Die Cocktailpartys bei den Mayers waren legendär. Neujahr feierten sie vier Tage lang, die Musik spielte die ganze Nacht, in den hell erleuchteten Räumen wurde getanzt und gesungen. Die etwa 100 Gäste waren Naturwissenschaftler von der University of Chicago mit ihren Familien, darunter Enrico Fermi (Physiknobelpreis 1938), Harold Urey (Chemienobelpreis 1934), George Gamow und Edward Teller.
Viele waren aus Europa ausgewandert, fast alle hatten beim Bau der Atombombe mitgewirkt. Der Krieg war längst vorbei, doch Mitte der 1950er-Jahre schien es ihnen, als könne man den Frieden nur durch die Entwicklung weiterer Nuklearwaffen sichern.
Mit der Zigarette in der Hand, lebhaft über Wissenschaft und Politik diskutierend, war Mittelpunkt dieser Feste die Gastgeberin selbst, Maria Goeppert Mayer. Sie war Physikerin aus Berufung, Ehefrau und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Und sie galt selbst als Kandidatin für den Nobelpreis in Physik, den sie später tatsächlich bekommen sollte: Am heutigen Dienstag vor 50 Jahren, als zweite und seither letzte Frau.
Geboren 1906 in Kattowitz in einer deutsch-evangelischen Professorenfamilie, war Maria Göppert in Göttingen aufgewachsen. Entmutigt von der Aussichtslosigkeit einer Universitätskarriere als Physikerin in Deutschland, war sie nach ihrer Promotion mit ihrem amerikanischen Ehemann 1930 in die USA ausgewandert und hatte dabei den Umlaut in ihrem Nachnamen abgelegt.
Doch eine Professur in den USA hatte sie in mehr als 20 Jahren noch nicht gefunden. Sie lehrte, forschte und veröffentlichte stets ohne Gehalt an amerikanischen Universitäten - immer dort, wo ihr Ehemann Joseph Mayer, ein begabter Chemiker, eine Professur erhielt: bis 1939 in Baltimore, dann in New York und seit 1945 in Chicago.
Dabei hatte Maria Göppert wie Robert Oppenheimer, Edward Teller und viele weitere ihrer amerikanischen männlichen Kollegen an einer der besten Universitäten der Welt theoretische Physik studiert: in Göttingen, wo Mitte der 1920er Jahre die Quantenmechanik durch Max Born, Werner Heisenberg und Pascual Jordan entstanden war. Grundlage dafür war die Mathematik David Hilberts. Er war der Nachbar der Familie Göppert und entfachte Marias Leidenschaft für das Fach.
Aus ihrem Elternhaus hatte sie schon als junges Mädchen beobachtet, wie Hilbert mit seinen Schülern durch den großen Garten spazierte, über Mathematik diskutierte und Gleichungen auf die Tafel schrieb. Mit 16 Jahren schwänzte sie eines Tages die Schule, um Hilbert zu einer populärwissenschaftlichen Vorlesung zu begleiten, wo sie zum ersten Mal etwas über statistische Mechanik und Kernphysik hörte.
1924 begann Maria Göppert in Göttingen Mathematik zu studieren, um zwei Jahre später zur Physik zu wechseln. Als sie in ihrer ersten Vorlesung bei Max Born erfuhr, "wie schön" Hilberts Arbeit die neu entstandene Quantenmechanik vorantreiben konnte, beschloss sie begeistert, theoretische Physikerin zu werden. Diese Fähigkeit der Mathematik, physikalische Probleme zu lösen, hatten Forscher wie Carl Friedrich Gauß, Bernhard Riemann, Felix Klein und David Hilbert seit dem 19. Jahrhundert verfeinert. Die Arbeit der Göttinger mathematisch-physikalischen Schule erschien Maria so "wunderbar", dass sie ihren physikalischen Stil für immer prägte.
1930 bestand sie ihre Doktorprüfung in theoretischer Physik vor vier erstklassigen Wissenschaftlern, von denen zwei bereits Nobelpreisträger waren; ein dritter sollte es später werden. Aber noch im gleichen Monat verließ sie Deutschland mit ihrem Ehemann, der Mitarbeiter eines ihrer Prüfer in Göttingen gewesen war. Goeppert Mayers Liebe zur Physik führte sie später bis ins Manhattan Project, bei dem die USA die Atombombe entwickelten. Auch hier arbeitete die Physikerin ehrenamtlich. Sie hasste die Nazis glühend. Aber anders als viele ihrer Kollegen war sie nach dem Krieg der festen Überzeugung, dass sich die Physiker niemals wieder an der Waffenentwicklung beteiligen dürften, und bekundete ihre Meinung ihr Leben lang immer wieder öffentlich.
Auf den Cocktailpartys, die sie in ihrem Haus in Chicago in den 1950er-Jahren veranstaltete, hatte sie allen Grund zu feiern: 1949 war es ihr gelungen, die Struktur der Atomkerne zu enträtseln - ein Problem, über das die Physiker seit zwei Jahrzehnten grübelten. Die sich durch die starke Kernkraft anziehenden Protonen und Neutronen bewegen sich auf festgelegten Energieschalen, ähnlich den Elektronen im Atom, auch wenn die Kräfte, die sie antreiben, von Grund auf verschieden sind.
Marias Schalenmodell konnte auf einmal erklären, warum manche Elemente wie Helium, Sauerstoff, Kalzium und Blei sehr stabile Kerne besitzen, die die Physiker "magisch" nennen. Das Schalenmodell, das sie in fünf Jahren hartnäckiger Arbeit entwickelt hatte, brachte ihr den Scherznamen "Madonna of the onion" ein.
Langer Weg bis zur bezahlten Professur
Bereits Anfang der 1950er-Jahre stand Maria Goeppert Mayer zusammen mit dem Heidelberger Physiker Hans Daniel Jensen, der zum gleichen Zeitpunkt und unabhängig von ihr ebenfalls die Kernschalentheorie entwickelt hatte, auf der Liste der Nobelpreiskandidaten - aber auf keiner Berufungsliste einer Universität. Immer noch galt der Satz des amerikanischen Nobelpreisträgers Robert Millikan: Man könne etwas Besseres mit dem Geld anfangen, als Frauen in der Physik anzustellen.
Trotz der Ablehnung, die sie erfuhr, ließ sich Maria nicht entmutigen: Ihr permanenter Förderer und wichtigster Gesprächspartner war Joseph Mayer, der fest an das physikalische Genie seiner Frau glaubte. Er war es auch, der 1949 als erster die Bedeutung ihres Schalenmodells des Atomkerns erkannte und sie dazu brachte, ihre Idee in wissenschaftlicher Form niederzuschreiben und zu veröffentlichen.
Es sollten noch zehn Jahre vergehen, bis die deutsch-amerikanische Physikerin eine bezahlte Professur erhielt. Erst 1959 wurde sie als 53-Jährige an die neu gegründete University of California in San Diego berufen. Vier Jahre später, am 4. November 1963, erhielt sie die Nachricht, dass ihr der Nobelpreis für Physik zuerkannt worden war. Er wurde ihr am 10. Dezember zusammen mit Jensen und dem bedeutenden theoretischen Physiker Eugene Wigner verliehen. Bis zu ihrem frühen Tod 1972 unterrichtete sie unermüdlich in San Diego, setzte sich für eine freie Forschung ein und ermutigte in zahlreichen Vorträgen die Frauen weltweit, die Physik nicht mehr nur den Männern zu überlassen.
Wie schwer es die Frauen in der Physik bis heute haben, ist nicht zu übersehen: Nur zwei Wissenschaftlerinnen - Marie Curie 1903 und Maria Goeppert Mayer 1963 - haben den Nobelpreis in der Königsdisziplin der Naturwissenschaften bekommen, eine weibliche Beteiligung von gerade einmal einem Prozent. Auch 50 Jahre nach der letzten Physiknobelpreisträgerin wird am 10. Dezember in Stockholm die höchste Auszeichnung, von der viele Forscher träumen, erneut an zwei Männer verliehen.
Von der Autorin stammt das Buch über Goeppert: "Der letzte Physiknobelpreis für eine Frau?", Termessos Verlag, 19,95 Euro