Bescheidenheit ist nicht jedem Nobel-Laureaten zu eigen, doch der Emeritus George P. Smith von der University of Missouri-Columbia gehört zu den Demütigen. "So ziemlich jeder Nobelpreisträger weiß, dass das, wofür er den Preis bekommt, auf Vorgängern aufbaut", sagte Smith am Mittwoch. Selten allerdings war der Rückgriff auf große Vorgänger so klar wie in diesem Jahr.
Den Nobelpreis für Chemie 2018 erhält zu einer Hälfte die amerikanische Biochemikerin Frances Arnold vom Caltech im kalifornischen Pasadena, die zweite Hälfte des Preises teilen sich Smith und der Brite Sir Gregory Winter von der University of Cambridge. Laut Nobelpreiskomitee in Stockholm erhalten die drei Forscher den Preis dafür, "die Kraft der Evolution nutzbar gemacht" zu haben. Demnach baut ihr Werk auf niemand Geringerem auf als auf Charles Darwin, dem Begründer der Evolutionstheorie - dem Forscher, der erstmals beschrieb, wie die atemberaubende Vielfalt des Lebens entsteht.
Evolution erklärt, wie Fortpflanzung, Variation und die natürliche Auswahl aus zuvor eng verwandten, äußerlich gleichen Lebewesen neue Arten entstehen lassen. Mehr als eine Milliarde verschiedene Tiere und Pflanzen sind in den letzten 600 Millionen Jahren entstanden, schätzen Wissenschaftler, zusammen mit Bakterien und den nicht als Lebewesen geltenden Viren existieren heute vermutlich 1000 Milliarden Spezies auf der Erde.
Evolution findet statt, wenn Proteine sich verändern - dieses Prinzip haben die Forscher gekapert
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch begannen Wissenschaftler, die molekularen Mechanismen der Evolution zu verstehen. So konnten Genetiker nach der Entdeckung der Erbsubstanz DNA und ihrer Struktur im Jahr 1953 erkennen, dass die natürliche Variation von Eigenschaften in Lebewesen durch Mutationen entsteht, durch zufällige Veränderungen im Erbgut. Zudem wurde deutlich, dass nicht jede Mutation eine neue Eigenschaft hervorruft. Mutationen wirken nur, wenn sie ein Gen oder seine Kontrolleinheit betreffen. Folgen haben sie, wenn das Produkt des mutierten Gens - fast immer ein Eiweiß - danach anders funktioniert als vorher. Mit anderen Worten: Evolution findet statt, wenn Proteine sich verändern.
Es ist dieses Prinzip, das die drei Nobelpreisträger für die Forschung gekapert und massiv beschleunigt haben. Was gar nicht so kompliziert klingt, die Natur macht es ja seit Jahrmillionen vor. Doch wer versucht, Proteine mit ganz bestimmten Eigenschaften zu entwickeln, steht vor zwei Problemen: Anders als Gene, die sich im Labor nach Wunsch zusammensetzen lassen, können Wunscheiweiße aufgrund ihrer komplexen Struktur nicht einfach künstlich geschaffen werden. Das zweite Problem ist, dass man dank Genetik zwar viele Gene von Eiweißen kennt. Nur in seltenen Fällen ist jedoch klar, welche Veränderung in den Genen welche Wirkung hat.
Der heute 62-jährigen Frances Arnold gelang es vor 26 Jahren, diese Probleme zu lösen und erstmalig eine gerichtete, also gesteuerte Evolution von sogenannten Enzymen im Labor darzustellen. Enzyme sind Eiweiße, die biochemische Reaktionen in lebenden Organismen beschleunigen und steuern. Sie sind, wie Arnold es dem Wissenschaftsmagazin PloS beschrieb, die Macher des Lebens. "Wenn die Biologie dich wegen ihrer Eigenschaft fasziniert, Dinge erschaffen zu können, dann geht es ausschließlich um Enzyme."
Enzyme lassen sich auch außerhalb des Körpers nutzen, zum Beispiel in Waschmitteln oder zur Herstellung von Medikamenten und Biokraftstoffen. Sie gelten als umweltfreundlich, weil sie anorganische, oft problematisch zu entsorgende Katalysatoren ersetzen. Für eine technische Anwendung müssen Enzyme jedoch zielgenau entwickelt werden. Arnold begann, Vielfalt zu erschaffen, indem sie zufällige Mutationen in den Genen erzeugte. Die entstehenden Enzyme wurden dann auf ihre Reaktionsfähigkeit getestet und aussortiert, bevor sie erneut mutiert und getestet wurden. Auf diese Weise lassen sich bis heute ganze Bibliotheken von hochspezifischen Enzymen herstellen - und das binnen kurzer Zeit.
George P. Smith kehrte das Prinzip der Evolution in seinen Versuchen dagegen um: Er wollte eine Technik entwickeln, mit der sich das zugehörige, aber noch unbekannte Gen eines angepassten Eiweißes finden ließ. Dafür baute er eine Vielzahl möglicher Gene in sogenannte Bakteriophagen ein. So heißen simpel gestrickte Viren, die Bakterien infizieren und sich in ihnen vervielfältigen. Sie vervielfältigen, wie Smith herausfand, auch hinzugefügte Gene und präsentieren das hergestellte Eiweiß auf ihrer Oberfläche - daher rührt der Name "phage display" für die Technik.
Der Phage mit dem korrekten Eiweiß und Gen lässt sich anschließend mithilfe von sogenannten Antikörpern aus dem Phagengewimmel herausfischen. Säugetiere stellen von sich aus eine Armada dieser hochspezifischen Abwehrmoleküle her. Sie sind ein Grundpfeiler der Immunität gegen Bakterien und Viren, sie erkennen und binden fremde Eiweiße sehr spezifisch. In Labors nutzt man sie, um Eiweiße auszusortieren. Sie stellen den Sensor dar, der das am besten angepasste Eiweiß mitsamt Gen in einer Phagensuppe findet.
Die Technik Winters hat das Medikament Adalimumab hervorgebracht
Antikörper sind allerdings auch selbst Eiweiße. Ihre Ypsilon-förmige Grundstruktur ist zwar immer gleich, sie besteht aus einem Stamm und zwei Erkennungsarmen. Doch die Details der erkennenden Arme sind hochvariabel, manche Antikörper binden daher gut an einen Krankheitserreger oder eine kranke Zelle, andere schlechter. Lassen sich Phagendisplays also nutzen, Antikörper selbst zu fischen - und zwar solche, die gut an ein Krebsprotein oder Entzündungseiweiß binden? Es ist diese Idee, die Gregory Winter ein Viertel des Chemie-Nobelpreises beschert hat.
Winter gelang es mithilfe von Phagen-Displays, den ersten hochspezifischen menschlichen Antikörper gegen das Entzündungseiweiß TNF-alpha zu entwickeln. Winter baute die Gene verschiedener Erkennungsarme in Phagen ein und ließ sie auf das Ziel TNF-alpha los. Die Phagen mit der besten Bindung wurden ausgewählt, dann genetisch verändert, erneut auf das Ziel losgelassen und wiederum selektiert. Nach drei Runden war der beste Antikörper gefunden. 2002 kam Adalimumab auf den Markt, das erste Medikament seiner Art gegen rheumatoide Arthritis.
Fragt man Winter heute nach dem bewegendsten Ereignis seiner Karriere, erzählt er jedoch von einem anderen Antikörper, den er mithilfe des Phagen-Displays später gegen Krebs entwickelte. Eine hoffnungslos erkrankte Patientin sollte ihn in einem ersten Experiment bekommen. Winter hatte, wie er auf Youtube erzählt, "keine Ahnung", ob der Antikörper helfen würde. Die Frau sagte ihm, ein paar Monate würden ihr reichen - ihr Mann liege im Sterben, sie wolle bei ihm sein. Und so kam es. "Die Tumore waren wie weggefegt", erzählt Winter. "Es war das erste Mal, dass mir klar wurde, dass ich als Wissenschaftler einen Unterschied machen kann."