Süddeutsche Zeitung

Nobelpreis für Physik:Bauern auf dem Schachbrett des Universums

Lesezeit: 2 Min.

Von Patrick Illinger

Sie fliegen durch den gesamten Erdball, ohne mit einem einzigen Atom zusammenzustoßen. Magma, Ozeane und auch den menschlichen Körper durchqueren sie mühelos. Und sie sind unvorstellbar viele: Auf jeden Quadratzentimeter Erdboden wie auch auf jeden Quadratzentimeter unserer Haut prasseln sekündlich Milliarden dieser Teilchen. Doch sie prallen eben nicht ab, werden nicht gebremst, sondern durchdringen Materie, ob Knochen, Meerwasser oder Blei, als wäre all das kein Hindernis - oder fast keines.

Neutrinos werden oft als "Geisterteilchen" umschrieben, weil sie so selten in Erscheinung treten. Es dauerte einst Jahrzehnte, bis sie nach der theoretischen Vorhersage ihrer Existenz entdeckt wurden. Andererseits ist die Metapher der Geisterteilchen irreführend: Neutrinos sind neben den Lichtquanten (Photonen) und Elektronen so etwas wie die Bauern auf dem quantenphysikalischen Schachbrett des Universums. Das All ist voll von ihnen.

Seit einigen Jahrzehnten ist bekannt, dass es diese Neutrinos in drei Ausführungen gibt. Ganz selten prallt eben doch eines dieser Teilchen auf ein Materie-Atom und löst eine messbare Reaktion aus. Passiert dies in einem der auf Neutrinos spezialisierten, meist unterirdisch von der übrigen kosmischen Strahlung abgeschirmten Teilchendetektoren, können Physiker die Variante des aufgefangenen Neutrinos ermitteln und auch dessen Energie. Die beiden in diesem Jahr mit dem Nobelpreis gewürdigten Physiker haben solche aus dem All stammenden oder von der Sonne ausgestrahlten Neutrinos genauer untersucht - und eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Neutrinos können sich auf ihren Reisen durch das Weltall oder die Erdkugel in die jeweils anderen beiden Neutrino-Varianten verwandeln.

1998 berichtete Takaaki Kajita (59), der mit seiner Arbeitsgruppe beim Super-Kamiokande-Experiment in Japan auf Neutrinos lauerte, von solchen Teilchen-Metamorphosen. Das Team untersuchte eine Neutrino-Art, die Myon-Neutrinos, welche entstehen, wenn elektrisch geladene kosmische Strahlung auf die Erdatmosphäre prallt. Kajita stellte fest, dass diese Neutrinos unterschiedlich häufig auftraten, je nachdem, ob sie von oben, also aus dem Luftraum über seinem unterirdischen Detektor kamen, oder von unten, von der anderen Seite der Erdkugel. Ein Teil dieser Myon-Neutrinos war verschwunden. Die einzige Erklärung dafür lautete: Die von weiter entfernt kommenden Partikel hatten sich auf dem Weg in einen anderen Neutrino-Typ umgewandelt, den der Detektor nicht messen konnte.

Etwa zur gleichen Zeit erforschte der zweite am Dienstag gewürdigte Physik-Nobelpreisträger, der Kanadier Arthur McDonald (72), Neutrinos auf der anderen Seite des Pazifik. Im Jahr 2001 entdeckte er mit seiner Arbeitsgruppe am kanadischen Sudbury-Neutrino-Observatorium, dass aus der Kernfusion der Sonne stammende Elektronen-Neutrinos ähnliche Verwandlungen durchmachen.

Für die Physiker ist es, als würde man am Gemüsemarkt einen Sack Äpfel kaufen, von denen sich auf dem Heimweg einige in Birnen verwandeln. Einen solchen Identitätenwechsel in der Teilchenwelt erklärt die Quantenmechanik: Demnach bestehen Neutrinos sozusagen stets aus einem Teil Apfel, einem Teil Birne und einer Bananenkomponente. Erst beim Messprozess, wenn eines der Neutrinos im Teilchendetektor eine der seltenen Reaktionen auslöst, entscheidet sich das Teilchen für eine seiner Daseinsformen - und ein kleiner Lichtblitz 1000 Meter unter der Erde ist Zeugnis seiner Existenz. Physiker haben diesen Mechanismus seither in weiteren Experimenten genau vermessen.

Dies alles, so verlangt es das Formelwerk der Quantenmechanik, kann nur funktionieren, wenn mindestens zwei der Neutrino-Varianten eine Masse haben. Sie muss winzig sein, denn direkt messen konnten sie die Physiker bisher nicht. Aber weil es so viele Neutrinos im Kosmos gibt, könnte sie erheblich zur Schwerkraft im Universum beitragen.

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