Neue Forschungsergebnisse:Gezerre um die Alpen

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Das Gebirge ist noch immer geologisch aktiv - und seine Entstehungsgeschichte längst nicht geklärt.

Axel Bojanowski

Eine Alpenwanderung führt gewöhnlich über Meeresboden. Regelrechte Friedhöfe versteinerter Krustentiere finden sich im Fels. Diese ozeanischen Ablagerungen, das wissen Geologen mittlerweile, stammen von einem Meer, das einst Afrika und Europa trennte und aufgefaltet wurde, als die Afrikanische und die Europäische Erdplatte zusammenstießen. Doch wie der Zusammenstoß genau vonstatten ging, das ist noch längst nicht geklärt.

Wie entstanden sie, die Alpen? (Foto: Foto: ddp)

Beginnen wir in München mit einer Reise von Nord nach Süd. Das Erdreich unter der bayerischen Landeshauptstadt ist quasi die Schutthalde der Alpen. Im Laufe von Jahrmillionen haben Flüsse kilometerdicke Schichten von Sand und Geröll im Voralpenland abgelagert. Auf dem Weg nach Italien beginnt vor der Grenze nach Österreich der urzeitliche Meeresgrund - geologisch gesehen afrikanischer Boden. Die nördlichen Kalkalpen bestehen aus den Ablagerungen eines tropischen Flachmeeres, das vor 100 Millionen Jahren Nordafrika säumte.

Korallenriffe, einst so groß wie das heutige Great Barrier Reef in Australien, bilden die steilen Felswände des Dachsteingebirges. Auch die Zugspitze war einst ein Riff. In der Schweiz bei Solothurn haben sich im Kalk einer Lagune Hunderte Dinosaurierspuren verewigt. In den nördlichen Alpen finden sich Abertausende Fossilien urzeitlicher Meerestiere und -pflanzen. Der steinerne Korallengarten lieferte jahrhundertelang das Material für imposante Bauten. Der Wiener Stephansdom etwa besteht aus dem Kalkstein.

Wachstum von einem Millimeter pro Jahr

Vor 60 Millionen Jahren war der Ur-Ozean größtenteils verschwunden; der Meeresboden war durch die Erdplattenbewegungen wie ein Tischtuch zusammengeschoben worden. Afrika trieb Italien, das auf der Adriatischen Platte liegt, wie einen Sporn in den europäischen Kontinent hinein. Dabei falteten sich die Alpen auf.

Auch heute wachsen die Alpen noch immer einen Millimeter pro Jahr - den Angriffen der Witterung zum Trotz. Der Druck der Erdplatten spiele aber inzwischen eine untergeordnete Rolle, schreiben Forscher um Christian Sue von der Universität Neuchatel nun im International Journal of Earth Sciences. Die Berge würden vor allem deshalb höher, weil der zähflüssige Erdmantel der Erdkruste Auftrieb gibt.

Vor Jahrmillionen bestimmte der Druck der Erdplatten das Geschehen. Hunderte Millionen Tonnen Gestein wurden nach Norden gepresst. Ein heute weithin sichtbarer, rund 50 Kilometer langer "Strich in der Landschaft", der sich quer durch die Schweiz von Glarus nach Graubünden im Fels abzeichnet, markiert solch eine "Überschiebungslinie": Entlang der zwei Meter dicken Naht schoben sich einst von Süden her kilometerdicke Gesteinspakete der adriatischen Erdplatte in die Schweiz und formten die Berggipfel. Die "Glarner Hauptüberschiebung" besteht aus Kalkstein, der durch die Last fließfähig wurde und als Rutschbahn für die aufliegenden Felsmassen fungierte.

Als Naturkundler vor 200 Jahren entdeckten, dass über der Naht ältere Felsen liegen als darunter, waren sie zunächst erstaunt. Seinerzeit meinten Wissenschaftler, Gebirge entstünden, weil die Erde durch Abkühlung schrumpft und dabei verrunzelt. Dass sich Gesteine übereinander schieben könnten, galt als Hirngespinst. Doch die "Glarner Hauptüberschiebung" führte zu der Einsicht, dass die Erdoberfläche in Bewegung ist. Die Schweiz hat die Gesteinsnaht kürzlich als Weltkulturerbe vorgeschlagen.

Interkontinentaler Crash

Nicht immer verlief der interkontinentale Crash so glatt wie in der Westschweiz. In den Ostalpen warf die Knautschzone der Erdplatten riesige Falten. Die kilometerhohen Felskurven wurden von Wind und Wetter abgeschliffen, so dass allmählich Gestein der Europäischen Erdplatte aus der Tiefe zum Vorschein kam.

Das gewaltige Tauernfenster - ein 160 Kilometer langer und 30 Kilometer breiter Gebirgszug zwischen Brenner und Katschberg - bietet daher einen Einblick in die Eingeweide der Erde. Das Gestein des Tauernfensters stammt aus 30 Kilometer Tiefe, wo es in großer Hitze und unter unvorstellbarem Druck regelrecht gebacken wurde. In dieser Hexenküche reiften Edelsteine, Gold und Silber heran, die seit Jahrhunderten abgebaut werden.

Wie Knetmasse verformte sich das Tauern-Gestein in der Tiefe. Unter dem Druck der Erdplatten aus Nord und Süd verhielt es sich wie in einem Schraubstock: Es quoll nach oben und wich zur Seite nach Osten aus. Auf seinem Weg nach Osten versetzte das Tauern-Gestein Berge. Es trieb den Gurktal-Block 160 Kilometer vor sich her. Klagenfurt und Bozen - einst benachbarte Orte - liegen heute mehrere Autostunden auseinander.

Doch diese gängige Erklärung für die Bildung des Tauernfensters wird unter Fachleuten derzeit kontrovers diskutiert. Regina Lippitsch von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Wien stellt die gesamte Theorie von der Entstehung der Ostalpen in Frage. Ihre mit Erdbebendaten gewonnenen Messungen zeigten, dass die Eurasische Erdplatte einst nur in den Westalpen unter die Adriatische Platte abgetaucht sei, schreiben Lippitsch und ihren Kollegen im Fachmagazin European Lithosphere Dynamics (Bd. 32, S. 129, 2007).

Im Osten jedoch sei die Adriatische Platte unter der Eurasische Erdplatte versunken. Diese Entdeckung könnte nun rätselhafte Beobachtungen erklären. Unklar war beispielsweise, warum die Alpen zwar in die Höhe wachsen, aber kaum breiter werden. Die in Gegenrichtung abtauchenden Platten blockieren sich womöglich an ihren Rändern, meinen Lippitsch und ihre Kollegen.

Auch die Entstehung des Tauernfensters deuten die Forscher neu. Das Gestein sei nicht nach Osten weggedrückt worden. Vielmehr wurde das zur aufliegenden Europäischen Platte gehörende Tauern-Gestein offenbar von der abtauchenden Adriatischen Erdplatte herausgehoben und versetzt.

Umstrittene Forschungsergebnisse

Doch kaum ist die neue Idee publiziert, erntet sie Widerspruch. Der Alpengeologe Bernd Lammerer von der Universität München hat die Bildung der Ostalpen rückwärts am Computer ablaufen lassen. Sein Ergebnis, das in Kürze veröffentlicht werden soll, stütze die Lehrbuchtheorie, berichtet Lammerer.

Die Tauern seien nach Osten ausgewichen, meinen auch Ewald Brückl von der Technischen Universität Wien und Florian Bleibinhaus von der Universität München. Die Geophysiker machten allerdings eine erstaunliche Entdeckung. Sie hatten den Untergrund der Ostalpen mit Explosionswellen durchleuchtet.

Bei der Auswertung ihrer Daten erlebten Brückl und seine Kollegen eine Überraschung: Die Tauern liegen auf einer eigenen, bislang unbekannten Erdplatte, schreiben die Geophysiker im Journal of Geophysical Research (Bd. 112, S. B06308, 2007). Die "Pannonische Mikroplatte" werde zwischen den beiden großen Platten "nach Osten herausgequetscht", sagt Brückl. Die Ostbewegung der Platte setze sich bis heute fort. Es ist also längst nicht Ruhe in den Alpen: Klagenfurt bewegt sich zum Beispiel unaufhaltsam Richtung Ungarn.

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