Süddeutsche Zeitung

Nordkorea trauert um Kim Jong Il:Trost im Kollektiv

Das nordkoreanische Staatsfernsehen sendet rund um die Uhr Bilder von erschütterten Menschen, die den Tod Kim Jong Ils beweinen. Die Frage, inwieweit ihre Trauer gestellt ist, lässt sich nicht beantworten. Fest steht nur: Menschen lassen sich von Gefühlen anstecken und finden in der Masse Trost.

Werner Bartens

Sie schütteln sich, werfen sich auf die Knie, sie trommeln mit den Fäusten auf den Boden und stimmen das große Wehklagen an. Andere suchen verzweifelt Halt bei ihren Nachbarn. Das nordkoreanische Staatsfernsehen zeigte nach dem Tod des Diktators Kim Jong Il nahezu pausenlos Videos von erschütterten Menschen, die den Alleinherrscher beweinen. Vor einem riesigen Denkmal des autoritären Machthabers heulen und klagen die Menschen im Kollektiv. Ähnliche Bilder werden aus Fabriken und Behörden gezeigt, in denen Angestellte in Reih und Glied in Tränen ausbrechen und ihre Verzweiflung nicht bändigen können, so überwältigt scheinen sie zu sein.

In welchem Maße diese Gefühle inszeniert sind, ist kaum zu beurteilen. "Ein so hermetisch abgeschirmtes Regime wie Nordkorea schafft es vermutlich schnell, Trauer in die Köpfe vieler Menschen zu bekommen", sagt der Psychologe Markus Heinrichs von der Universität Freiburg, der die biologischen wie psychischen Grundlagen sozialer Interaktion erforscht. "Im Moment werden die Bewohner so stark mit Trauer und Abschied in allen Medien konfrontiert, dass eine große Grundtraurigkeit ganz normal wäre."

Psychologen kennen das Phänomen, dass sich Gruppen in ihren Gefühlen, Ängsten und Hoffnungen angleichen, auch wenn sie der ursprüngliche Auslöser emotional gar nicht derart heftig ergriffen hat. "Wer über ein Mindestmaß an Empathie verfügt, der wird vermutlich auch bei der Beerdigung eines Toten, den er kaum kannte, Trauer empfinden", sagt Heinrichs. "Wenn man Gefühle bei anderen erkennt, ist es naheliegend, sie zu teilen und mitzuschwingen."

Wie verhasst der Diktator war und wie sehr das Volk unter ihm gelitten hat, spielt dabei kaum eine Rolle. Auch nach Stalins Tod gab es Massentrauer bis hin zu Selbstmorden. "Trauerreaktionen sind rational oft nicht nachzuvollziehen", sagt Peter Henningsen, Chef der Psychosomatik an der Technischen Universität München. "Aufgabe der Therapie bei überschießenden Trauerreaktionen ist es, das eigentliche Verlusterlebnis zu erkennen." So schrecklich seine Diktatur gewesen sei, entstünde durch den Tod Kim Jong Ils womöglich ein Gefühl der Unsicherheit, und etliche Menschen trauerten der bisherigen Stabilität nach. "Ich würde daher sogar unterstellen, dass die Trauer echt ist", sagt Henningsen.

Hinzu kommt die Ansteckung im Kollektiv. Als soziale Epidemie oder Massenhysterie bezeichnen Wissenschaftler den Gleichklang der Gefühle - egal ob es sich um Angst, Trauer oder Freude handelt. 1962 kam es in Tansania bei Tausenden Menschen zu Lachanfällen, die nicht medizinisch, sondern nur als Massenhysterie erklärt werden konnten. In Tennessee nahm eine Lehrerin 1998 einen beißenden Gasgeruch in ihrer Schule wahr und klagte vor ihrer Klasse über Übelkeit. Mehr als 100 Schüler und Lehrer berichteten kurz darauf von ähnlichen Symptomen, obwohl sich der Geruch als harmlos herausstellte und nie Gas ausgeströmt war. Die Opfer hatten sich offenbar an den negativen Gefühlen angesteckt.

Mit seinen Gefühlen in der Masse aufzugehen, erlaubt den Rückfall in primitivere Entwicklungsstufen unserer Persönlichkeit und bietet Trost im Kollektiv", sagt Peter Henningsen. "Was die Bewohner Nordkoreas wirklich denken und fühlen, wissen wir ja nicht", ergänzt Psychologe Heinrichs. "Lustige Menschen sehen wir halt nicht." Vermutlich werden erst wieder welche gezeigt, wenn Diktatorensohn Kim Jong Un als neuer Machthaber bejubelt wird.

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SZ vom 21.12.2011/jkz
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