Nordostpassage:Eis ohne Wiederkehr

Vor 130 Jahren durchsegelte der erste Mensch die Nordostpassage. Heute folgt eine schwedische Expedition den Spuren Nordenskjölds - und macht erschreckende Beobachtungen.

Birgit Lutz-Temsch

Die Stadt ist tot. Die grauen Betonbauten zerfallen, die Fenster sind zersplittert. Rostiger Schrott liegt überall herum. Das einzige Restaurant öffnet nur an einem Abend pro Woche. Willkommen in Dikson an der Nordostpassage. Jenem Schiffsweg entlang der Nordküste Russlands, der seit Jahren von Reedern beobachtet wird.

Nordostpassage

Der Weg der

Explorer of Sweden

.

(Foto: Grafik: Skinnarmo)

Bisher ist die Passage sehr schwierig und teuer. Doch nun drängt der Klimawandel das Eis zurück, das macht diesen Seeweg einfacher und deshalb immer interessanter. In diesen Tagen hat Dikson nun Besuch bekommen. Das passiert nicht mehr so oft in der sibirischen Hafenstadt, und dass Segelschiffe festmachen, schon gar nicht.

Eine schwedisch-russische Expedition durchfährt die Nordostpassage zurzeit mit einer 18-Meter-Yacht, auf den Spuren Adolf Erik Nordenskjölds. Vor 130 Jahren durchfuhr der schwedische Entdecker als Erster die nördliche Seeroute. 13 Monate brauchte er in den Jahren 1878/79 für den 6000 Seemeilen langen Weg von Schweden bis nach Prowidenija in der Beringstraße.

Sein Schiff, die Vega, fror noch kurz vor dem Ziel fest. Nordenskjölds und seine Mannschaft mussten neun Monate warten, bis das Eis sie wieder freigab. Dem schwedischen Abenteurer Ola Skinnarmo mit seiner neunköpfigen Crew wird das 130 Jahre später nicht passieren. Viel zu wenig Eis ist in der Passage, als die Explorer of Sweden dem Weg Nordenskjölds folgt.

An Bord der Explorer ist auch der Russe Victor Boyarsky. Der 59-Jährige kennt die Nordostpassage noch aus der Zeit, in der die Sowjetunion aus militärischem Interesse die Häfen an der Küste ausbauen ließ und Städte wie Dikson, Tiksi, Pewek und Prowidenija eine Blüte erlebten.

In Dikson errichteten die Russen 1915 die erste Funkstation der Arktis, und von den 1950er-Jahren an entwickelte sich der Ort zum Hauptstützpunkt entlang der Passage. In Dikson liefen die Informationen über Wetter und Eisverhältnisse des westlichen Teils der Nordostpassage zusammen.

Bis zu 5000 Menschen lebten damals in dem Ort, bis zu 7,5 Millionen Tonnen Fracht wurde auf der Nordostpassage transportiert. "Es ist unglaublich traurig, Dikson jetzt zu sehen", sagt Boyarsky nach seinem Besuch. "Noch in den Achtzigern war Dikson eine Stadt voller Leben, mit Kindern, Familien, Geschäften, Restaurants, und vor allem Arbeit. Heute gibt es keinen Grund mehr, hier zu leben."

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist der kostspielige und gefährliche Schiffsverkehr mit Eisbrechern entlang der Küste fast völlig eingestellt worden. Die nördlichen Zonen und der Seeweg galten nicht mehr als Gebiete von nationalem Interesse.

Weniger als 600 Einwohner sind in Dikson geblieben. Weniger als eine Million Tonnen werden heute jährlich auf der Passage transportiert - aber nur auf dem Abschnitt bis Norilsk viel weiter westlich. Bis dorthin wurde ein Teil der Schifffahrt erhalten, weil die nördlichste Großstadt der Welt noch immer ein weltweites Zentrum der Nickelproduktion ist.

In Dikson hingegen sind nur noch lächerliche 3000 Tonnen an Fracht umgeschlagen worden. "Das einzige, was diese Städte retten kann, ist eine Wiederbelebung der Nordostpassage", sagt Boyarsky. "Ohne Schifffahrt sind sie tot."

Genau das würden einige Reeder lieber heute als morgen machen. Die nördliche Seeroute böte den kürzesten Weg von Europa nach Asien. Die Route von Rotterdam nach Tokio durch den Sueskanal ist 21.100 Kilometer lang, durch die Nordwestpassage sind es 15.900 und durch die Nordostpassage 14.100 Kilometer. Das Eis machte die nördlichen Passagen bisher uninteressant. Doch das ändert sich.

Für dieses Jahr ist zwar kein neuer Negativrekord der arktischen Eisschmelze wie der von 2007 zu erwarten, aber wieder wird die Eisausdehnung weit unter den Durchschnittswerten der vergangenen Jahrzehnte liegen.

Deswegen gehört auch Neil Hamilton zur Mannschaft der Explorer, der Direktor des Arktischen Programms des World Wide Fund for Nature (WWF). "Ich will mit eigenen Augen sehen, wie die Eisverhältnisse sind", sagt er bei einem Stopp in Murmansk Anfang August. Das Verschwinden des Meereises beschleunigt nicht nur den Klimawandel, weil mehr Hitze absorbiert und mehr Kohlendioxid freigesetzt wird.

Es hat auch tiefgehende Auswirkungen auf die Artenvielfalt. Robben, Walrosse, Eisbären und etliche andere Spezies hängen direkt vom Eis oder den tiefen Temperaturen ab. "Wir zeichnen auf, welche Tiere wir wo sehen und wollen die Walrosspopulation in der Laptewsee untersuchen", sagt Hamilton.

Was dramatische Auswirkungen auf das arktische Ökosystem hat, vereinfacht die Schifffahrt: Die Explorer of Sweden wird am Ende nur wenige Woche für die Durchsegelung gebraucht haben. Nur einmal wird es richtig spannend. Am Kap Tscheljuskin, dem nördlichsten Punkt der Passage am 78. Breitengrad, findet sich die Explorer in dichtem Drifteis wieder.

Das Schiff muss die enge Wilkizkistraße zwischen Festland und den Inseln Sewernaja Semljas passieren. Immer wieder bespricht sich Boyarsky über Funk mit dem Marinezentrum in Murmansk und dem Kapitän des nahen Eisbrechers Rossija. Mit Holzstöcken stößt die Mannschaft die Schollen zur Seite, bahnt der Explorer einen schmalen Weg. Als die Sicht schlechter wird, hält ein Crew-Mitglied auf dem Mast Wache, dirigiert das Schiff durch die Schollen. Dann zeigt sanfter Wellengang, dass die Eisfahrt vorüber ist.

Nach den Tagen des Wachens ist die erschöpfte Mannschaft glücklich, dennoch ist Neil Hamilton entsetzt: "Die riesigen, an die Eiskappe der Polregion angrenzenden Meere, die Kara-, die Laptew-, die Tschuktschensee sind alle eisfrei. Es ist schockierend, hier zu segeln", sagt er. "Wir stehen am Anfang eines unbekannten und gefährlichen Zeitalters." Wie vor 130 Jahren vor Nordenskjölds Vega liegt vor der Explorer zwar noch ein langer Weg bis in die Beringstraße. Aber auf den Eiskarten ist kein Weiß mehr zu sehen.

Den Verlauf der Expedition kann man in einem Blog unter www.skinnarmo.com verfolgen. Mit etwas Verzögerung wird er abschnittsweise vom Schwedischen ins Englische übersetzt.

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