Süddeutsche Zeitung

Umwelt:Die Welt braucht Nomaden

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Lange Zeit gab es starke Vorurteile gegen Nomaden. Das ändert sich langsam - auch weil sie wissen, wie man schonend mit natürlichen Ressourcen umgeht

Von Petra Krumme

"Bis ich 13 war, bin ich barfuß gelaufen", erzählt Salim Alafenisch. Da gab es das erste Mal Sandalen. Und es gab noch mehr: Bald darauf entstand die erste Schule, eine Blechbaracke am Rande des Zeltlagers. "So wurde ich vom Kamelhirten zum Schuljungen." Es war 1962 in der Negev-Wüste in Israel. In der Schule unterrichtete kein ausgebildeter Lehrer, sondern jemand aus dem beduinischen Nachbarstamm, der lesen und schreiben konnte. Denn die Entwicklungen der Moderne traten langsam und stetig ins Leben. Die Stammesmitglieder mussten mit Behörden kommunizieren, und irgendwann war klar, dass man es, ohne lesen und schreiben zu können, schwerer haben würde.

Zuvor war Salim Alafenisch mit seinem Stamm herumgezogen, doch nun wurden seinem und den Nachbarstämmen Gebiete zugewiesen. Grenzen, die es vorher nicht gegeben hatte, konnten nur noch unter Strafe übertreten werden. Alafenisch, Jahrgang 1948, lebt heute als Schriftsteller in Heidelberg. Er verleiht der beduinischen Kultur eine Stimme und hält mit seinen Geschichten die Erinnerung wach, um eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu schlagen. "Mein Volk hat viele kulturelle Wurzeln verloren. Wir leben nicht mehr im Einklang mit der Natur, und das tut der Seele weh."

Noch zur Blütezeit des Osmanischen Reichs im 16. Jahrhundert, das bis Nordafrika und an den Persischen Golf reichte, lebte ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nomadisch, in Ostanatolien und den arabischen Provinzen sollen es 60 Prozent gewesen sein. Vor hundert Jahren wurden noch zehn Prozent der arabischen Bevölkerung zu den nomadischen Beduinen gezählt. Unter westlichen Einflüssen dehnte sich die Sesshaftigkeit immer mehr aus.

Es ist nicht bekannt, wie viele Menschen umherziehen, statt in festen Häusern zu leben.

Es könnte heute, je nach Zählweise und Quelle, noch zwischen 50 und 250 Millionen nicht sesshafter Menschen geben. "Es ist schwer, die Zahl nomadischer Menschen weltweit klar einzuschätzen, aber es gibt dennoch Einigkeit darüber, dass sowohl ihre nomadische Lebensweise als auch ihr Überleben in Gefahr ist und dass das Nomadentum selbst vor der Auslöschung steht", heißt es in der bis dato einzigen umfassenden Studie über Nomaden und Menschenrechte, die 2014 vom Juristen Jérémie Gilbert herausgebracht wurde. Auch wenn die Studie nun schon einige Jahre alt ist: Die Situation hat sich seither nicht gebessert, sondern verschlimmert.

"Nomaden leben meist in kargen, unwirtlichen Gebieten - ob nun heiß, das heißt in der Wüste, oder kalt, das heißt in der arktischen Tundra, weit weg von den städtischen Zentren", erklärt Dawn Chatty, emeritierte Professorin für Anthropologie und Zwangsmigration an der University of Oxford. "Sie haben einen 'light touch' in Bezug auf die Umwelt - es ist fast, als wären sie nicht da." Eben diese entlegenen Gebiete, die zuvor noch außerhalb des Blickfelds lagen, geraten jetzt zunehmend ins Visier für den Abbau von Rohstoffen.

"Ich hatte das Glück, als Kind neun Jahre in Syrien zu leben", erzählt Chatty, "mein Vater war Mediziner und machte ehrenamtliche Visiten in Flüchtlingscamps und beduinischen Zeltlagern." Sie fand es unverständlich, dass deren Lebensweise bei der sesshaften Bevölkerung und den staatlichen Akteuren das Image hatte, irrational oder chaotisch zu sein - was als Begründung dafür herhielt, sie zu vertreiben und sesshaft zu machen. Deshalb nahm sie sich das Thema als Doktorarbeit vor. "Einer wissenschaftlichen Arbeit liegt ja immer eine Hypothese zugrunde", sagt Chatty. "Manchmal erweist sie sich als falsch. Und manchmal bestätigt sie sich."

Die These, die sich bei ihrer Forschung bestätigte, war ein hoch rationales Verhältnis der Beduinen zur Umwelt und in Handelsfragen mit der sesshaften Bevölkerung. Das Bestreben der Nationalstaaten, umherziehende Menschen sesshaft zu machen, begründete auf einem "totalen Versagen, die Wirtschaft der umherziehenden Menschen zu verstehen", so Chatty. Dank ihres umfassenden Verständnisses der Natur behandelten Nomaden sie so, wie es nötig sei, damit Land, Pflanzen und Tiere gut gediehen und gesund blieben. "Umherziehen ist eine lebensnotwendige Strategie, wo die Ressourcen rar sind. Wenn ein Stamm nur alle vier, fünf Jahre in einem Gebiet auftaucht, kann das heißen, dass das Land nicht mehr verträgt. Die übliche Sichtweise von Regierungen und multinationalen Konzernen ist, es als 'leer' wahrzunehmen und den Menschen dort das Recht darauf abzusprechen." In Zeiten des Klimawandels käme es darauf an, von ihrem jahrhundertealten Wissen, wie man mit extremen Bedingungen umgeht, zu lernen.

Die Wissenschaftlerin war die treibende Kraft hinter einer internationalen Konferenz im Wadi Dana Nature Reserve in Jordanien im Jahr 2002: Hier wurde von politischen Entscheidungsträgern, Wissenschaftlern und Naturschützern die "Dana Declaration on Mobile Peoples and Conservation" ausgehandelt. Sie betonte erstmals den Beitrag, den nomadische Völker für Umwelt und Biodiversität leisten.

Im Jahr 2003 wurde die Dana Declaration Teil des "Durban Accord" vom World Parks Congress der Weltnaturschutzunion IUCN (International Union for Conservation of Nature), das das internationale Vorgehen zum Schutz der Umwelt vereinbarte. Eine Delegation des Dana-Treffens wurde auch auf die Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung (UNCSD) von Rio 2012 geschickt. 2022 ist eine Dana+20-Konferenz in Planung, und im Moment gibt es innerhalb der UN Bemühungen, das Jahr 2026 zum "Global Year of Pastoralists" auszurufen. Es wäre ein Riesenschritt in Bezug darauf, den Beitrag nomadischer Menschen beim Schutz und der Erhaltung der Umwelt anzuerkennen.

Wer keine Adresse und keine Geburtsurkunde hat, bekommt keinen Zugang zum Rechtssystem

Denn immer noch werden Menschen aus ihren Gebieten vertrieben, weil sie nomadisch leben. Nicht-Sesshafte machen Regierungen nervös. Sie entziehen sich der Kontrolle. "Das internationale Recht", so Jérémie Gilbert, der an der University of Roehampton in London unterrichtet, "ist ein Produkt sesshafter Bevölkerungen. Es ist somit zutiefst parteiisch." Es forciere die Sesshaftigkeit: Wer keine Adresse, keine Geburtsurkunde besitzt, hat per se keinen Zugang zum Rechtssystem. Und wird unsichtbar. Dieser "blinde Fleck" der inhärenten Ungerechtigkeit des Rechtssystems müsste eigentlich durch die allgemeinen Menschenrechte berichtigt werden - besonders die Vereinbarungen über die speziellen Rechte von Minderheiten und indigener Völker, ungehindert ihre Kultur auszuüben. Bis dato würden aber Unrechtshandlungen der Vergangenheit kaum aufgearbeitet, aktuelle Rechtsverletzungen fast nicht geahndet und so gut wie nie Entschädigung geleistet. "Wenn es schon keine Rückgabe des Landes gibt, das weggenommen wurde, so sollte es Reparationszahlungen und positive Diskriminierung für diejenigen Nomaden geben, die kolonialem Raub und Verbrechen ausgesetzt waren und sind."

Von 1795 bis 1945, schätzt der amerikanische Anthropologe John Bodley, kamen durch europäische Kolonisatoren über 50 Millionen Angehörige indigener Völker ums Leben, die Mehrheit davon war nomadisch. Auch die Herero und Nama, an denen deutsche Truppen Anfang des 20. Jahrhunderts Völkermord begingen, lebten nomadisch beziehungsweise halbnomadisch. Nicht sesshafte Menschen wurden als noch geringwertiger eingeschätzt als sesshafte, als "nicht zivilisierbar". Ziel war es, sie zu "entfernen", um den Boden "produktiv" zu nutzen. "Der erste Schritt war immer das Vertreiben oder Sesshaftmachen. Wenn die Völker dann noch der Ausbeutung des Landes im Weg waren, war der zweite Schritt die Vernichtung, physisch oder kulturell", so Gilbert. Die Auffassung, was Zivilisation bedeutet und welche Menschen als zivilisiert angesehen werden, ist bis heute nach wie vor eng mit Sesshaftigkeit und statischen Grenzen verknüpft.

"Es ginge der Erde besser, wenn es mehr Nomaden gäbe", sagt Annegret Nippa, Ethnologie-Professorin in Leipzig. "Sie richten fast keinen Schaden an, nutzen nur das, was sie brauchen, und produzieren einen Mehrwert - wie Biofleisch, Wolle und ein gesundes, vitales Ökosystem." Wenn es allerdings um Rohstoffförderung ginge, hätten die Nomaden gegen diese mächtigen Player keine Chance. Da müsse es Koalitionen geben. Und vielleicht könne ein Wandel der öffentlichen Meinung helfen.

Wandernde Schafherden sind gut für die Artenvielfalt

Ein Weg, ihnen eine Stimme und Sichtbarkeit zu verleihen, ist, ihren enormen Beitrag beim Schutz der Biodiversität, der Klimaresilienz und der kulturellen Vielfalt ländlicher Räume hervorzuheben. Gonzalo Oveido arbeitet seit 20 Jahren in lokalen Projekten beispielsweise in der Türkei, den Bergen Marokkos und in Spanien. "Während der Sommermonate, wenn es im Tiefland zu heiß ist, sind die Hirten mit ihren Herden im Hochland, im Winter wandern sie zurück." Es sind ressourcenarme Gegenden, die sich oft nicht für Landwirtschaft eignen. Und doch gehört der Mittelmeerraum zu den artenreichsten Regionen der Welt - gerade wegen der jahrtausendealten Tradition nomadischer Tierhaltung.

"Studien haben gezeigt, dass wandernde Herden Saaten verbreiten, sich die Erde anreichert und sich neue Vegetationsgemeinschaften bilden", so Oveido, "besonders gilt das für Schafe." Derartige Weiden sind kraftvolle Kohlenstoffspeicher; durch den Dung wird die Erde stabilisiert und mit Nährstoffen versorgt. Das regelmäßige Abgrasen der Weiden beugt Bränden vor, Bäume können regenerieren und Wasserressourcen werden reguliert, weil Wasserquellen dort genutzt werden, wo sie vorhanden sind. Zudem braucht diese Tierhaltung am wenigsten fossile Rohstoffe.

Die größte Herausforderung für die Zukunft ist, dass nomadische Communitys weiterhin Zugang zum Land haben sowie zu einer an sie angepassten Gesundheitsversorgung und Schulunterricht. Jonathan Davies arbeitet seit zehn Jahren als weltweiter Koordinator für Trockengebiete für die IUCN, zurzeit in Kenia. Es geht um große Landflächen, die Menschen sind arm und extrem verwundbar. 80 Prozent der Fläche Kenias sind Weiden. Wenn Investoren auf relativ kleinen Flächen intensive Landwirtschaft betreiben, führt das wegen des hohen Wasserverbrauchs zu einem ökologischen Desaster. Sind die nomadischen Communitys dann nicht mehr in der Lage, ihre Wirtschaft weiterzuführen, bestätigt es das alte Vorurteil, ihre Wirtschaftsweise sei ineffektiv. "Es ist ein allgemeines Muster", sagt Davies.

Der beduinische Schriftsteller Salim Alafenisch hält noch engen Kontakt zu seinem Stamm im Negev. Die Spielräume für eine nomadische Lebensweise sind dort nicht mehr vorhanden, und die junge und mittlere Generation versucht ihre Lebensschicksale in der Moderne zu gestalten. Der abrupte Wechsel hat eine Lücke hinterlassen. "Das Tempo der Entwicklungen macht uns zu schaffen", meint Alafenisch.

Um die Erinnerung an die vergangene Zeit zu bewahren, schlagen einige Beduinen neben ihren Steinhäusern ein Zelt auf. Die durchlässigen Zeltwände sind wie ein Symbol der Verbundenheit mit der Umwelt, den anderen Menschen und der Natur. "Auch hier in Deutschland haben manche Stadtbewohner einen Schrebergarten am Stadtrand", sagt Salim Alafenisch. "Ein Schrebergarten ist, als hätte man ein Zelt neben dem Haus."

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