Neurologie:Aids im Kopf

Eine HIV-Infektion schwächt nicht nur das Immunsystem - sie kann auch zu Denkstörungen und Lähmungen führen. Doch viele Ärzte nehmen Neuro-Aids nicht ernst genug.

Peter Hergersberg

Manchmal bringt eine Kaffeetasse Ingrid S. zur Verzweiflung: Obwohl sie sicher ist, dass sie die Tasse auf den Tisch gestellt hat, ist sie doch auf dem Boden zersprungen. In solchen Momenten merkt sie, dass in ihrem Kopf etwas nicht stimmt. Und dass die HI-Viren nicht nur ihr Immunsystem, sondern auch ihr Gehirn schwächen. Unsicher und hilflos fühlt sie sich dann.

Modell des Aids-Virus

Wird die Konzentration der Medikamente im Blut zu hoch, ziehen sich HI-Viren - hier ein Modell - ins Gehirn zurück.

(Foto: Foto: dpa)

Immer häufiger hat sie solche Erlebnisse auch während der Arbeit. Mehrere Kollegen leitet sie seit Jahren an, und sie hat das immer selbstbewusst und mit Organisationstalent gemacht: "In letzter Zeit habe ich öfter vergessen, was ich gerade gemacht habe", sagt sie. "Manchmal habe ich den Eindruck, ich drifte einfach weg."

Überhaupt fühlt sie sich ihrem Beruf nicht mehr gewachsen - und weil ihre Kollegen das nicht merken und von ihrer HIV-Infektion nichts wissen sollen, darf ihr richtiger Name auch nicht in der Zeitung stehen. Sie hofft, dass sie bald berentet wird.

Gehirn als Virenreservoir

Mindestens jeder fünfte HIV-Positive leidet darunter, dass er sich nicht mehr konzentrieren kann, dass sein Gedächtnis versagt oder dass ihm feine Bewegungen misslingen - die Symptome von Neuro-Aids. Oft sind Betroffene gezwungen, ihren Beruf aufzugeben. "Unter Menschen, die seit zehn Jahren mit der HIV-Infektion leben, ist die HIV-assoziierte Demenz der wichtigste Grund für Frühverrentungen", sagt Gabriele Arendt anlässlich der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, die bis Samstag in Wiesbaden stattfindet.

Die Neurologin der Universität Düsseldorf erforscht innerhalb des Kompetenznetzes HIV/Aids, wie Viren den Verstand eintrüben. Viele Ärzte nehmen noch nicht ernst genug, was die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte schon als Grund für ein vorzeitiges Ende der Berufslaufbahn anerkennt. "Mein Arzt hat lange Zeit abgewiegelt, als ich ihm von meinen Problemen berichtete", sagt Ingrid S.

Die meisten Ärzte richten die Therapie danach aus, ob sie die Zahl der CD4-Zellen, eines bestimmten Typs weißer Blutkörperchen, hoch und die Zahl der Viren im Blut niedrig halten können. Dafür gibt es seit 1996 wirksame Therapien, die vielen Menschen mit HIV vermutlich über Jahre ein relativ gesundes Leben ermöglichen werden.

Dass die Viren das Gehirn lahm legen können, ist für die meisten Ärzte seither ein Problem der Vergangenheit: Bevor es die wirksamen Mittel gab, verfielen tatsächlich viele Aids-Kranke der Demenz. Damals mussten sich Ärzte vor allem bemühen, das Leben der Patienten zu retten. Das Gehirn war für sie nicht der Ort, an dem der entscheidende Kampf mit dem Virus stattfand.

Heute lenken Nervenschäden in Armen und Beinen die Aufmerksamkeit vom Gehirn ab. Denn viele Patienten klagen über taube oder schmerzende Glieder, manche können ihre Beine nicht mehr richtig gebrauchen. Daran ist nicht nur das Virus schuld, auch einige Medikamente greifen Nervenbahnen an. "Wer Schmerzen hat, achtet oft nicht darauf, dass er nicht mehr klar denken kann", sagt Harris Gelbard, der Neuro-Aids an der Universität Rochester erforscht.

Höhere Viruslast

Auch Gelbard arbeitet daran, dass die Viren im Kopf mehr Beachtung finden. "Ich bin sicher, die Zahl der dementen Patienten wird in den nächsten Jahren steigen", sagt er. Dazu könnte auch der Erfolg der Medikamente beitragen. Da Menschen mit HIV dank dieser Arzneien immer länger leben, haben die Viren mehr Zeit, im Gehirn Schaden anzurichten.

So haben Wissenschaftler der Universität Hawaii festgestellt, dass gut ein Viertel der über 50-jährigen HIV-Positiven an einer Demenz leidet, weil HI-Viren in ihrem Kopf wüten. Unter den Jüngeren waren es nicht mal 14 Prozent - die Demenz, die Probanden aus Altersgründen bekamen, nicht mitgerechnet.

Außerdem wirken viele Medikamente im Kopf schlecht oder gar nicht. "Die Viruslast ist im Gehirn manchmal deutlich höher als im Blut", sagt Gabriele Arendt. Das war auch bei Ingrid S. so - wie ihr Arzt feststellte, nachdem sie ihn endlich dazu gebracht hatte, das Nervenwasser in ihrem Kopf zu untersuchen.

Unterschlupf im Gehirn

Vermutlich haben die Viren auch in ihrem Gehirn darauf gewartet, dass die Wirkung der Medikamente im Blut nachlässt. Im Blut sind bei einer erfolgreichen Therapie nämlich keine Viren mehr nachzuweisen. "Die Viren nutzen das Gehirn solange als Reservoir", sagt Arendt. Von dort aus breiten sie sich erneut im Körper aus, sobald die Zeit dafür gekommen ist.

Bei ihrer Attacke auf das Gehirn befallen die Viren allerdings nicht die Nervenzellen selbst; sie machen sich über Zellen her, die die Neuronen bei ihrer Arbeit unterstützen. Die infizierten Zellen senden Signale aus, die die Nervenzellen durcheinanderbringen. Oder sie produzieren Stoffe, die für Nerven giftig sind.

Dieses perfide Werk beginnen die Viren gleich nach der Infektion: Mit irreführenden Signalen erschwindeln sie sich zunächst Zutritt durch die Schranke, die das Gehirn vor Giften und Krankheitserregern schützen soll. Hinter den Viren schließt sich diese Blut-Hirn-Schranke jedoch bald wieder. Daher verläuft die Infektion im Kopf oft anders als im Blut, und die Arzneimittel können sie dort nicht so gut bekämpfen.

Arzneicocktail zum Frühstück

Abwenden ließe sich der Schaden eventuell, wenn ein Patient bald Medikamente nimmt, nachdem er sich angesteckt hat. Die meisten Ärzte raten ihren Patienten jedoch, mit der Therapie zu warten. Aus verständlichen Gründen: Die Nebenwirkungen können übel sein.

"Eventuell müssen wir die neurologischen Befunde stärker berücksichtigen, wenn wir über den Therapiebeginn entscheiden", sagt Norbert Brockmeyer, Vorsitzender der Deutschen Aids-Gesellschaft und Sprecher des Kompetenznetzes HIV/Aids.

Außerdem muss der Medikamenten-Mix Wirkstoffe enthalten, die durch die Blut-Hirn-Schranke dringen können. Auch Ingrid S. nimmt seit kurzem entsprechende Mittel. Doch selbst dann kann das Virus im Gehirn weiter Schaden anrichten. Mehr noch: Wenn die Infektion weit fortgeschritten ist, könnten die Medikamente dem Gehirn zusätzlich zusetzen. Darauf deuten Ergebnisse von Arendts Team hin.

"Das müssen wir aber noch genauer untersuchen", sagt sie. Sollte sich der Verdacht bestätigen, hilft womöglich nur noch der Vorschlag von Harris Gelbard. Er setzt in der Therapie auf entzündungshemmende Medikamente oder Antidepressiva. Das macht noch ein paar zusätzliche Pillen für die HIV-Patienten, denen nach ihrer morgendlichen Ration ohnehin oft schon der Appetit auf das Frühstück vergangen ist.

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