Neue Essstörungen:Fasten vor dem Saufen

Viele Jugendliche und junge Erwachsene versuchen mit äußerst ungesunden Methoden, schlank zu bleiben. Magersucht und Bulimie waren offenbar nur der Anfang.

Markus C. Schulte von Drach

Sie leiden unter Heißhunger-Attacken, übergeben sich, um nicht zuzunehmen, missbrauchen Abführ- und Brechmittel, betreiben Sport und Diäten im Übermaß - und manche hungern sich sprichwörtlich zu Tode.

Neue Essstörungen: Alkohol hat viele Kalorien. Aber man sollte vielleicht besser auf das Trinken verzichten als auf das Essen.

Alkohol hat viele Kalorien. Aber man sollte vielleicht besser auf das Trinken verzichten als auf das Essen.

(Foto: Foto: iStock)

Zwei bis vier von hundert weiblichen Teenagern und jungen Frauen leiden unter Magersucht (Anorexie) oder Bulimie (Ess-Brechsucht). Jungen sind erheblich seltener von der falschen Wahrnehmung des eigenen Körpers betroffen, der ihnen sogar bei Untergewicht noch zu dick vorkommt.

Doch Anorexie und Bulimie sind nur jene zwei Essstörungen, die inzwischen ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gedrungen sind - etwa aufgrund der Diskussionen um superschlanke Models.

Nach und nach tauchen immer mehr auffällige und gefährliche Verhaltensweisen rund ums Essen auf, von denen einige noch nicht einmal anerkannte wissenschaftliche Bezeichnungen tragen. Gemeinsam haben sie, dass es ganz offensichtlich einen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen gibt.

Ein Beispiel ist Drunkorexia. Das Wort setzt sich aus den Begriffen "drunk" (englisch für "betrunken") und Anorexia (Magersucht) zusammen, und noch taucht die Bezeichnung lediglich in Zeitungsartikeln, Bloggs oder Fernsehsendungen auf.

Dabei ist Drunkorexia weit verbreitet. Wie etwa Sondra Kronberg von National Eating Disorders Association Long Island, New York, in der TV-Sendung "The Morning Show" berichtete, verkneifen sich 30 Prozent aller amerikanischen Frauen im Alter zwischen 18 und 23 Jahren tagsüber das Essen, wenn sie abends feiern wollen.

"Probleme mit Weintrauben, aber nicht mit Bier"

Auf einer Party wird schließlich Alkohol getrunken. Alkohol aber bedeutet Kalorien. Und zu viele Kalorien führen zur Gewichtszunahme. Anstatt auf die abendlichen Drinks zu verzichten, setzen die jungen Frauen vorbeugend auf eine Diät. Oder sie trinken - und entsorgen dann die Getränke und vorherigen Mahlzeiten gleich mit, indem sie sich anschließend übergeben. Das geht im besoffenen Zustand bekanntlich besonders leicht.

"Es gibt Frauen, die trauen sich nicht, eine Weintraube in den Mund zu nehmen, haben aber kein Problem damit, ein Bier zu trinken", kommentierte Douglas Bunnell vom Renfrew Center in Philadelphia, einer Klinik zur Behandlung von Essstörungen, das Phänomen in der New York Times.

Seiner Einschätzung nach sind der Schlankheitswahn, die gesellschaftliche Akzeptanz des Trinkens und der Eindruck, dass es für viele Prominente normal ist, eine Entziehungskur zu machen, mitverantwortlich dafür, dass die Drunkorexia sich ausbreitet.

Auf den ersten Blick mag es harmlos erscheinen, wenn jemand auf diese Weise versucht, die Kalorienaufnahme zu drosseln. Denn wer dem Alkohol zuliebe auf normale Nahrung verzichtet, dem entgehen nicht nur wichtige Nahrungsinhaltstoffe.

Alkohol führt sogar zu einem Verlust von Vitaminen oder Mineralien. Noch dazu sinkt der Blutzuckerspiegel. Und das macht hungrig. Das Risiko, zu viel zu essen, wird durch jedes Trinkgelage demnach größer. Vor dem Hintergrund, dass Alkoholmissbrauch unter jungen Frauen zunimmt und diese besonders anfällig sind für Essstörungen, eröffnet sich ein echter Teufelskreis.

Insulin-Verzicht als Schlankmacher

Eine weitere Essstörung, die erst langsam ins Bewusstsein der Öffentlichkeit dringt, ist Diabulimia. Betroffen sind Mädchen und junge Frauen mit Diabetes vom Typ 1. Die Krankheit führt unter anderem zu Gewichtsverlust - unabhängig davon, was und wie viel man isst.

Da die Patientinnen demselben gesellschaftlichen Druck ausgesetzt sind wie jeder andere, setzen einige von ihnen die Insulinspritze ab und geben die anstrengende Diabetiker-Diät auf, um wieder so rank und schlank zu sein wie vor der Behandlung.

Doch Tausende Mädchen und junge Frauen sind offenbar bereit, die möglichen drastischen gesundheitlichen Folgen der guten Figur zuliebe in Kauf zu nehmen. Über kurz oder lang drohen ihnen unter anderem Haarausfall, Müdigkeit, Dialyse, Herzinfarkt, der Verlust des Augenlichts und von Gliedmaßen.

Fasten vor dem Saufen

Ganz neu ist das Phänomen nicht - allerdings wird es erst seit kurzer Zeit als Diabulimia bezeichnet. Seit Jahrzehnten beobachten Mediziner, dass gerade junge Diabetikerinnen besonders häufig unter Essstörungen leiden - und gezielt auf Insulin verzichten.

Dabei riskieren sie so sogar einen vorzeitigen Tod. Das belegt eine neue Studie des Joslin Diabetes Centers in Boston. Ann E. Goebel-Fabbri und ihre Kollegen hatten Patientinnen mit Typ-1-Diabetes über einen Zeitraum von elf Jahren beobachtet.

Wie sie jetzt im Fachmagazin Diabetes Care (Bd. 31, S.415, 2008) berichten, hatten 30 Prozent der Frauen weniger Insulin eingesetzt als sie sollten - um schlank zu bleiben. Und für dieses Ziel mussten viele von ihnen einen hohen Preis bezahlen: Die Todesrate war in dieser Gruppe dreimal höher als unter den Frauen, die sich wie empfohlen Insulin gespritzt hatten - und sie starben im Schnitt bereits mit 45 Jahren.

Gefährlicher Gesundheitswahn

Wenig bekannt ist auch die sogenannte Orthorexia nervosa - vermutlich weil die Betroffenen sich in den westlichen Gesellschaften mit ihrem Wellness- und Gesundheitswahn gewissermaßen strikt nach Vorschrift verhalten.

Die Patienten, deren Leiden der wissenschaftlichen Anerkennung allerdings noch harrt, sind besessen davon, sich gesund zu ernähren. Und es geht ihnen nicht um die gute Figur, sondern um die Qualität der Nahrungsmittel.

Die Betroffenen entwickeln sich zu verbissenen Gesundheitsfanatikern, die speziellen Diätplänen folgen. Das Einkaufen der Zutaten und die Zubereitung der Mahlzeiten werden langfristig und exakt geplant, alles andere gerät in den Hintergrund. Soziale Kontakte werden vernachlässigt, den Patienten droht die Vereinsamung. Ihren Namen trägt die Essstörung seit 1997, als der amerikanische Arzt Steven Bratman sie an einem Patienten diagnostizierte - an sich selbst.

Wie inzwischen sogar die Krankenkassen warnen, kann es bei Orthorektikern bei einer falschen Diät zu Mangelerscheinungen, Schlafstörungen und Leistungsabfall kommen. Gelingt es ihnen nicht, die eigenen Regeln strikt einzuhalten, werden sie von Schuldgefühlen geplagt. Das Leiden kann demnach Merkmale einer Zwangsstörung aufweisen.

Wie so oft, wenn es um psychische Störungen geht, ist es schwierig, eindeutige Ursachen zu bestimmen. Eine Rolle spielen offenbar in der Regel individuelle Faktoren wie mangelndes Selbstbewusstein, Traumata in der Kindheit und zu einem guten Teil auch die Gene.

Doch auch die Gesellschaft ist verantwortlich. Denn als äußere Einflüsse wirken mit Sicherheit Schönheitsideale, der Druck, sich gefälligst gesund zu ernähren, das Verhalten prominenter Vorbilder und die Akzeptanz legaler Drogen.

Und je nachdem, wie sich die Gesellschaft verändert, nehmen offenbar auch die Essstörungen neue Formen an.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: