Nobelpreis für Physik:Jäger des verborgenen Teilchens

Der Brite Peter Higgs und der Belgier François Englert erhalten den diesjährigen Physik-Nobelpreis. Sie hatten die Existenz eines später als Higgs-Boson bezeichneten Teilchens vorhergesagt - bevor es im vergangenen Jahr am Cern endlich nachgewiesen wurde. Dieser lange gesuchte Baustein im "Standardmodell" der Physiker ist elementar für das Verständnis, wie Teilchen ihre Masse erhalten.

Der Nobelpreis für Physik geht in diesem Jahr an den Briten Peter W. Higgs und den Belgier François Englert. Das hat das Nobelpreiskomitee in Stockholm bekanntgegeben.

Die Forscher werden ausgezeichnet für die "theoretische Entdeckung eines Mechanismus, der zu einem besseren Verständnis des Ursprungs der Masse subatomarer Teilchen führt, und der kürzlich bestätigt wurde durch die Entdeckungen des vorhergesagten Elementarteilchens durch die Atlas- und CMS-Experimente im Large Hadron Collider am Cern".

Die beiden Wissenschaftler hätten mit ihrer Vorhersage der Existenz des Higgs-Bosons maßgeblich zum Verständnis der Teilchenphysik beigetragen.

Nach Higgs ist das wegen seiner Bedeutung für die Entstehung des Universums auch "Gottesteilchen" genannte subatomare Partikel bezeichnet, das im vergangenen Jahr am europäischen Teilchenbeschleuniger Cern nachgewiesen wurde.

Peter Higgs und François Englert beschrieben gleichzeitig und unabhängig voneinander die Notwendigkeit der Existenz des Bosons.

Die Bekanntgabe durch Staffan Normark, Sekretär der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften, fand mit einer deutlichen Verspätung statt. Üblicherweise werden zuerst die Preisträger kontaktiert, damit sie nicht erst durch die Presse informiert werden. Higgs aber konnte das Nobelpreiskomitee zunächst nicht erreichen. Nur kurze Zeit nach der zweimal verschobenen Bekanntgabe war das Band seines Anrufbeantworters in seiner Wohnung in Edinburgh vollgelaufen.

"Das ist ein Triumph, nicht nur für Higgs und Englert, sondern auch für die Teilchenphysik", sagte Gunnar Ingelman von der Königlich Schwedischen Wissenschaftsakademie. "Der Preis wird in diesem Jahr für etwas sehr Kleines verliehen, das den ganzen Unterschied macht", sagte Normark.

Higgs zeigte sich von der Entscheidung der Jury "überwältigt". "Ich hoffe, dass diese Anerkennung für die Grundlagenforschung das Bewusstsein für den Wert des Forschens ins Blaue hinein schärft", heißt es in dem Statement des Preisträgers.

Am Europäischen Kernforschungszentrum Cern löste die Entscheidung des Nobelkomitees Freude und Stolz aus. "Ich bin begeistert, dass der diesjährige Nobelpreis an die Teilchenphysik geht", erklärte Cern-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer in Genf.

Der Preis ist mit acht Millionen schwedischen Kronen (etwa 920.000 Euro) dotiert. Verliehen wird der Nobelpreis am Todestag Alfred Nobels, dem 10. Dezember.

Nobelpreis für Physik: Eine Grafik des Cern illustriert die Vorgänge bei einer Kollision von Protonen iim CMS-Experiment. Mit solchen Experimenten konnten die Forscher die Existenz der Higgs-Bosonen - fast - eindeutig belegen.

Eine Grafik des Cern illustriert die Vorgänge bei einer Kollision von Protonen iim CMS-Experiment. Mit solchen Experimenten konnten die Forscher die Existenz der Higgs-Bosonen - fast - eindeutig belegen.

(Foto: AFP)

Lange Suche nach dem fehlenden Teilchen

Peter Higgs und François Englert gehörten zu den Physikern, die sich 1964 mit der Frage auseinandergesetzt hatten, woher Partikel eigentlich ihre Masse haben. Diese Frage konnte mit dem Standardmodell der Physik, das versucht, alle Bausteine der Materie in ein Gesamtbild zu fügen, nicht beantwortet werden. Es fehlte noch etwas, ohne dass die Vorstellungen insgesamt einfach nicht vollständig waren: ein wichtiges Mitglied im "Teilchen-Zoo" der Physiker.

Higgs und Englert (gemeinsam mit dem verstorbenen amerikanisch-belgischen Physiker Robert Brout) veröffentlichten fast zeitgleich im Fachjournal Physical Review Letters ähnliche Vorschläge, um das Problem zu lösen. Ein weiterer Artikel der britisch-amerikanischen Forschergruppe T. W. B. Kibble, Carl R. Hagen und Gerald Guralnik unterstützte kurz darauf ihre Annahmen.

Higgs und Englert postulierten eine Art Kraftfeld, das überall im Universum existiere, mit Teilchen in Wechselwirkung trete und ihnen dadurch Masse verleihe. Nur auf diese Weise könnten Partikeln wie etwa Elektronen, Protonen und andere Bestandteile des Atomkerns verschiedene Massen haben.

Der britische Physiker David Miller hatte diesen Vorgang in einer bekannten Analogie beschrieben: Wenn ein Prominenter auf einer Cocktail-Party auftaucht, sammelt sich schnell eine Traube von Gästen um ihn. Der Promi kann sich dann nicht mehr so schnell bewegen. Es ist, als hätten die Gäste ihm eine Masse verliehen, die große Energie notwendig macht, um ihn zu beschleunigen.

Damit dieser Mechanismus funktionieren könnte, musste Higgs noch die Existenz eines Teilchen unterstellen, das entsteht, wenn das Higgs-Feld sich an bestimmten Stellen verdichtet: das Higgs-Boson. Dabei sollte es sich um ein Teilchen handeln, das selbst kein Materiebaustein ist.

Die Suche nach diesem Teilchen war lange erfolglos. Weder die Experimente 1984 am Hamburger Beschleuniger "Doris", noch die Versuche mit dem Large Electron-Positron Collider (LEP) in Genf 2000 führten zum Ziel. Und auch mit dem Tevatron bei Chicago konnte das Higgs-Boson 2011 nicht aufgespürt werden. Erst im Juli 2012 hatten die Physiker am Cern bei Genf mit dem LEP-Nachfolger Large Hadron Collider (LHC) das Higgs-Boson gefunden - waren sich allerdings zunächst ihrer Sache noch nicht ganz sicher.

Etliche Milliarden Mal hatten die Wissenschaftler Protonen mit einer solchen Geschwindigkeit aufeinanderprallen lassen, dass jeder Zusammenstoß wie ein Miniatur-Urknall war. Und bei etwa 400 dieser Kollisionen waren die Forscher auf Hinweise gestoßen, dass vorübergehend ein Higgs-Teilchen erzeugt worden war, ein Teilchen mit einer Masse von 125 Gigaelektronenvolt. Im März 2013 dann deutete die Auswertung der Daten darauf hin, dass es sich tatsächlich um das Higgs-Boson handelte.

Die Zeitschrift Science feierte die Entdeckung als wissenschaftlichen Durchbruch des Jahres 2012.

Ungeliebtes "Gottesteilchen"

In den Medien und populärwissenschaftlichen Arbeiten wird das Higgs-Boson häufig als "Gottesteilchen" bezeichnet. Denn "wenn es diesen Higgs-Mechanismus nicht gäbe", sagte Joseph Incandela, Wissenschaftler am Cern in Genf nach den Versuchen mit dem LHC, "hätten wir keine Substanz, wir würden uns einfach auflösen."

Die Bezeichnung geht auf den Physiker und Nobelpreisträgers Leon Lederman zurück, der das Teilchen in einem Buchtitel als "goddamn particle" bezeichnen wollte. Das Werk erschien jedoch unter dem Titel "The God Particle".

Viele Physiker, auch Peter Higgs selbst, sind mit dem populären Namen nicht glücklich. Der Physiker begründete das auf die Frage der BBC damit, dass er erstens Atheist sei. "Zweitens ist mir bewusst, dass der Name als Witz gemeint war - und zwar kein besonders guter, wie ich finde."

Peter Ware Higgs, der 1929 in Elswick bei Newcastle geboren wurde, studierte am King's College London und arbeitete am University College London, am Imperial College London und an der Universität von Edinburgh. 1996 wurde er emeritiert.

Higgs engagierte sich auch politisch. Er unterstützte die Anti-Atomwaffen-Bewegung, stoppte sein Engagement aber, als diese sich auch gegen die zivile Nutzung der Atomkraft richtete. Greenpeace unterstützte er solange, bis sich die Organisation gegen den Einsatz der Gentechnik positionierte. 2004 blieb er der Preisverleihung für den Wolf-Preis in Jerusalem fern - eine der prestigeträchtigsten Auszeichnungen in der Physik. Er werde nicht nach Israel reisen, aus Protest gegen die Palästinenser-Politik der Regierung, begründete er sein Fernbleiben.

François Englert kam 1932 im belgischen Etterbeek zur Welt. Er studierte und promovierte an der Universität Brüssel. Später forschte er an der Cornell University in den USA und erneut in Brüssel. Auch Enlgert ist bereits emeritiert, seit 1998.

Der Physik-Nobelpreis wird seit 1901 vergeben. Die erste Auszeichnung erhielt der deutsche Physiker Wilhelm Conrad Röntgen für die Entdeckung der "X-Strahlen", der später nach ihm benannten Röntgenstrahlen.

Im vergangenen Jahr war der Preis an Serge Haroche aus Frankreich und David Wineland aus den USA gegangen. Ausgezeichnet wurden sie für die Erkenntnis über "Fallen", mit denen sich geladene Teilchen (Ionen) und Licht (Photonen) einfangen lassen. Sie schufen damit Grundlagen für genauere Uhren und grundsätzlich neue Computer.

Ein Deutscher hatte zuletzt 2007 den Physiknobelpreis erhalten: Peter Grünberg teilte sich den Preis mit Albert Fert (Frankreich) für die Entdeckung des "Riesenmagnetowiderstands", durch den sich die Speicherkapazität von Computer-Festplatten drastisch erhöhen ließ.

Am Mittwoch werden die Preisträger für den Bereich Chemie veröffentlicht, am Donnerstag folgt der Literaturnobelpreis. Am Freitag erfährt die Öffentlichkeit, wer der diesjährige Träger des Friedensnobelpreises ist.

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