Pädagogik:Die Wörter zähmen

Ministerin hinterfragt ´Schreiben nach Hören" in Grundschule

Schreiben und Lesen zu lernen, fällt manchen Kindern sehr schwer und belastet sie dann oft stark.

(Foto: Guido Kirchner/dpa)

Psychologen entwickeln neue Therapieideen, die Kindern mit einer Lese-Rechtschreib-Störung helfen könnten. Für die Schüler wäre das ein riesiger Schritt.

Von Astrid Viciano

Manchmal schleichen sich Erkrankungen wie durch eine Hintertür ins Leben. Da wollen sich im ersten Schuljahr zunächst die Buchstaben nicht recht zu Worten vereinen, die diktierten Sätze finden sich nur rudimentär im Schulheft wieder. Das wächst sich aus, sagen die Lehrer und hoffen die Eltern. Vergeblich. Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) fallen mit den Jahren immer weiter in ihren Schulleistungen zurück. "So sehr sie sich anstrengen, üben und pauken, ohne gezielte Förderung nützt es ihnen wenig", sagt Gerd Schulte-Körne, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München.

Bald beherrscht die LRS das ganze Leben der Schüler, aus leichten Schwächen werden große Lernschwierigkeiten, aus kleinen Sorgen mächtige Ängste. Vor der nächsten Schularbeit, vor dem Zeugnis am Jahresende. Wie betroffene Kinder und ihre Familien den Weg zur Diagnose erleben, welche psychischen Belastungen entstehen und welche Förderung helfen kann, haben der Mediziner Schulte-Körne wie Psychologen, Lehrer und Therapeuten auf einer interdisziplinären Fachtagung am Samstag in München besprochen. Immerhin tun sich sieben Prozent aller Kinder in Deutschland schwer mit der Rechtschreibung, weitere sechs Prozent mit dem Lesen. Und jedes zwölfte Kind hat mit beiden Problemen gleichzeitig zu kämpfen, so ergab es eine Münchner Stichprobe.

Wie aber kommt es, dass die kleinen Patienten sich mit Lesen oder Rechtschreibung so schwertun? Darüber hat am Samstag Kristina Moll berichtet, Psychologin an der kinderpsychiatrischen Klinik der LMU. Wenn die Kinder Lesen lernen, fällt es ihnen zunächst schwer, die Buchstaben und dazugehörenden Laute zu lernen oder ein gehörtes Wort in seine Laute zu zerlegen. "Später haben viele betroffene Kinder Probleme, ganze Worte im Gedächtnis abzuspeichern, was für die Rechtschreibung besonders wichtig ist", sagt Moll. Oder sie können auf die abgespeicherten Begriffe nicht zugreifen.

Die Kinder erzielten mithilfe der gezielten Förderung deutliche Fortschritte

Das muss nicht so bleiben. So erklärt der Kinderpsychiater Schulte-Körne, wie effektiv ein frühes Training sein kann: Seine aktuelle Studie an einer kleinen Gruppe Grundschüler ist soeben im Fachblatt Learning and Instruction erschienen. Der Mediziner und sein Team boten 55 Erstklässlern, die in einem standardisierten Lesetest besonders schlecht abgeschnitten hatten, ein sechswöchiges Training in Kleingruppen an. Dreimal in der Woche übten 29 von ihnen je 20 Minuten lang, Laute den passenden Buchstaben zuzuordnen, analysierten Silben, fügten sie zu Wörtern zusammen und übten sich im Lesen einfacher Wörter. Die übrigen 26 Probanden durchliefen als Kontrollgruppe hingegen ein motorisches Training, mit Sportspielen und Koordinationsübungen. Nach Abschluss des Trainings hatten die Kinder mit den zielführenden Übungen ihre Leseschwäche deutlich verringert, jene aus der Kontrollgruppe hatten sich dagegen nicht verbessert. "Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass eine frühe, spezifische Leseförderung sinnvoll ist", sagt Schulte-Körne.

Künftig möchte der Mediziner die Kinder noch gezielter fördern. Dafür müssen die Therapeuten aber die Schwächen der einzelnen Kinder kennen. Wie das gelingen kann, hat die Psychologin Moll auf der Münchner Tagung berichtet. In einer noch unveröffentlichten Studie schaffte sie es, Kinder mit isolierten Schwächen in der Rechtschreibung oder im Lesen klar voneinander zu trennen. "Die werden oft noch in einen Topf geworfen", sagt Moll. Wissen die Therapeuten aber, unter welcher Störung ein Schüler genau leidet, können sie viel gezielter behandeln.

So stellte die Psychologin fest, dass Patienten mit einer isolierten Leseschwäche durchaus ganze Worte im Gedächtnis abspeichern können. Dennoch lesen sie aber sehr langsam, weil sie auf diese Begriffe nur schwer zugreifen können. "Bei ihnen müssen wir nicht das korrekte Lesen, sondern die Lesegeschwindigkeit trainieren, um Fortschritte zu erzielen", sagt die Psychologin. Auch computergestützte Lernprogramme können dabei helfen. Je nachdem, wie stark die Lernschwäche ausgeprägt ist, möchte Moll die Kinder mit einem Training so weit bringen, dass sie mit etwas Unterstützung in der Schule und später im Beruf zurechtkommen können.

Dafür müssen die Therapeuten sich allerdings nicht nur die LRS an sich ansehen. "Wir müssen den ganzen Patienten betrachten", sagt Schulte-Körne. Die Familie, die Schule, die Psyche der Kinder. Darauf weist auch die klinische Leitlinie zur Diagnose und Behandlung von LRS hin, die im Jahr 2015 zum ersten Mal überhaupt erschien. In der Schule nämlich erleben die Kinder, wie sie in fast allen Fächern versagen, schließlich wird das Lesen und Schreiben für sie sogar in den Textaufgaben des Mathe-Unterrichts relevant. Der Druck auf die Schüler wächst mit jeder Probe, manche werden wegen ihrer Lernschwäche gehänselt, bleiben bald mit Bauchschmerzen zu Hause. "Die psychische Belastung ist enorm", sagt Schulte-Körne.

Das konnte der Mediziner zuletzt in einer noch unveröffentlichten Online-Befragung von 3000 Schülern der 3. und 4. Klasse und deren Familien erneut beobachten: 21 Prozent der Kinder litten an Angststörungen, 28 Prozent äußerten depressive Symptome, ebenfalls 28 Prozent litten an ADHS, 22 Prozent litten an Verhaltensstörungen. Nur die Kinder selbst und ihre Eltern hatten in der Studie über die Symptome berichtet, von den Ärzten wurde keine klinische Diagnose gestellt. Und Schulte-Körne kann aus den Daten auch nicht herauslesen, ob die LRS tatsächlich zu den psychischen Beschwerden führte. Doch kommen zum Beispiel Angststörungen normalerweise nur bei sieben bis acht Prozent der Kinder vor, Depressionen bei vier Prozent. "Hier können wir von einem erhöhten Risiko ausgehen", sagt der Mediziner.

Da hilft zunächst bereits, wenn die kleinen Patienten und ihre Familien über die Lernschwäche Bescheid wissen. Auch Lehrer können nicht nur unterstützen, sondern den Schülern mit LRS auch einen sogenannten Nachteilsausgleich und Notenschutz gewähren, etwa auf Noten für die Rechtschreibung verzichten oder ihnen bei schriftlichen Prüfungen mehr Zeit einräumen. "Das wird aber noch nicht überall umgesetzt, zumindest nicht in Bayern", sagt Schulte-Körne.

Vor allem aber sollten auch Lehrer die LRS gut kennen und wissen, wie mit den Schülern umzugehen ist. "Wichtig wäre, die Kinder für ihre persönlichen Anstrengungen zu loben, sie vor der Klasse wertzuschätzen,", sagt Schulte-Körne. Um den Schülern die psychische Last ihrer Lernschwäche zu nehmen.

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