Die aufregendsten Orte der Menschheitsgeschichte wirken nicht immer spektakulär. Steine, Staub, ein paar halbvertrocknete Grasbüschel - die Wüste zwischen Marrakesch und der marokkanischen Küste ist ein unwirtlicher Ort, heiß, trocken und leer. Kaum vorstellbar, dass dies einst eine Geburtstätte der erfolgreichsten Spezies auf dem Planeten Erde gewesen sein soll. Und doch: Wie zwei Forscherteams um Jean-Jaques Hublin vom Leipziger Max Planck Institut für evolutionäre Anthropologie im Wissenschaftsjournal Nature berichten, haben rund 100 Kilometer von der marokkanischen Wüstenstadt entfernt die bislang ältesten bekannten Vertreter des modernen Menschen, des Homo sapiens gelebt. Beweisstücke sind neue Funde aus der Höhlenformation Djebel Irhoud. Die Fossilien an sich sind dabei nicht die Sensation, man hatte in derselben Höhle schon in den 1960er Jahren beachtliche Funde gemacht. Die Überraschung ist vielmehr das neu bestimmte Alter der ausgegrabenen Knochen und Zähne: Sie sind mehr als 100 000 Jahre älter als alle bislang entdeckten Relikte des Homo sapiens.
Die Leipziger Paläoanthropologen bringen damit mächtig Bewegung in eine Entstehungsgeschichte, über die bisher nur wenig als sicher gilt: Während vor 2,6 Millionen bis vor 10 000 Jahren zahlreiche andere Menschenarten namens Homo habilis, Homo ergaster, Homo rhodesiensis und Homo heidelbergensis in Afrika entstanden, entwickelten sich aus einem der beiden letztgenannten die ersten primitiven Exemplare des heutigen Homo sapiens. Wo und wann aber war das genau? Und wie geradlinig verlief diese Evolution vom ersten, archaischen Homo sapiens zum heutigen Menschen?
Anfangs hatte man die Menschen von Djebel Irhoud für afrikanische Neandertaler gehalten
Die bislang ältesten Fossilien der heute lebenden Menschenart stammen aus Äthiopien, aus einem Teil des ostafrikanischen Grabens, einer geologischen Formation, die vielen Wissenschaftlern aufgrund der zahlreichen Funde als Kinderstube der Menschheit gilt. Die Fossilien vom Fluss Omo sind rund 195 000 Jahre alt. Überreste des "Herto-Mannes", der ebenfalls in Äthopien ausgegraben wurde, datieren auf 160 000 Jahre. Das nordafrikanische Djebel Irhoud gehörte da zunächst gar nicht ins Bild: Nachdem die Karsthöhle nahe Marrakesch 1960 entdeckt und im Jahr darauf dort ein anatomisch modern geformter Menschenschädel geborgen wurde, ergaben die seinerzeit verfügbaren Datierungsmethoden ein unspektakuläres Alter von lediglich 40 000 Jahren. Man ging zunächst von einem afrikanischen Neandertaler aus. Spätere Untersuchungen ergaben, dass die Fundstücke deutliche Züge moderner Menschen aufwiesen - und ein Alter von rund 160 000 Jahren hatten. Aber auch das schien nicht viel Sinn zu ergeben: "Warum sollten in einer Zeit, in der in Ostafrika bereits modernere Exemplare des Homo sapiens lebten, im heutigen Marokko noch sonderbare Artgenossen mit archaischen Merkmalen existiert haben?", fragt Jean-Jaques Hublin.
Der Franzose vermutete, dass die Fundstücke in Wahrheit noch älter waren - und dass die ersten Datierungen so weit daneben lagen, weil man das Alter der Fossilien direkt bestimmt hatte, ohne die Sedimente zu datieren. "Die meisten Wissenschaftler hatten keinen Zugang zur Fundstätte in Djebel Irhoud", sagt Hublin. Man habe nicht über jene Gesteine verfügt, in denen die Knochen oder Zähne entdeckt worden waren. Mit neuerlichen Grabungen konnten die Forscher dieses Problem nun lösen: Seit 2004 entdeckten sie Überreste von mindestens fünf weiteren Menschen: einen Schädel, einen fast vollständigen Unterkiefer, einen Oberkieferknochen und zahlreiche Zähne. Außerdem bargen sie diverse Werkzeuge aus Feuerstein - zu einem großen Teil waren diese Artefakte erhitzt worden, was einer zweiten Forschergruppe des Max-Planck-Instituts eine Datierung anhand der sogenannten Thermolumineszenz ermöglichte.
Wie die meisten Datierungsmethoden bestimmt auch diese Methode das Alter der Proben anhand natürlicher Radioaktivität, allerdings werden keine Zerfälle gemessen, sondern Elektronen, die durch radioaktive Strahlung im Material freigesetzt, gefangen und über die Jahrtausende angehäuft werden. Das Leipziger Team um Shannon McPherron und Daniel Richter konnte anhand von 14 Messungen belegen, dass die Menschen von Djebel Irhoud nicht vor 160 000 Jahren gelebt haben, sondern rund doppelt so alt sind - vermutlich mehr als 300 000 Jahre. Rekonstruktionen der jetzt entdeckten Schädel zeigen zudem, dass auch die neuen Funde deutliche Merkmale des Homo sapiens besitzen.
Die Fossilien und ihr überraschend hohes Alter zeugen nach Ansicht der Forscher von einer verzweigten, weitläufigen Entwicklungsgeschichte des Homo sapiens. Einer Geschichte, die durch räumliche Trennungen, Wanderungen und neue Zusammentreffen verschiedener Populationen geprägt war. In den Gemeinschaften entstanden unterschiedliche Eigenschaften: ein kleines Gesicht, das relativ weit zurückgezogen unter dem Schädel liegt, zum Beispiel, das auch den Menschen von Djebel Irhoud schon zu eigen war. Dazu kamen das größere Gehirn und die Fähigkeit, mehr Sauerstoff für Dauerläufe im Blut zu speichern. Laut Hublin sind diese Eigenschaften aber nicht nach und nach in einer Gruppe von Menschen entstanden. Sie haben sich in verschiedenen Gemeinschaften gebildet und wurden später, als die stetig wandernden Gruppen wieder und wieder aufeinander trafen, vereinigt.
Sehr wahrscheinlich ist der moderne Mensch noch älter als 300 000 Jahre
"Es ist eine lange, komplexe Geschichte", sagt Hublin. Er glaubt deshalb, dass Homo sapiens letztlich noch viel älter ist als die nun berechneten 300 000 Jahre. "Es ist schwierig, einen genauen Zeitpunkt zu nennen", sagt der Forscher. Er hält für möglich, dass die menschliche Spezies bereits seit 450 000 Jahren existiert. "Das stimmt sehr gut mit dem überein, was die Paläogenetik uns sagt", erklärt Hublin. Tatsächlich haben genetische Analysen moderner Menschen und paläoanthropologischer Funde ergeben, dass sich Homo sapiens schon vor 500 000 Jahren von seinem letzten Vorgänger getrennt haben könnte - um in der Folge eine verwickelte, nicht regional gebundene Entwicklung anzutreten. Das könnte die abweichenden Funde aus verschiedenen Teilen Afrikas miteinander verknüpfen. Zum Beispiel die Menschen von Djebel Irhoud mit dem Florisbad-Fund aus Südafrika, der vermutlich 260 000 Jahre alt ist, dessen Identität aber umstritten bleibt. Oder der Homo naledi, eine weitere Art Mensch, die vor 235 000 Jahren in Südafrika lebte, während in Marokko längst der Homo sapiens angekommen war. Für Hublin ist deshalb klar: "Es gibt keinen Garten Eden in Ost- oder Südafrika. Es gibt einen Garten Eden, der so groß ist wie der gesamte afrikanische Kontinent".
Um eine derartig verflochtene panafrikanische Stammesgeschichte lückenlos zu belegen, fehlt es allerdings an Fossilien. Viele Kinderstuben der Menschheit in Afrika sind unzugänglich für Ausgrabungen, weil auf einstiger Savanne heute dichter Urwald wuchert, oder weil die politische Lage keine Forschung ermöglicht. Die Hitze und die teils hohe Feuchtigkeit zerstören zudem das genetische Material, das in europäischen Fundstücken oft gut erhalten ist.
Es wird deshalb weiter Kontroversen um die Entstehungsgeschichte des modernen Menschen geben. In einem Begleitkommentar zu Hublins Entdeckungen äußern der britische Paläoanthropologe Chris Stringer und seine Kollegin Julia Galway-Witham vom Natural History Museum in London bereits dezent Widerworte zu Hublins Deutungen. Zwar ist Stringer selbst Verfechter einer komplexen, in ganz Afrika vollzogenen Evolution des Menschen. In weiten Teilen stimmt er Hublins Befunden zu. Allerdings zeigt er sich nicht überzeugt, dass es sich bei den Menschen von Djebel Irhoud um nahe Verwandte früher Homo sapiens-Vertreter handelt. "Es scheint zunehmend wahrscheinlich, dass die feinen Gesichtszüge der modernen Menschen von nicht-sapiens-Vorfahren in unserem Stammbaum rühren", schreiben Stringer und Galway-Witham. "Wir wissen nicht, wie isoliert die Menschen von Djebel Irhoud waren".
Vielleicht wird man wenigstens darüber noch etwas herausfinden. Die Grabungsstätte in Marokko ist noch immer unvollständig erschlossen. Hublin will dort weiter graben.