Ökologie:Das große Schlürfen

Schon die Menschen der Urgeschichte liebten Austern. Bis heute gilt das Schalentier als Naturprodukt. Tatsächlich gedeiht es fast nur noch in Massenkulturen. Seuchen und Gier haben die Muschel fast ausgerottet.

Von Kathrin Zinkant

Cancale ist einer der Orte an der rumpeligen Küste Nordwestfrankreichs, an denen es wenig anderes gibt als diese archaisch anmutenden Muscheln. Körbeweise stehen sie vor den kleinen Restaurants an der Hafenpromenade, säckeweise werden sie auf Anhängern umhergefahren, kistenweise bieten einheimische Austernfischer ihre Ware auf dem kleinen Marktplatz neben dem Leuchtturm des bretonischen Städtchens an. Ein Dutzend frische Austern aus der Gegend direkt vom Erzeuger kostet um fünf Euro. Die Auswahl ist übersichtlich: Es gibt Pazifische Felsenaustern, lateinisch einst Crassostrea, jetzt Magallana gigas genannt, lokal heißen sie Huîtres creuses. Serviert wird auf Plastiktellern. Für 50 Cent öffnen die Verkäufer die Schalentiere direkt für den Verzehr, wer will, bekommt für das gleiche Geld einen Pappbecher Muscadet oder Brot mit Butter dazu. Zum Essen kann sich, wer will, dann zu den anderen schlürfenden Menschen gesellen, auf die Steinstufen vor den Parcs à Huîtres, den Austernparks.

So heißen die aus Metall und Stein gebauten Anlagen im Watt, in denen die Schalentiere wachsen oder auch gelagert werden. Bei Flut sind die Parks nicht zu sehen, bei Ebbe kann man darin herumlaufen, die mit Algen bewachsenen Gestelle, die darauf liegenden Drahtsäcke und die aus niedrigen Betonwänden geformten Becken anschauen und sich seine Schuhe im Schlick ruinieren. Oder aber man blickt vom Ufer aus abwechselnd auf die Gezeiteninsel Mont-Saint-Michel, die in der Ferne aus dem Wasser ragt. Oder auf die "Gärtner der Meere", die mit ihren Traktoren in den Park fahren. Es ist der romantische Name für die Arbeiter in Anglerlatzhosen und Ölzeug, die von Tisch zu Tisch fahren, die großen Säcke rütteln und sie wenden. Manchmal schlagen sie mit Stöcken auf die Drahttaschen ein, damit die Austern nicht durch die Maschen hinauswachsen und dabei die Form sogenannter Spargelaustern annehmen. Ein paar Säcke landen auf den Anhängern, dann fahren die Trecker mit großem Getöse die Uferrampe wieder hinauf. Wiederkehren werden sie erst in einigen Wochen. Austern wachsen langsam.

Wer glaubt, hier der Zeuge einer uralten, naturverbundenen Tradition zu werden, irrt jedoch. Die Pazifische Felsenauster wird in Cancale und im übrigen Frankreich seit nicht einmal 50 Jahren kultiviert. Ursprünglich stammt sie aus Asien, inzwischen hat sie Europa regelrecht überschwemmt - und die ursprünglichen Austernarten fast verdrängt. Das mussten die Austernbauern Frankreichs schmerzhaft am Beispiel der Europäischen Auster erfahren, die lange vor der Huître creuse in den Gewässern des Landes zu Hause war und den legendären Ruf des Tiers als delikates Aphrodisiakum begründete. Ostrea edulis ist die Ur-Auster Europas, insbesondere in Cancale, wo sich schon das Römische Reich mit diesen Austern eindeckte. Heute macht sie nur noch einen geringen Teil der Austernproduktion aus.

Schuld an dieser Entwicklung ist nicht zuletzt, was in Cancale zwar ursprünglich aussieht, aber intensiver Landwirtschaft gleichkommt: gewaltige, auf Ertrag getrimmte Monokulturen, die nicht nur die Preise verfallen lassen, sondern auch das Ökosystem schwächen. Hinzu kommen Überfischung und Seuchen. So haben Krankheiten etwa die nach 1870 verbreitete Portugiesische Auster, Crassostrea angulata, bereits in den 1970er-Jahren komplett ausgerottet.

Wilde Austernbänke gibt es heute praktisch nicht mehr, nur vereinzelt findet man sie im Norden Europas, zum Beispiel im dänischen Limfjord. In der Nordsee sollen sie bald aufs Neue ausgewildert werden (siehe Artikel rechts). Dabei wuchs Ostrea edulis bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts noch in ganz Europa wild am Meeresboden und konnte einfach abgeerntet werden. Ludwig XIV., der Sonnenkönig, soll zum Frühstück hundert, in seiner ersten Hochzeitsnacht sogar vierhundert Stück verspeist haben.

Die Franzosen nennen die Europäische Auster Huître plate, platte Auster, weil sie im Gegensatz zur pazifischen Art keine ausgeprägt bauchige untere Hälfte hat und von der Seite deshalb flach erscheint. Von oben betrachtet ist sie rundlich. Ostrea edulis verträgt wie fast all ihre Verwandten auch Gezeiten, am besten wächst die Europäische Auster aber in tieferem Wasser, am Boden des Meeres, wo sie ausgesät und nach drei bis vier Jahren mit Schürfnetzen wieder eingeholt wird. Gelingt es einem Exemplar, dauerhaft dem Fang zu entkommen, kann es bis zu 30 Jahre alt und mehr als ein Kilogramm schwer werden. Ein solcher Pied de Cheval, zu Deutsch Pferdefuß, passt kaum auf die Hand und lässt sich schwerlich schlürfen. Als Rarität ist er auch auf Cancales Speisekarten zu finden. Ihn als Wildfang zu bezeichnen, wäre aber übertrieben.

Gelingt es einer Europäischen Auster, den Fischern dauerhaft zu entkommen, kann sie 30 Jahre alt und mehr als ein Kilo schwer werden

Was aber ist mit den Huîtres sauvages, den wilden Austern, die auch in Cancale angeboten werden? Pierre Pichot verzieht ein wenig das Gesicht. "Das ist so, als würde man von wilden Haushühnern sprechen", sagt der Austernexperte aus Cancale. Die grobschlächtigen, von kleinen Muscheln und Algen bewachsenen Exemplare der Pazifischen Felsenauster seien ausgebüxte, ungepflegte Kulturaustern, keine natürliche Besonderheit. Zumal Pichot selbst genau weiß, was eine besondere Auster ausmacht. Seiner Familie gehört hier eine der berühmtesten Austernfarmen Frankreichs: Les Parcs Saint Kerber. Seit Jahrzehnten kultivieren die Pichots und ihre Vorfahren ihre Austern in den Gewässern vor Cancale. Sein Bruder leitet die Produktion, er selbst die Geschäfte. Die Schwester betreut das Muschelmuseum der Ferme Marine, der Meeresfarm.

So heißen die Ausstellungsräume auf einer Klippe südlich des Stadtzentrums, wo auch der Firmensitz liegt. Die Austern der Parcs Saint Kerber werden hier sortiert, gereinigt, geprüft, verpackt und in mehr als 65 Länder exportiert, auch nach Deutschland. Dem kleinen Betrieb ist seine Weltläufigkeit kaum anzumerken. Nur 20 Menschen sind hier angestellt, in wenigen Minuten hat man vom Büro bis zu den Hallen alles einmal durchlaufen. Lediglich ein Fließband und eine eigens angefertigte Sortiermaschine weisen auf einen größeren Maßstab hin.

Sobald das Austernkind einen Standort gefunden hat, beginnt es zu wachsen, drei bis vier Jahre lang, bis zur Ernte

Die Spezialitäten der Pichots sind eher keine Massenware. Sie wachsen in verschiedenen Gewässern der Bucht heran, jede Sorte hat ihren Charakter. "Austern sind wie Wein", erklärt Pierre Pichot. Die gleiche Traube erziele auf den verschiedenen Böden einer Region und in der Hand verschiedener Winzer völlig unterschiedliche Ergebnisse. Genauso sei es mit den Austern. Die Besatzdichte auf den Tischen, die Nährstoffdichte und -beschaffenheit des Wassers am jeweiligen Standort, die Temperatur - all das macht den geschmacklichen, aber auch den optischen Unterschied etwa zwischen einer Creuse fine und einer Zarenauster aus. Beide haben den Pichots gerade Goldmedaillen des französischen Landwirtschaftsministeriums eingebracht, insbesondere die Zarenauster Tsarskaya findet großen Zuspruch. Entstanden sei sie durch eine Wette mit einem Russen, erzählt Pichot. Der hatte behauptet, in der Bucht vor Cancale könne man keine fleischige Auster züchten.

Der Gegenbeweis ist die Tsarskaya. Die kompakte Auster mit dem zarenhaft schwarzen Mantelsaum gedeiht allerdings nicht vor Cancale, sondern vor Vivier-sur-Mer, rund zehn Kilometer von der Farm entfernt vor einer Flussmündung. Der Planktongehalt ist hier besonders hoch, die Zahl der Tiere in den Säcken wurde halbiert, so werden die Austern feist und bissfest. Das Spiel mit den Lebensbedingungen beherrschen die Pichots aber nicht nur in Frankreich: Sie kultivieren inzwischen auch Austern in Irland. "Wir sind abhängig von einer intakten Umwelt", sagt Pichot. Bereits jetzt macht sich der Klimawandel bemerkbar. Die Meereserwärmung stört das Gleichgewicht der Lebensräume, begünstigt den Befall mit toxischen Algen, Viren und Bakterien. Gerade in Frankreich fürchten die Austernfischer um die Zukunft. Manche arbeiten eng mit Forschungsinstituten wie dem Ifremer-Center in Brest zusammen, die auch an Kulturaustern forschen. Einige sehen sich schon weiter nördlich um.

Wobei die Auster es nicht allzu kalt mag. Die Felsenauster vermehrt sich unterhalb von 18 Grad sogar nur widerwillig, in Nordfrankreich pflanzt sie sich allerdings erkennbar fort: Die Austern an den Marktständen im Sommer sind nämlich milchig und wirken schleimig im Mund, eine Folge der geschwollenen Fortpflanzungsorgane. Und weil das zwar die Touristen in Cancale nicht stört, wohl aber die Gourmets in Dubai oder Berlin, hat längst auch die Genetik Einzug in die Austernkultur gehalten. Babyaustern werden ohnehin seltener aus dem Meer gefangen als früher. Sie stammen zunehmend aus Brutstationen, und gut 20 Prozent dieser gezüchteten Saataustern sind heute sogenannte Triploide. Für diese Tiere werden normale Austern mit solchen gepaart, die anstelle eines doppelten einen vierfachen Satz ihres Erbguts besitzen. Die Nachkommen haben dann einen dreifachen Chromosomensatz und sind steril, denn ihr Genom lässt sich für die Produktion von Spermien und Eizellen nicht mehr gleichwertig teilen. Triploide haben das ganze Jahr über die gleiche Qualität. Sie wachsen außerdem etwas schneller als ihre normalen Artgenossen. Was dem Feinschmecker nur recht sein kann, dem naturverbundenen Austernfreund aber womöglich nicht mehr so geheuer ist.

Für eine etwas ursprünglichere Erfahrung empfiehlt sich daher ein Ausflug nach Kroatien. Am anderen Ende Europas, knapp 1650 Kilometer Luftlinie entfernt von Cancale, liegt der Hafen des Örtchens Mali Ston, tief in einer fjordähnlichen Bucht, die sich zwischen der kroatischen Halbinsel Pelješac und dem Festland Dalmatiens erstreckt. Mit einem Boot erreicht man rasch einen Bretterponton, wo Daniel Sepanovich den Anker auswirft. Ein Holzpavillon steht auf der kleinen Fläche, darunter ein einfacher Tisch, von den Balken baumeln Seile und Netze. Überall reichen Taue hinab ins türkisfarbene, klare Wasser. Als Sepanovich an einer Seilwinde zieht, erhebt sich aus der Tiefe tropfend ein Vorhang aus weißem Kunststoffnetz, übersät mit halb durchsichtigen, flachen Austern - rosa, lila, braun, perlmuttfarben. Manche haben die Größe eines Daumennagels, andere das Format einer Taschenuhr. Es sind Europäische Austern wie jene aus Nordfrankreich, nur erscheinen sie hier weniger rund und viel zarter.

"Das sind die Austernkinder", sagt Sepanovich. Er arbeitet für den größten Anbieter des Ortes und fährt Touristen mit dem Boot hinaus, um ihnen die Austern zu erklären. "Früher haben die Menschen Äste oder sogar umgestürzte Bäume ins Wasser gehängt. Dann haben sie gewartet", erzählt der Kroate. Heute nutzt man Kunststoffnetze, weil sie den Austernlarven viel Fläche zum Andocken bieten. Der Rest geht wie gehabt: Man hängt die Seile und Netze in die Bucht. Und wartet.

Austern sind Hermaphroditen, sie können sowohl Spermien als auch Eizellen produzieren. Während die Felsenauster im ersten Jahr meist männlich, mit zunehmendem Alter dagegen weiblich ist, wechselt die Europäische Auster ihr Geschlecht mehrfach im Leben. Die Befruchtung findet in der Mantelhöhle der Weibchen statt. Nach etwa zehn Tagen treiben die Larven dann als Plankton im Wasser und setzen sich an allem fest, was ihnen Halt bietet. Sobald es einen Standort gefunden hat, beginnt das Austernkind zu wachsen und bis zur Ernte nach drei bis vier Jahren die drei Schichten seiner wuchtigen Schale zu bilden: innen das schimmernde Perlmutt, an dem der Muskel ansetzt - und zwar mit solcher Macht, dass man die Tiere nur mit Gewalt aufbekommt. Darüber eine Lage Calcit und schließlich die fast bruchfeste Mischung aus Kalk und einem eiweißhaltigen Kleber, dessen Zusammensetzung auch die Farbe der Auster bestimmt.

Insgesamt ein erstaunliches Bollwerk, betrachtet man den flüchtigen Inhalt, der im Wesentlichen aus Muskeln und Magen besteht, und auch in Mali Ston sekundenschnell im Mund der Besucher verschwindet. Wie gut das hirnlose Wesen den Menschen schmeckt, kann man am besten aber am Strand von Cancale beobachten: Der nämlich besteht inzwischen fast ausschließlich aus Austernschalen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: