Oktopoden:Acht Arme, drei Herzen und Gehirn im ganzen Körper

Oktopoden: Erst vor einigen Jahren wurde am Meeresgrund vor Hawaii dieser kleine Krake entdeckt, der seines Aussehens wegen Casper getauft wurde, er ähnelt einem bekannten Filmgespenst.

Erst vor einigen Jahren wurde am Meeresgrund vor Hawaii dieser kleine Krake entdeckt, der seines Aussehens wegen Casper getauft wurde, er ähnelt einem bekannten Filmgespenst.

(Foto: NOAA Office of Ocean Exploration and Research)

Oktopoden, Kraken und Kalmare sind so bizarr, als wären sie Wesen von einem anderen Stern. Zugleich beeindrucken sie durch Feinfühligkeit und Intelligenz.

Von Patrick Illinger

Acht Arme, manchmal auch zehn, dazu drei Herzen und ein Gehirn, das nicht nur im Kopf steckt, sondern bis in die äußersten Extremitäten verästelt ist. Farbe und Musterung der Haut passen sich in Sekundenbruchteilen der Umgebung an. Knochen haben sie keine, aber ein knackiges Gebiss. Und für die Fortbewegung steht ein Düsentriebwerk zur Verfügung. Braucht es noch mehr anatomische Details, um solche Wesen zweifelsfrei als Aliens zu identifizieren? Als nicht von dieser Welt?

Tatsächlich sind Cephalopoden, zu Deutsch Kopffüßler, und unter ihnen besonders der Oktopus, seit Millionen Jahren feste Bewohner der irdischen Biosphäre. Wer diese Kreaturen nur als Salat beim Griechen kennt oder als Monster aus alten Seefahrergeschichten, wird dem biologischen und philosophischen Phänomen Oktopus nicht gerecht. Es ist, als hätte die Evolution vor Urzeiten zwei Experimente gestartet, das eine führte zum Menschen, das andere zum Tintenfisch. Der letzte gemeinsame Vorfahr beider Spezies muss ein wurmartiger Glibber gewesen sein, der vor 600 oder 700 Millionen Jahren lebte - lange vor der kambrischen Explosion, die erdgeschichtlich als Urknall der Artenvielfalt gilt. Heute existieren Oktopoden in allen Größen, Farben und Formen. Von wenigen Zentimetern bis zu den sieben Metern Spannweite des Pazifischen Oktopus reicht ihre Größenskala. Noch größere Cousins, oft fälschlich als "Riesenkraken" betitelt, sind tatsächlich Kalmare, deren Anatomie sich vom Oktopus unterscheidet.

Während sich an Mäusen, Primaten oder anderen Wirbeltieren neue Wirkstoffe oder Verhaltensmuster erforschen und auf den Menschen übertragen lassen, versagen beim Tintenfisch die Analogien. Schon die übliche Trennung von Körper und Geist verliert ihren Sinn: Beim Oktopus ist unklar, wo das Gehirn anfängt oder endet. Das Netzwerk der Neuronen zieht sich durch den gesamten Körper, und das ist nur eine der Eigenschaften, die den Kontakt mit diesen Wesen so spannend macht: Sie stellen eine real existierende Lebensform dar, die sich auf einem anderen Planeten entwickelt haben könnte. Dass sie wirbellos wie eine Schnecke sind, sollte keinesfalls über ihre herausragenden Fähigkeiten hinwegtäuschen. In seinem Buch "Other Minds", schreibt der Philosoph und passionierte Taucher Peter Godfrey-Smith: "Kopffüßler - Oktopoden, Kalmare und Nautilusse - sind eine Insel geistiger Komplexität inmitten des Ozeans wirbelloser Tiere." Der Philosoph und Oktopus-Forscher Stefan Linquist von der kanadischen University of Guelph sagt: "Wenn du mit Fischen arbeitest, haben diese keine Ahnung, dass sie in einem unnatürlichen Behälter herumschwimmen. Mit Oktopoden ist das völlig anders. Sie wissen, dass sie in dieser seltsamen Umgebung sind, und du, Mensch, außerhalb."

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Trotz des komplett anderen Körperbaus gibt es Gemeinsamkeiten mit Menschen und anderen Wirbeltieren: Kurz- und Langzeitgedächtnis, Schlaf, das spielerische Erkunden von Gegenständen und die Fähigkeit, Individuen einer anderen Spezies zu erkennen. Experten haben keinen Zweifel, dass die Saugnapfträger verschiedene Menschen voneinander unterscheiden können und diese "mögen" oder eben nicht. Unbeliebten Tierpflegern spritzen sie zum Beispiel gerne mal einen Wasserstrahl ins Gesicht. So gesehen ist ein auf Hawaii verbreiteter Volksglaube gar nicht so abwegig, wie er zunächst klingt: Demnach ist der Oktopus das Überbleibsel einer Welt, die vor der heutigen existiert hat. Oktopoden wären dann, wenn nicht extraterrestrische, so doch prototerrestrische Wesen.

Schlau bis in die Glieder

Den größten Teil ihres ungewöhnlichen Gehirns haben Kopffüßler nicht im Kopf. Das neuronale Gewebe ist auch um die Speiseröhre herum bis in sämtliche Arme verbreitet. Es funktioniert wie ein körpereigenes Internet. Insgesamt 500 Millionen Nervenzellen, von denen zwei Drittel in den Extremitäten stecken, machen die Tiere erstaunlich beweglich und verleihen ihnen ein gehöriges Maß Intelligenz. Jeder Arm hat seine eigene Sensorik und Steuerung. Auch können die Gliedmaßen Chemikalien und Licht erkennen. Jeder Saugnapf hat 10 000 Neuronen. Bienen zum Beispiel, die immerhin eine Landkarte ihrer Umgebung im Kopf behalten können und ihr Wissen anderen Artgenossen mitteilen, kommen mit insgesamt einer Million Neuronen aus. Das Hunderte Mal so komplexe Denkorgan von Oktopoden macht die Tintenfische zwar nicht klug nach konventionellen menschlichen Maßstäben. Doch sie sind zu enormen kognitiven Leistungen fähig, die sie als Einzelgänger nicht von anderen erlernen können. Die Kopffüßler erschließen sich ihre Welt und die Objekte darin mit unzähligen tastenden Bewegungen. Auch zeigen die Tiere bei längerer Beobachtung individuelle Charaktere: Manche sind abenteuerlustiger als andere. Dass die beteiligten Arme zugleich Hirnareale sind, ist dabei sicher hilfreich.

Inky, der Ausbrecher

Ob er genug hatte vom Leben im Glaskasten? Nein, meinten die Tierpfleger des National-Aquariums von Neuseeland an der Hawke's Bay im Osten des Landes. Der Oktopus namens Inky sei einfach immer schon neugierig gewesen. Immer für die eine oder andere Überraschung gut, habe Inky wohl nur herausfinden wollen, was die Welt noch so zu bieten hat. Dass er entwendet oder von anderen Tieren gefressen wurde, könne man ausschließen, beteuerte der Aquariumleiter. Inky hat vielmehr eines Nachts eine Lücke im Deckel seines Beckens gefunden, ist an der Glaswand hinabgerutscht und einige Meter weit über den Fußboden geglitscht, bis zu einem 50 Meter langen Abwasserrohr, das ins offene Meer führte. Sein weniger abenteuerlustiger Artgenosse namens Blotchy blieb zurück. Der im April des vergangenen Jahres bekannt gewordene Ausbruch erinnert an die spektakulären Fluchtgeschichten mexikanischer Drogenbarone. "Ungewöhnlich intelligent" beschrieben die Aquariummitarbeiter den entkommenen Tintenfisch. Und seine Geschichte ist nicht die einzige solche Anekdote: In einem anderen Aquarium Neuseelands zeigte sich, dass ein Oktopus nachts regelmäßig andere Becken aufsuchte, um die dortigen Krabben zu verspeisen und dann in sein eigenes Gehege zurückzukehren.

Mit der Haut sehen

Für das Sehen benutzen Oktopoden nicht nur ihre Augen. Eine im Journal Evolutionary Biology veröffentlichte Studie zeigte, dass die Haut der Tintenfische auch ohne eine Verbindung zum Gehirn lichtempfindlich ist. Die Haut enthält Proteine namens Opsin, wie es auch in Sehpigmenten von Augen enthalten ist. Zwar können die Oktopusse mit ihrer Haut keine Details erblicken, doch ermöglicht ihnen die unabhängige "Sehfähigkeit" der Haut, ihre Tarnung in Rekordgeschwindigkeit an die Struktur und Farbe der Umgebung anzupassen. Das Tier könne keine Kontraste oder Kanten wahrnehmen, wohl aber Wechsel der Lichtintensität, schrieben die Studienautoren. In anderen Laborexperimenten wurden Tintenfische beobachtet, die ihr Aussehen 177-mal in einer Minute veränderten. Trickreich sind dabei die sogenannten Chromatophoren, kleine Farbpunkte in der Haut, die je nach Lichteinfall vergrößert oder verkleinert werden. Es ist die biologische Version eines Flachbildschirms, wo Farben ebenfalls durch die Kombination einiger Grundfarben erzeugt werden. Die Forscher konnten zudem feststellen, dass sich die Chromatophoren auch mit elektrischen Impulsen vergrößern und verkleinern lassen. Die verblüffende Tarnfähigkeit der Oktopoden ist offenbar keine Kopfsache, folgern die Tintenfisch-Forscher.

Alle Arme an die Arbeit!

Wie kontrolliert man acht gleichberechtigte und gleich gebaute Extremitäten, ohne dass sich die Körperteile ständig in die Quere kommen? Das ist eine Frage, die Neurobiologen wie auch Computerwissenschaftler an ihre Grenzen bringt. Wollte man einen Roboter mit den Fähigkeiten eines Oktopus bauen, bräuchte es unvorstellbare Rechenkraft für die Koordination der Arme. Der Tintenfisch aktiviert nach Erkenntnissen israelischer Wissenschaftler mit seinem Kopf mehrere autonome Programme im Nervengeflecht der Arme. Wie die Steuerung im Detail abläuft, ist jedoch noch unbekannt. Die Forscher aus Rehovot und Jerusalem untersuchten die Kinematik des Krabbelns und waren verblüfft: Trotz seines grundsätzlich bilateralen Körperbaus (zwei Augen) kann der Tintenfisch aus dem Stand gleich gut in jede Richtung krabbeln. Anders als bei jedem anderen krabbelnden (oder laufenden) Lebewesen, gibt es keinen wiederkehrenden Rhythmus in den Gliedmaßen. Es werde offenbar von Moment zu Moment spontan und arhythmisch entschieden, welcher Arm nun auf welche Weise bewegt werden soll, schließen die Forscher. Andererseits können Oktopusse durchaus mit ihren Augen Gegenstände wahrnehmen und mit einem einzelnen Arm danach greifen.

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