Bekanntgabe in Stockholm:Medizin-Nobelpreis für Sinnesforscher

Der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin geht an David Julius und Ardem Patapoutian für die Entdeckung von Temperatur- und Tastsensoren. Ihre Arbeit trägt zum Verständnis bei, wie der Mensch seine Umwelt wahrnimmt.

Der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin geht in diesem Jahr an den amerikanischen Physiologen David Julius und den libanesisch-amerikanischen Molekularbiologen Ardem Patapoutian für ihre Entdeckung von Temperatur- und Tastsensoren in der Haut. Ihre Arbeit legte die molekularen Grundlagen für das Verständnis davon, wie der Mensch die Umwelt wahrnimmt und interpretiert.

Die Entscheidung gab die Nobelversammlung des Karolinska-Instituts am Montag bekannt. Der Preis ist mit zehn Millionen schwedischen Kronen dotiert, das entspricht knapp einer Million Euro.

Julius, Jahrgang 1955, nutzte den Scharfstoff Capsaicin, der in Chili-Schoten vorkommt, um molekulare Sensoren an den Nervenenden der Haut zu identifizieren, die zum Beispiel auf Hitze reagieren. Er forscht und lehrt an der University of California, San Francisco. Ardem Patapoutian, geboren 1967 in Libanon, verwendete druckempfindliche Zellen, um jene molekularen Sensoren aufzuspüren, die auf mechanische Reize der Haut sowie der inneren Organe reagieren. Patapoutian ist Professor am kalifornischen Scripps Research Institute in La Jolla. Die Nobelversammlung würdigte die Arbeit der beiden Wissenschaftler als das "fehlende Verbindungsstück" für das Verständnis der Interaktion zwischen menschlichen Sinnen und der Umgebung.

Bis zu den Entdeckungen war vollkommen unklar, wie Temperatur- oder Tastreize so in elektrische Impulse verwandelt werden, dass das menschliche Nervensystem sie verarbeiten kann. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre begann Julius zu untersuchen, welche molekularen Abläufe dafür sorgen, dass man ein brennendes Gefühl empfindet, wenn man Chilischoten isst oder sogar nur mit ihnen hantiert. Damals war der Scharfstoff Capsaicin bereits bekannt und auch seine anregende Wirkung auf Nervenzellen. Doch was genau vor sich geht, war noch ungeklärt.

Sensoren, die Gehen und Stehen ermöglichen

Julius und Kollegen fahndeten zunächst nach Genen, die in sensorischen Nervenzellen besonders aktiv sind. Sie vermuteten, dass darunter auch ein genetischer Bauplan für einen Rezeptor sein würde, der auf die Substanz Capsaicin reagiert. Sie schleusten diese Gene nacheinander in Zellen ein, die normalerweise nicht auf den Scharfstoff reagieren. Schließlich fanden sie das Gen für den Capsaicin-Rezeptor, der später den Namen TRPV1 bekam. Julius untersuchte dieses Protein weiter und entdeckte, dass der Rezeptor auch Nervensignale auslöst, wenn er Hitze ausgesetzt wird. Die Entdeckung ermögliche die Entwicklung neuer Schmerztherapien, heißt es in einer Mitteilung der Nobelversammlung.

In der Folge fand Julius auch noch den Kälterezeptor TRPM8, auf den unabhängig von ihm auch Ardem Patapoutian gestoßen war. Unklar blieb indes, mit welchen Rezeptoren der Körper mechanische Reize aufnimmt. Um dieses Sinnesmolekül zu finden, nutzte Patapoutian zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen Zellen, die auf Druck mit einem elektrischen Signal reagieren. Sie gingen davon aus, dass der gesuchte Rezeptor in der Lage sein müsse, elektrische Impulse an Nerven zu senden. Das passiert in der Regel, indem durch einen Reiz ein molekularer Kanal in einer Zellwand geöffnet wird, durch den dann elektrische geladene Ionen ein oder aus strömen können. So wird ein Nervenimpuls gestartet.

In den Genen der drucksensiblen Zellen fahndete Patapoutian nach solchen, die vermutlich den Bauplan für solche Kanalproteine enthalten. Einzeln schaltete er diese Kandidaten nacheinander aus und identifizierte so jenes Gen, dass für Reaktion auf Druck verantwortlich ist. Der entsprechende Sensor bekam den Namen Piezo1 und in der Folge wurde mit Piezo2 ein weiterer, druckempfindlicher Ionenkanal gefunden.

Die Drucksensoren sind aber nicht nur zentral für das Tastempfinden, sondern auch für die Verarbeitung von sogenannten propriozeptiven Reizen. So weiß der Körper jederzeit, in welchen Positionen sich alle Gliedmaßen befinden, ob der Kopf gerade oder schief steht, mit welcher Geschwindigkeit sich ein Arm bewegt und ob der Finger wohl die Nase treffen wird, um darin zu bohren. Ohne diese Form der Eigenwahrnehmung wäre Gehen und Stehen unmöglich.

mRNA-Forscher gehen bislang leer aus

Auch wenn die Auszeichnung der beiden wohlverdient ist, kam die Entscheidung der Nobelversammlung zu diesem Zeitpunkt überraschend. Im Vorfeld war viel darüber spekuliert worden, dass der Preis in diesem Jahr für die Entwicklung neuer mRNA-Impfstoffe gegen das Coronavirus vergeben werden könnte. In Betracht wären hierfür unter vielen etwa der Immunologe Drew Weissman oder die für Biontech tätige Biochemikerin Katalin Karikó gekommen.

Ein Sprecher der Versammlung begründete die Entscheidung gegen Pandemie-Impfstoffe nicht, sondern erklärte lediglich, wie das Abstimmungsverfahren funktioniert. Die Versammlung wählt aus einer Reihe von Vorschlägen aus, und in diesem Jahr sei die Wahl auf die Entdeckung dieser wichtigen Ionen-Kanäle gefallen. Es besteht aber noch die Möglichkeit, dass Impfstoff-Forscher am Mittwoch mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet werden - oder in den kommenden Jahren.

Die Bekanntgabe der Medizin-Nobelpreisträger stellt traditionell den Start des Nobelpreisreigens dar. Am Dienstag und Mittwoch folgen die Preise in den Kategorien Physik und Chemie. Am Donnerstag ist der Literaturnobelpreis dran, am Freitag der Friedensnobelpreis, der als einzige der Auszeichnungen in Oslo verliehen wird.

Vergeben werden die Preise zusammen am Todestag des Stifters Alfred Nobel, dem 10. Dezember. Dabei erhalten die Ausgewählten auch ihre prestigeträchtigen Nobelmedaillen und Diplome. Die Nobelstiftung teilte bereits mit, dass zumindest bei der Preisverleihung in Stockholm wie im Vorjahr keine Preisträger in der schwedischen Hauptstadt vor Ort sein werden. Sie werden stattdessen in ihren Heimatländern geehrt. Grund dafür sind nach Angaben der Nobelstiftung Unsicherheiten über den weiteren Verlauf der Corona-Pandemie. Einzig das norwegische Nobelkomitee ließ sich noch die Möglichkeit offen, Preisträger für die Verleihung nach Oslo zu holen.

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