit Monaten arbeiten die Brüder schon an der Urzeitfrau. "Wir beginnen immer mit dem Schädel", erklärt Alfons Kennis. Oft fehlen Teile, Kiefer etwa, oder die Augenhöhlen sind gebrochen. Dann greifen die beiden Experten auf ihr "Ersatzteillager" zurück. Sie testen verschiedene Kiefer, Wangenknochen, studieren Details wie die Form der Nasenöffnung, probieren aus ihrem Lager Knochenfragmente anderer Individuen der gleichen Art aus und formen so den Schädel.

Am Boden des Ateliers liegt ein geöffnetes anatomisches Lehrbuch. "Wir studieren die Anatomie auch anhand von Körpern toter Tiere. Wollen Sie mal sehen?" Adrie Kennis startet eine Videodatei auf dem Laptop. "Wir haben kürzlich mit einem befreundeten Präparator, der Tiere für Zoos seziert, einen Schimpansen untersucht." Der 52-Jährige klickt Sequenz für Sequenz an, auf denen der Affe langsam zerlegt wird. Die Brüder tragen weiße Kittel, der Pathologe ist zusätzlich durch eine Brille vor Blutspritzern geschützt. Als der Reporter nicht mehr hinschauen kann, lacht Adrie. "Nur so können wir dazulernen", sagt er. "Homo erectus liegt evolutionär zwischen Affen und modernen Menschen. Solche Details stehen in fast keinem Lehrbuch." Also machen die beiden Brüder das, was sie am liebsten tun: ihre eigenen Studien.

Noch komplizierter war es, den Rest des Skeletts zusammenzusuchen. Es gab ja nur den Oberschenkelknochen. Also recherchierten die Brüder, Wirbelsäule und Becken rekonstruierten sie zusammen mit dem forensischen Anthropologen Martin Häusler von der ETH Zürich. Der erzählt begeistert vom ersten Besuch der Brüder, von den "stimulierenden Diskussionen". Häusler hatte zuvor das Becken des "Turkana Boy" am Computer rekonstruiert, eines ziemlich vollständig erhaltenen Homo-erectus-Skeletts, dessen Schädel dem der Java-Dame ähnlich ist. Es lag nahe, das Skelett für die Rekonstruktion zu nutzen. Für die Kennis-Brüder entwickelte Häusler aus der männlichen Variante des Beckens eine weibliche.

Die Beckenschaufeln sind bei Frauen im Mittel leicht steiler, das Becken ist für den Geburtskanal etwas weiter geöffnet. "Das Becken haben wir ausgedruckt, es ist jetzt in der Rekonstruktion eingebaut", sagt Alfons. Die Form hat großen Einfluss auf die Fortbewegung, das Aussehen von Brustkorb und Bauch. "Die 3-D-Rekonstruktionen der Kennis-Brüder sind wichtig für die Wissenschaft", sagt Häusler. "Durch sie werden etwa die Auswirkungen einer anderen Beckenform auf die Körperform erst richtig fassbar."

Als die Kennis-Brüder alle Teile zusammenhatten, puzzelten sie das Skelett der Frau zusammen. Sie werkelten mit Zangen, Flex und Bohrern, fädelten Wirbelkörper zum Rückgrat auf, verbanden Rippen mit Drähten, fügten Knochen für Knochen an und steckten schließlich den Kopf auf. In dieser frühen Phase wirken die Rekonstruktionen wie Marionetten. Die Beine baumeln nach unten, Arme und Schädel hängen an Fäden an der Decke. Die Brüder diskutieren beim Aufbau ständig über Details wie die Wölbung des Brustkorbs. Oft verändern Kleinigkeiten das Gesamtbild. Am Ende befestigen sie das Skelett an einem Stahlgerüst.

Dann bauen sie ihr Modell langsam von innen nach außen auf. Sie wissen, wo welches Gewebe vorkommt, wie Sehnen und Muskelstränge laufen, wie dick sie sind, wo sie an den Knochen ansetzen. Das alles formen sie mit Wachs nach, jeden Strang einzeln. Adern aus Schnüren folgen noch, ehe als zunächst letzter Schritt die Haut aus Tonknete in Schichten aufgetragen wird. So schließt sich der Körper.

Nun steht da im Atelier dieser Urmensch, fast fertig und schon lebensecht - aber leider nicht robust genug, um in einem Museum zu stehen. Von dieser Figur werden die Brüder einen Ganzkörperabdruck machen müssen, sie mit Polyurethanharz übergießen und dann zwei Tage austrocknen lassen. Außen wird der Urmensch dann wie eine riesige, beigefarbene Knolle aussehen. Er wird tagelang nach giftigen Chemikalien stinken, weshalb sie diese Arbeit inzwischen ausgelagert haben. Im Inneren der Knolle wartet der Tonmensch darauf, wiedergeboren zu werden. Bei der Homo-erectus-Dame ist es bald so weit. "Das ist für uns der kritischste Moment", sagt Adrie. Geht etwas beim Öffnen der Form schief, ist alles verloren. Der Tonkörper mit dem Skelett ist nach dem Guss nämlich zerstört.

Vor dem Penis des berühmten Neandertalers von Mettmannhängt jetzt ein Lendenschurz

"Das entstehende Negativ gießen wir mit Silikon aus", sagt Alfons. Von innen tupfen sie dann die Haut in sechs Schichten auf. "Wir haben eine spezielle Technik", erzählt er. "Wir tragen nacheinander fünf oder sechs dünne Farbschichten übereinander auf, die können wir farblich so fein aufeinander abstimmen, dass im Gesicht zartrosa Bäckchen durchschimmern." Am Ende werden die Augen eingesetzt und die Körperhaare einzeln mit Nadeln in die Silikonmasse eingestochen.

Immer wieder werden sie gefragt, wie sehr sie der Wissenschaft verpflichtet und ob sie nicht doch eher Künstler seien. Für die Brüder ist das kein Widerspruch. "Wir nutzen alles verfügbare Wissen", sagt Alfons Kennis. "Der Rest ist unsere Freiheit." Zuletzt vertrauen sie ihren eigenen Experimenten, ihrer handwerklichen Genauigkeit und ihrem Gefühl für Authentizität. Damit unterscheidet sich die Arbeit der Zwillinge von dem aktuellen Trend, Gesichter nüchtern aus dem Genmaterial zu rekonstruieren. Das forensische DNA Phenotyping basiert meist auf modernen europäischen Populationen, die Ergebnisse lassen sich nur bedingt auf Urzeitmenschen übertragen. Die Kennis-Brüder nutzen zwar auch genetische Daten zur Farbe von Augen, Haaren oder der Haut, rekonstruieren daraus aber keine standardisierten "phänotypischen" Gesichter.

Die Gesichter aus der Kennis-Werkstatt sollen Emotionen zeigen. Alles, was zu glatt ist, schwäche die Aufmerksamkeit des Betrachters. "Wir brauchen Spannung im Gesicht", sagt Adrie Kennis. "Es muss Brüche im Ausdruck geben, eine Figur soll authentisch sein." Die Urmenschen-Frau bekommt also eine aggressive Nase, dafür freundlichere Augen und einen angedeutet lächelnden Mund. Plumpe Posen scheiden aus. Die Brüder lassen ihre Figuren auch mal als Denker in der Landschaft stehen, mit Grashalm im Mund, als würden sie über den Sinn der Welt sinnieren und nicht gleich mit der Keule losdreschen.

Die Kennis-Brüder misstrauen modischen Ansichten zu Vor- und Frühmenschen. Früher sollten diese grimmige Wilde sein, heute wünscht man sich meist hübsche Figuren. "Wir wollten einen freundlichen Gesamteindruck", sagt Bärbel Auffermann, stellvertretende Direktorin am Neanderthal-Museum in Mettmann. "Die Kennis-Brüder sind wissenschaftlich sehr anspruchsvoll. Aber sie sind auch Künstler und lassen sich nicht reinreden."

Das wird deutlich, wenn die Brüder über die Nacktheit der Frühmenschen reden, über Hängebrüste oder Penisse. "Symmetrische Brüste sind langweilig", sagt Alfons. Die Zwillinge zeigen Bilder indigener Völker etwa aus Papua-Neuginea, die sie zu Hunderten auf ihrem Rechner gespeichert haben. "Wunderschön, oder?" sagt Adrie. "Schauen Sie sich diese Gesichter an!" Sie würden das gern genau so unverblümt darstellen, mürrisches oder lachendes Gesicht, unverhüllter Penis, hängende Brust. Fertig. Nicht jeder Museumsdirektor ist da begeistert. Vor dem Penis des berühmten Neandertalers von Mettmann hängt jetzt ein Lendenschurz.

Der erste Brite hatte laut DNA-Analyse blaue Augen und eine dunkle Haut

Alfons und Adrie Kennis ärgern sich über solche Maßnahmen. "Warum sollen wir einem Neandertaler einen Bastrock umbinden?", fragt Adrie. Nach der Präsentation der Urmenschen im Londoner Naturkundemuseum habe ihnen der zuständige Abteilungsleiter eine Mail weitergeleitet. "Wie können Sie es wagen, meiner Tochter so einen nackten Menschen zu zeigen?", schrieb da eine Dame. "Wir haben daraufhin mal in London einen Tag lang Kinder beobachtet, wie sie vor dem Neandertaler posieren. Das hat nichts Verklemmtes, die schauen einfach nur neugierig."

Die Brüder lieben die Diskussionen, die sie mit ihren Figuren auslösen. So wie es beim Cheddar Man der Fall war, dem ersten Briten, wie ihn Forscher nennen. Er hatte laut DNA-Analysen blaue Augen und dunkle bis fast schwarze Haut. Also schufen die Kennis-Brüder eine entsprechende Rekonstruktion - sie löste ein extremes Echo in der Öffentlichkeit aus. Ein dunkelhäutiger Vorfahre mit blauen Augen! Museen haben den Wert der lebensechten Nachbildungen längst erkannt. Sie zahlen, so schätzen Experten, knapp 100 000 Euro für eine Figur.

Manche Forscher sehen die Rekonstruktionen etwas kritisch. Der Mumienforscher Albert Zink aus Bozen etwa hätte sich bei Ötzi eine "stärkere Berücksichtigung der Forschungsergebnisse" gewünscht. "Es gibt keinen Hinweis, dass er bereits graue Haare hatte, auch die Hände sind zu groß und fleischig", sagt er. "Wir denken nicht mehr, dass Ötzi ein älterer Herr mit Gesundheitsproblemen war." Die Brüder kennen die Kritik an ihren Entwürfen, weil sich gerade die Merkmale, die eine Persönlichkeit ausmachen, nicht aus den Knochen herauslesen lassen, Dinge wie Gesichtsausdruck, Form der Nase, der Ohren, Haaransatz, Körperbehaarung, Hautfalten oder Narben. "Manches ist natürlich Interpretation", sagt Alfons Kennis.

Es ist Abend geworden in der Werkstatt. Die Kennis-Brüder bedecken die Homo-erectus-Dame mit Folie, damit sie nicht austrocknet. Die Vorhänge zur Straße hin bleiben offen, jeder Passant kann die Schädel und die nackte Frau mit den Hängebrüsten sehen. Ob sie nicht manchmal Angst hätten, dass ihnen mal jemand etwas klaut? "Nej", sagt Adrie Kennis auf Niederländisch, und erzählt eine Geschichte über eine Mitarbeiterin, die ihnen bei der Rekonstruktion des Haarwuchses hilft. "In ihrer Gegend ist eingebrochen worden, überall haben die Diebe schnell Beute gemacht. Bei ihr fehlte nichts." Vielleicht leuchteten die Diebe ja mit der Taschenlampe in den Raum, und auf dem Tisch glotzten die Köpfe der Frühmenschen ins Licht. "Da wäre ich auch davongelaufen", sagt er.

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SZ vom 12.01.2019
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