Acht Arme, manchmal auch zehn, dazu drei Herzen und ein Gehirn, das nicht nur im Kopf steckt, sondern bis in die äußersten Extremitäten verästelt ist. Farbe und Musterung der Haut passen sich in Sekundenbruchteilen der Umgebung an. Knochen haben sie keine, aber ein knackiges Gebiss. Und für die Fortbewegung steht ein Düsentriebwerk zur Verfügung. Braucht es noch mehr anatomische Details, um solche Wesen zweifelsfrei als Aliens zu identifizieren? Als nicht von dieser Welt?
Tatsächlich sind Cephalopoden, zu Deutsch Kopffüßler, und unter ihnen besonders der Oktopus, seit Millionen Jahren feste Bewohner der irdischen Biosphäre. Wer diese Kreaturen nur als Salat beim Griechen kennt oder als Monster aus alten Seefahrergeschichten, wird dem biologischen und philosophischen Phänomen Oktopus nicht gerecht. Es ist, als hätte die Evolution vor Urzeiten zwei Experimente gestartet, das eine führte zum Menschen, das andere zum Tintenfisch. Der letzte gemeinsame Vorfahr beider Spezies muss ein wurmartiger Glibber gewesen sein, der vor 600 oder 700 Millionen Jahren lebte - lange vor der kambrischen Explosion, die erdgeschichtlich als Urknall der Artenvielfalt gilt. Heute existieren Oktopoden in allen Größen, Farben und Formen. Von wenigen Zentimetern bis zu den sieben Metern Spannweite des Pazifischen Oktopus reicht ihre Größenskala. Noch größere Cousins, oft fälschlich als "Riesenkraken" betitelt, sind tatsächlich Kalmare, deren Anatomie sich vom Oktopus unterscheidet.
Während sich an Mäusen, Primaten oder anderen Wirbeltieren neue Wirkstoffe oder Verhaltensmuster erforschen und auf den Menschen übertragen lassen, versagen beim Tintenfisch die Analogien. Schon die übliche Trennung von Körper und Geist verliert ihren Sinn: Beim Oktopus ist unklar, wo das Gehirn anfängt oder endet. Das Netzwerk der Neuronen zieht sich durch den gesamten Körper, und das ist nur eine der Eigenschaften, die den Kontakt mit diesen Wesen so spannend macht: Sie stellen eine real existierende Lebensform dar, die sich auf einem anderen Planeten entwickelt haben könnte. Dass sie wirbellos wie eine Schnecke sind, sollte keinesfalls über ihre herausragenden Fähigkeiten hinwegtäuschen. In seinem Buch "Other Minds", schreibt der Philosoph und passionierte Taucher Peter Godfrey-Smith: "Kopffüßler - Oktopoden, Kalmare und Nautilusse - sind eine Insel geistiger Komplexität inmitten des Ozeans wirbelloser Tiere." Der Philosoph und Oktopus-Forscher Stefan Linquist von der kanadischen University of Guelph sagt: "Wenn du mit Fischen arbeitest, haben diese keine Ahnung, dass sie in einem unnatürlichen Behälter herumschwimmen. Mit Oktopoden ist das völlig anders. Sie wissen, dass sie in dieser seltsamen Umgebung sind, und du, Mensch, außerhalb."
Trotz des komplett anderen Körperbaus gibt es Gemeinsamkeiten mit Menschen und anderen Wirbeltieren: Kurz- und Langzeitgedächtnis, Schlaf, das spielerische Erkunden von Gegenständen und die Fähigkeit, Individuen einer anderen Spezies zu erkennen. Experten haben keinen Zweifel, dass die Saugnapfträger verschiedene Menschen voneinander unterscheiden können und diese "mögen" oder eben nicht. Unbeliebten Tierpflegern spritzen sie zum Beispiel gerne mal einen Wasserstrahl ins Gesicht. So gesehen ist ein auf Hawaii verbreiteter Volksglaube gar nicht so abwegig, wie er zunächst klingt: Demnach ist der Oktopus das Überbleibsel einer Welt, die vor der heutigen existiert hat. Oktopoden wären dann, wenn nicht extraterrestrische, so doch prototerrestrische Wesen.
Schlau bis in die Glieder
Den größten Teil ihres ungewöhnlichen Gehirns haben Kopffüßler nicht im Kopf. Das neuronale Gewebe ist auch um die Speiseröhre herum bis in sämtliche Arme verbreitet. Es funktioniert wie ein körpereigenes Internet. Insgesamt 500 Millionen Nervenzellen, von denen zwei Drittel in den Extremitäten stecken, machen die Tiere erstaunlich beweglich und verleihen ihnen ein gehöriges Maß Intelligenz. Jeder Arm hat seine eigene Sensorik und Steuerung. Auch können die Gliedmaßen Chemikalien und Licht erkennen. Jeder Saugnapf hat 10 000 Neuronen. Bienen zum Beispiel, die immerhin eine Landkarte ihrer Umgebung im Kopf behalten können und ihr Wissen anderen Artgenossen mitteilen, kommen mit insgesamt einer Million Neuronen aus. Das Hunderte Mal so komplexe Denkorgan von Oktopoden macht die Tintenfische zwar nicht klug nach konventionellen menschlichen Maßstäben. Doch sie sind zu enormen kognitiven Leistungen fähig, die sie als Einzelgänger nicht von anderen erlernen können. Die Kopffüßler erschließen sich ihre Welt und die Objekte darin mit unzähligen tastenden Bewegungen. Auch zeigen die Tiere bei längerer Beobachtung individuelle Charaktere: Manche sind abenteuerlustiger als andere. Dass die beteiligten Arme zugleich Hirnareale sind, ist dabei sicher hilfreich.
Inky, der Ausbrecher
Ob er genug hatte vom Leben im Glaskasten? Nein, meinten die Tierpfleger des National-Aquariums von Neuseeland an der Hawke's Bay im Osten des Landes. Der Oktopus namens Inky sei einfach immer schon neugierig gewesen. Immer für die eine oder andere Überraschung gut, habe Inky wohl nur herausfinden wollen, was die Welt noch so zu bieten hat. Dass er entwendet oder von anderen Tieren gefressen wurde, könne man ausschließen, beteuerte der Aquariumleiter. Inky hat vielmehr eines Nachts eine Lücke im Deckel seines Beckens gefunden, ist an der Glaswand hinabgerutscht und einige Meter weit über den Fußboden geglitscht, bis zu einem 50 Meter langen Abwasserrohr, das ins offene Meer führte. Sein weniger abenteuerlustiger Artgenosse namens Blotchy blieb zurück. Der im April des vergangenen Jahres bekannt gewordene Ausbruch erinnert an die spektakulären Fluchtgeschichten mexikanischer Drogenbarone. "Ungewöhnlich intelligent" beschrieben die Aquariummitarbeiter den entkommenen Tintenfisch. Und seine Geschichte ist nicht die einzige solche Anekdote: In einem anderen Aquarium Neuseelands zeigte sich, dass ein Oktopus nachts regelmäßig andere Becken aufsuchte, um die dortigen Krabben zu verspeisen und dann in sein eigenes Gehege zurückzukehren.
Mit der Haut sehen
Für das Sehen benutzen Oktopoden nicht nur ihre Augen. Eine im Journal Evolutionary Biology veröffentlichte Studie zeigte, dass die Haut der Tintenfische auch ohne eine Verbindung zum Gehirn lichtempfindlich ist. Die Haut enthält Proteine namens Opsin, wie es auch in Sehpigmenten von Augen enthalten ist. Zwar können die Oktopusse mit ihrer Haut keine Details erblicken, doch ermöglicht ihnen die unabhängige "Sehfähigkeit" der Haut, ihre Tarnung in Rekordgeschwindigkeit an die Struktur und Farbe der Umgebung anzupassen. Das Tier könne keine Kontraste oder Kanten wahrnehmen, wohl aber Wechsel der Lichtintensität, schrieben die Studienautoren. In anderen Laborexperimenten wurden Tintenfische beobachtet, die ihr Aussehen 177-mal in einer Minute veränderten. Trickreich sind dabei die sogenannten Chromatophoren, kleine Farbpunkte in der Haut, die je nach Lichteinfall vergrößert oder verkleinert werden. Es ist die biologische Version eines Flachbildschirms, wo Farben ebenfalls durch die Kombination einiger Grundfarben erzeugt werden. Die Forscher konnten zudem feststellen, dass sich die Chromatophoren auch mit elektrischen Impulsen vergrößern und verkleinern lassen. Die verblüffende Tarnfähigkeit der Oktopoden ist offenbar keine Kopfsache, folgern die Tintenfisch-Forscher.
Alle Arme an die Arbeit!
Wie kontrolliert man acht gleichberechtigte und gleich gebaute Extremitäten, ohne dass sich die Körperteile ständig in die Quere kommen? Das ist eine Frage, die Neurobiologen wie auch Computerwissenschaftler an ihre Grenzen bringt. Wollte man einen Roboter mit den Fähigkeiten eines Oktopus bauen, bräuchte es unvorstellbare Rechenkraft für die Koordination der Arme. Der Tintenfisch aktiviert nach Erkenntnissen israelischer Wissenschaftler mit seinem Kopf mehrere autonome Programme im Nervengeflecht der Arme. Wie die Steuerung im Detail abläuft, ist jedoch noch unbekannt. Die Forscher aus Rehovot und Jerusalem untersuchten die Kinematik des Krabbelns und waren verblüfft: Trotz seines grundsätzlich bilateralen Körperbaus (zwei Augen) kann der Tintenfisch aus dem Stand gleich gut in jede Richtung krabbeln. Anders als bei jedem anderen krabbelnden (oder laufenden) Lebewesen, gibt es keinen wiederkehrenden Rhythmus in den Gliedmaßen. Es werde offenbar von Moment zu Moment spontan und arhythmisch entschieden, welcher Arm nun auf welche Weise bewegt werden soll, schließen die Forscher. Andererseits können Oktopusse durchaus mit ihren Augen Gegenstände wahrnehmen und mit einem einzelnen Arm danach greifen.
Die XXL-Version
La Coruña, Nordspanien, Oktober 2016. Ein 105 Kilogramm schwerer Riesenkalmar lag plötzlich verletzt am Strand. 2015, in der Nähe von Tokio: Ein junger Riesenkalmar schwamm plötzlich in einem Hafenbecken herum. Es gibt sie, die ominösen Riesentintenfische, wobei zwischen Kalmar und Krake (Oktopus) zu unterscheiden ist. 2004 hatte der Japaner Tsunemi Kubodera erstmals Riesenkalmare mit Unterwasserkameras fotografiert. Sie sind die XXL-Ausführung der Kopffüßler, wenngleich mittelalterliche Geschichten von in die Tiefe gerissenen Schiffen damit nicht bewiesen sind. Über das Leben der real existierenden Riesentintenfische, deren Augen bis zu 40 Zentimeter groß sein sollen, ist indes abseits der gelegentlichen Begegnungen mit Menschen wenig bekannt. Erbgutuntersuchungen lassen vermuten, dass es weltweit nur eine Spezies dieser Megakalmare gibt: Architeuthis dux. Womöglich treiben die Jungtiere mit der Meeresströmung um den Globus und siedeln später in die Tiefe der Meere um. Für Calamari fritti taugt diese Spezies übrigens nicht: In seinem Muskelgewebe ist viel Ammoniumchlorid enthalten, was bestialisch stinkt und das zähe Fleisch ungenießbar macht. Pottwale stört das nicht, Riesenkalmare gehören zu ihrer bevorzugten Beute.
Ausdauernde Brutpflege
Viereinhalb Jahre lang hat eine weibliche Krake in der Tiefsee ausgeharrt, um ihre Eier zu bewachen. Eine derart lange Brutzeit sei bei keinem anderen Tier bekannt, berichteten Forscher im Jahr 2014. Die Wissenschaftler um Bruce Robinson vom Monterey Bay Aquarium Research Institute in Kalifornien hatten das knapp zehn Zentimeter lange Exemplar einer Tiefseekrake der Art Graneledone boreopacifica im Frühjahr 2007 mit einem Tauchroboter in 1400 Metern Tiefe entdeckt. Bei insgesamt 18 Tauchgängen in den folgenden Jahren beobachteten sie, wie das Weibchen ein Gelege aus olivengroßen Eiern behütete. Während der Nachwuchs heranwuchs, wurde das Weibchen dünn und bleich. Die Forscher konnten es nie beim Fressen beobachten, stattdessen war es damit beschäftigt, seinen Eiern frisches Wasser zuzufächeln und Feinde zu vertreiben. Zuletzt sahen die Meeresbiologen das Tier im September 2011. Wenige Wochen danach war es verschwunden und wahrscheinlich tot. Die leeren Eikapseln ließen auf etwa 160 geschlüpfte Kraken schließen. Die Forscher vermuten, die Brutphase sei so intensiv, weil die niedrige Temperatur in der Tiefsee die Entwicklung der Eier verlangsame und die Jungtiere bessere Überlebenschancen hätten, wenn sie beim Schlüpfen weit entwickelt seien.
Bei vollem Bewusstsein
Haben Oktopusse ein Bild von sich selbst? Können sie sich zumindest eine rudimentäre Vorstellung machen von ihrem Platz in der Welt und der Endlichkeit des eigenen Daseins? Ja, sagte eine Gruppe anerkannter Neurowissenschaftler 2012 in ihrer "Cambridge-Erklärung über Bewusstsein". Darin hieß es: "Die Beweislast deutet darauf hin, dass nicht nur Menschen neuronale Substrate besitzen, die Bewusstsein erzeugen." Aus der Tierwelt sei ihrer Ansicht nach neben Säugern und Vögeln als einziges wirbelloses Tier der Oktopus hinzuzuzählen. Dass die Achtarmigen Meeresbewohner Werkzeuge benutzen, zum Beispiel, wenn sie Kokosnussschalen mitführen, um sich im Notfall damit zu schützen, unterstützt die These vom selbstbewussten Tintenfisch. Dagegen spricht nach Ansicht einiger Fachleute, dass manche Kopffüßler Artgenossen fressen. Widerspricht nicht animalischer Kannibalismus der Idee vom geistigen Selbstbildnis? Tatsächlich darf man hier womöglich nicht vom menschlichen Wertesystem ausgehen, argumentieren manche Forscher (abgesehen davon, dass es auch in der Menschheitsgeschichte Kannibalismus gab). Fast alle Oktopus-Arten sind radikale Einzelgänger und als solche sozialisiert, was das Mitgefühl womöglich einschränkt.
Dosenöffner und Pingpong-Spieler
Das Öffnen eines Schraubverschlusses gehört zu den bekanntesten Fähigkeiten der Oktopoden. In unzählbaren Experimenten haben die Tiere verschlossene Behälter geöffnet. Dabei stellten Forscher zwei Dinge fest: Erfahrung macht den Meister. Je öfter die Tiere die Übung absolvierten, desto schneller wurden wie. Und die Aussicht auf Belohnung beschleunigte ihre Mechaniker-Lehre: Ist eine Krabbe in einem Glasgefäß zu sehen, geht das Öffnen deutlich schneller vonstatten. Gleiches konnten Biologen feststellen, indem sie den Deckelrand einer verschließbaren Dose mit einem Stück Hering einrieben. Die Forscher vermuten, dass der Geruchseindruck die Tiere sozusagen zum intensiveren Experimentieren ermuntert, während sie an einer neutralen Dose schneller das Interesse verlieren. Doch nicht nur, wenn sie Essbares vermuten, sind unbekannte Objekte für Oktopusse eine spannende Sache. Jennifer Mather von der kanadischen University of Lethbridge hat beobachtet, wie manche Oktopusse ausgiebig mit einer leeren Pillendose spielen, indem sie diese mit ihrer körpereigenen Wasserdüse quer durch das Aquarium schießen. Einmal spielten sie sogar Pingpong, indem sie den Sprudler ihres Beckens als Gegenspieler nutzten, der die Dose immer wieder zurückbugsierte.
Auge um Auge
Evolutionsbiologen wissen seit einer Weile, dass die Natur komplexe Körperteile mehrmals "erfunden" hat. So zum Beispiel die Flügel von Vogel und Fledermaus. Ähnlich ist es mit den Augen von Mensch und Kopffüßler. In Nature Scientific Reports berichteten Biologen vor drei Jahren, dass zwar ein Gen namens Pax6 in allen sehenden Lebewesen eine bedeutende Rolle spielt. Womöglich hat dieses Gen vor Urzeiten irgendwelche Glibberwesen in die Lage versetzt, zumindest hell und dunkel zu unterscheiden. Wenn heutige Lebewesen heranreifen, fungiert dieses Gen wie eine Art Vorarbeiter im Herstellungsbetrieb: Es instruiert andere Gene, die jeweils Teile zum entstehende Auge beitragen. Das Pax6-Gen ist Biologen zufolge älter als 500 Millionen Jahre und hat schon vor der kambrischen Explosion, bei der eine Vielzahl neuer Lebewesen entstand, eine Rolle gespielt. Doch weil sich die Entwicklungslinien von Mensch und Oktopus vor 600 oder vielleicht 700 Millionen getrennt haben, ist es höchst erstaunlich, dass sich die Augen beider Lebewesen heute dennoch stärker gleichen als etwa die Facettenaugen aus dem Insektenreich. Oktopoden, Kalmare und andere Cephalopoden haben so wie der Mensch sogenannte Kameraaugen, die aus einer Art Gehäuse mit Augenflüssigkeit bestehen.