Süddeutsche Zeitung

Ostsee-Pipeline:Klempner am Meeresgrund

Für die Ostsee-Pipeline müssen Spezialtaucher riesige Stahlrohre in 100 Metern Tiefe verschweißen. Während der Einsätze werden sie über Wochen in einer Druckkammer leben. Nur 26 Männer weltweit sind dafür ausgebildet.

Alexander Stirn

So also müssen sich Astronauten fühlen: eingepfercht in einer engen Röhre, hermetisch abgeschlossen von der Außenwelt, am Leben gehalten durch eine komplexe Maschinerie. Tief im Bauch der Skandi Arctic, eines stolzen rotlackierten Schiffes, lebt ein Dutzend Männer unter genau diesen Bedingungen.

Verglichen mit Astronauten haben die eingesperrten Seefahrer allerdings einen großen Vorteil: Sie dürfen einmal am Tag vor die Tür. Wobei das in ihrem Fall bedeutet: Sie dürfen einen Ausflug zum Meeresgrund unternehmen.

Die Skandi Arctic ist ein Tauchschiff - "das modernste der Welt", wie Jahn Erling Nakkestad, Projektmanager beim Schiffseigner Technip, stolz erzählt. Es wurde extra dafür entworfen, um Taucheinsätze in bis zu 180 Metern Tiefe möglich zu machen. Dort ist der Druck des Wassers so groß, dass das menschliche Blut beim schnellen Auftauchen sofort Blasen werfen würde - ganz so, wie eine zu stark geschüttelte Sprudelflasche.

Deshalb leben die Taucher an Bord der Skandi Arctic wochenlang unter dem Druck, der auch am Meeresboden herrscht. Deshalb stecken sie in engen Röhren, deshalb hausen sie wie Astronauten. "Ohne diese Druckkammern würden wir mehr Zeit mit der Dekompression als mit der eigentlichen Arbeit verbringen", sagt Nakkestad.

Die Arbeit besteht normalerweise in der Montage und Reparatur von Ölpipelines. Für 89 Röhrensysteme mit insgesamt 12.800 Kilometern Länge ist die Skandi Arctic verantwortlich - koordiniert vom staatlichen norwegischen Energiekonzern Statoil. Derzeit bereitet sich die Crew allerdings auf einen besonderen Einsatz vor: Sie soll einem Mammutprojekt namens Nordstream den letzten Schliff verpassen.

Hinter Nordstream steckt eine neue Gaspipeline, die quer durch die Ostsee führt. Sie beginnt unweit von Sankt Petersburg, wo das Gas mit einem Druck von 220 Bar in die Stahlröhre gepresst werden soll. 1224 Kilometer weiter, in der Nähe von Greifswald, wird das Gas mit nur noch 100 Bar aus der Leitung kommen.

Für die Nordstream-Ingenieure bedeutet das: Sie konnten die Pipeline mit zunehmender Länge immer dünner bauen. "Das hat uns geholfen, große Mengen an Stahl zu sparen", sagt Projekt-Koordinator Nicolas Rivet.

Drei Teilabschnitte sind es schließlich geworden. Jedes Segment hat unterschiedlich dicke Wandstärken, und jedes Segment muss einzeln auf seine Druckfestigkeit getestet werden. Vor allem aber müssen die einzelnen Abschnitte miteinander verschweißt werden - in Tiefen von 80 und 110 Metern. Das ist so tief, dass nur die sogenannten Sättigungstaucher dort arbeiten können.

Wie eine kleine Raumstation sieht deren Quartier an Bord der Skandi Arctic aus. Es besteht aus vier Büchsen, die jeweils von drei Tauchern bewohnt werden. Untereinander verbunden sind die Kammern durch ein Labyrinth aus Tunneln und Luken. Ein Gewirr von Leitungen, Pumpen, Ventilen garantiert den konstanten Überdruck.

Hinzu kommen zwei Dekompressionskammern, deren Druck langsam an die Umgebung angepasst werden kann. Pro Tag darf er maximal so stark sinken, als würden die Männer um 21 Meter auftauchen. An einen schnelleren Druckabbau ist aus Gesundheitsgründen nicht zu denken, nicht einmal im Notfall.

Deshalb sind zwei grellrote Überdruck-Rettungsboote an das Labyrinth angeschlossen, zu erreichen über ein Schott in der Toilette. Extra für das Nord-Stream-Projekt hat Technip nahe Stockholm zudem eine Rettungsstation gebaut, die von den Booten im Fall der Fälle angesteuert werden soll. Dort können die Taucher von ihrer schwimmenden Sardinenbüchse in eine ordentliche Dekompressionskammer umsteigen - und Tage später wieder ans Tageslicht treten. "Das ist Teil unseres Sicherheitsnetzes", sagt Statoil-Ingenieur Bjørn Bakkevig.

Ein wichtiger Teil dieses Netzes ist die Krankenstation an Bord der Skandi Arctic. Dag Jacobsen kümmert sich dort um die Gesundheit der Taucher, untersucht sie vor und nach jedem Einsatz. Krankenpfleger hat der 46-Jährige einst gelernt, jetzt ist er Experte fürs Sättigungstauchen. Im Notfall könnte der Norweger sogar zu den Tauchern in die Kammer steigen - aber das nur als allerletzte Option: "Auch ich komme dort nur ganz langsam wieder heraus", sagt Jacobsen. "Und während dieser Zeit ist überhaupt niemand mehr auf der Krankenstation."

Edel sieht die Station aus, wie der gesamte Wohn- und Aufenthaltsbereich an Bord. Dunkles Laminat und schwarze Ledermöbel dominieren die Einrichtung, 99 Kabinen bieten ausreichend Platz für die Crew. "Sie sind ziemlich luxuriös", sagt Technip-Manager Nakkestad.

Unter Deck sieht das ganz anders aus. Die Gänge führen über grünlackierten Stahl, die Lüftung lärmt, es stinkt nach Öl. Zwei Jahre nach dem Stapellauf der Skandi Arctic sind bereits die ersten Rostflecken zu sehen. In den Druckkammern dagegen geht es fast steril zu. Der weiße Lack und die roten Klappsitze verbreiten Wartezimmeratmosphäre. Es ist stickig, vor allem aber ist es heiß.

Die Taucher bekommen davon nichts mit: Unter hohem Druck verwandelt sich der Stickstoff, der sich normalerweise in der Atemluft befindet, in ein für den Menschen giftiges Gas. In den Kammern wird er daher durch Helium ersetzt.

Das beschert den Insassen nicht nur eine Donald-Duck-Stimme, es lässt sie auch stark frieren: Ähnlich wie Wasser führt Helium Wärme sofort ab. An Bord wird daher der Thermostat hochgedreht, im Meer strömt 36 Grad warmes Wasser durch die Tauchanzüge. "Das ist ein bisschen so, als würden die Männer in der Badewanne liegen", sagt Nakkestad und schmunzelt.

Acht Stunden dauert die Schicht am Meeresgrund, dann kommt das nächste Dreierteam an die Reihe. So geht es weiter, rund um die Uhr. Den Rest ihres Tages verbringen die Taucher in der Raumstation. Es gibt eine Durchreiche fürs Essen, Internet-Anschluss, ein bescheidenes Unterhaltungsprogramm. Während weiter oben - in der Holz-und-Leder-Klasse - Kino, Sauna und Raucherraum auf die Besatzung warten, müssen sich die Taucher mit einem Beamer und einer Leinwand zufrieden geben. Auf Knopfdruck rollt sie von der Decke herab, ein Meter von den Augen entfernt.

Privatsphäre gibt es nicht. Lediglich auf der Toilette, einer kleinen Edelstahl-Schüssel, können die Taucher ein Schott hinter sich zuziehen. Aber selbst dort läuft die Kameraüberwachung. 14 Tage dauert eine Tauchmission. Hinzu kommen knapp fünf Tage für die Dekompression, während der die Taucher nicht einmal mehr vor die Tür dürfen. Das zerrt an den Nerven.

Dag Jacobsen, der Krankenpfleger, hat daher auch eine Ausbildung als Psychologe. "Früher waren die Taucher Cowboys, die keine Gefühle zeigten", sagt er. "Aber das hat sich geändert." Immer wieder kommt es vor, dass Taucher ihn nach unten bitten, zu den Druckkammern. Aber selbst dort sind Unterhaltungen nur über Lautsprecher möglich, jeder kann mithören. "Viele suchen daher erst nach ihrem Einsatz das vertrauliche Gespräch in der Krankenstation."

Noch sind die Kammern leer, noch liegt die 157 Meter lange Skandi Arctic im Hafen des norwegischen Städtchens Haugesund. Doch die Vorbereitungen fürs große Schweißen sind so gut wie abgeschlossen; in wenigen Wochen soll es losgehen.

Dann liegen die drei Segmente der ersten Nord-Stream-Pipeline fertig am Meeresgrund. Im April vergangenen Jahres hatte das Unternehmen mit dem Verlegen begonnen - trotz Protesten von Umweltschützern, trotz politischer Bedenken der Anrainerstaaten, trotz der umstrittenen Rolle von Altbundeskanzler Gerhard Schröder, der im Aufsichtsrat des deutsch-russischen Gemeinschaftprojekts sitzt.

Für die Ingenieure und Taucher an Bord der Skandi Arctic spielt all das keine Rolle. Für sie ist das Schweißen nur ein weiterer Auftrag - allerdings einer mit völlig neuen Dimensionen: Bislang sind sie nur zu Pipelines mit einem Durchmesser von 44 Zoll hinabgetaucht. Die Nord-Stream-Stränge messen aber 48 Zoll, also gut 120 Zentimeter. Fast alle Maschinen, die die Röhren heben, schneiden, schweißen sollen, mussten um- oder neu gebaut werden.

Jetzt stehen sie an der Kaimauer von Haugesund, fertig zum Verladen. Sie sehen ein bisschen aus wie die Kampfroboter aus den Star-Wars-Filmen: Links und rechts haben die Maschinen zwei massive Füße, dazwischen hängt an einem Querbalken eine gigantische Greifzange. Über Hydraulikzylinder kann der Greifer nach oben und zur Seite bewegt werden. Bald soll er am Grund der Ostsee die Enden der beiden Pipelines schnappen und in die passende Position fürs Schweißen bringen.

Zuvor müssen allerdings die Taucher ihre engen Quartiere im Bauch der Skandi Arctic verlassen. Sie werden nach der Toilette nicht nach rechts, Richtung Rettungsboot, abbiegen, sondern nach oben. Dort ist eine Tauchglocke ans Drucklabyrinth angeschlossen. Mit einer Größe von sieben Kubikmetern fällt sie nur unwesentlich geräumiger aus als die Apollo-Kapsel, in der die ersten Mondfahrer ausharren mussten. Die Glocke wird die Taucher zum Meeresgrund bringen, wo bereits zwei Roboter auf die Männer warten. Deren Aufgabe besteht vor allem darin, Licht ins ewige Dunkel der Ostsee zu bringen und Kamerabilder an die Oberfläche zu senden.

Erst dann kommen die vermeintlichen Kampfroboter zum Einsatz: Kapitän Thomas Jensen, ein jugendlich wirkender 41-Jähriger mit Jeans und Sandalen, wird die Skandi Arctic exakt an einer Position halten. Auf seiner Brücke, die mit ihren ringsum verlaufenden Fenstern eher an ein luxuriöses Loft erinnert, hat er dafür ein zweites Steuerpult - mit Blick nach hinten aufs Achterdeck.

Dort wird ein Kran die 80 Tonnen schweren Maschinen exakt über der Pipeline in die Tiefe lassen. Motoren in seinem Ausleger sollen selbst die kleinsten Bewegungen des Schiffes kompensieren. "Wir müssen unter allen Umständen verhindern, dass wir beim Absenken die Pipeline beschädigen", sagt Statoil-Ingenieur Bakkevig.

Klappt alles wie geplant, werden die Roboter mit ihren Klauen die beiden Segmente der Pipeline greifen und direkt nebeneinander positionieren. Die Taucher werden mit Diamantschneidern die überstehenden Enden stutzen und anschrägen. Gut drei Zentimeter dicke Stahlwände müssen sie dabei durchtrennen, jeder Schnitt wird eineinhalb Stunden dauern. "Zum Schluss müssen die Längen der beiden Pipelines auf den Millimeter genau stimmen", sagt Technip-Manager Nakkestad. Trotz Tiefe, Kälte, Dunkelheit.

An Deck wird derweil die Schweißstation auf ihren Einsatz vorbereitet. Mit ihrem eckigen Bauch und den vier dünnen Füßen sieht sie aus wie die Mondfähre aus dem Apollo-Programm - mit dem Unterschied, dass die Schweißstation unten und an den beiden Seiten offen ist. So kann der Kranführer sie an genau der Stelle über die Pipeline stülpen, an der die beiden Röhren zusammenstoßen.

Ein Taucher wird anschließend von unten in das Modul schwimmen. Er wird zunächst den Lichtschalter suchen und dann ein Ventil öffnen: Über eine orangefarbene Lebensader strömt Druckluft in die Tiefe. Sie soll - ähnlich wie in einer Tauchglocke - das Wasser nach unten aus dem Modul pressen. Am Grund der Ostsee, in etwa 100 Metern Tiefe, liegen die Pipelines auf einmal trocken. "Das ist auch nötig, denn nassen Stahl können wir nicht schweißen", sagt Bjørn Bakkevig.

Was dann passieren wird, haben die Techniker am Kai von Haugesund bereits mehrfach geprobt. In den Lagerhallen stehen rostbraune Röhren, die von einer welligen, silbrig glänzenden Schweißnaht zusammengehalten werden. Genau so soll es künftig auch in den Tiefen der Ostsee aussehen.

Möglich machen wird das ein 25 Kilogramm schwerer Schweißkopf, der im trockengelegten Modul um die Pipelines kreist - 34 Stunden lang, ferngesteuert von Bord der Skandi Arctic. Die Taucher, längst in Blaumänner gekleidet, müssen im Innern der Schweißstation nur noch zuschauen.

"Weltweit sind derzeit nur 26 Männer in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen", sagt Technip-Manager Nakkestad. Für sie muss die 68-tägige Mission kein einmaliger Auftrag bleiben.

Die Roboter an der Kaimauer von Haugesund sind absichtlich so dimensioniert worden, dass sie auch bei Problemen mit der Nord-Stream-Pipeline zum Einsatz kommen können. Klaglos werden die Taucher dann wieder in ihre Druckkammern kriechen. Wochenlang. Fast wie Astronauten.

Eine animierte Darstellung der Arbeiten am Meeresgrund finden Sie hier .

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Quelle:
SZ vom 19.05.2011/mcs
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