Neue Bildungsarchitektur:Mal allein, mal zusammen

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Viele Schulen richten "offene Lernlandschaften" ein. Dort können Jugendliche flexibler lernen.

Von Anne-Ev Ustorf

Bröckelnder Waschbeton, Löcher in den Wänden, stinkende Klos: Viele Schulen in Deutschland sind marode. Endlich werden sie Stück für Stück saniert, vergangenes Jahr erst hat die Bundesregierung ein Milliardenprogramm zur Sanierung von Schulen in finanzschwachen Kommunen auf den Weg gebracht. Doch ist es mit einer Modernisierung der bestehenden Gebäude in den meisten Fällen längst nicht mehr getan. Durch Inklusion, Ganztagsschule und den Trend zur Differenzierung entsprechen die Grundrisse der Vergangenheit - Klassenzimmer, Lehrerzimmer, Flur und Sanitäranlagen - oft nicht mehr den heutigen Bedürfnissen von Lehrern und Schülern.

Stattdessen ist eine neue Bildungsarchitektur gefragt. Veränderte gesellschaftliche Anforderungen an die Schule und neue Lehr- und Lernkonzepte machen vielerorts eine Umwandlung der Halbtagsschule in eine Ganztagsschule nötig, flexible Grundrisse und multifunktionale Lernräume entsprechen inzwischen eher den Bedürfnissen von Pädagogen und Schülern als die schuhkartonförmigen Klassenzimmer mit einer einzigen Tafel. Konkret: Es braucht einerseits größere Gemeinschaftsflächen, die je nach Bedarf unterschiedlich genutzt werden können, andererseits geschützte Einzelarbeitsplätze, damit man Schüler - gerade auch im Rahmen der Inklusion - stärker individuell fördern kann. Außerdem machen neue Lernformen wie das kooperative und selbständige Lernen oft abgetrennte Zonen nötig, die etwa für Gruppenarbeiten genutzt werden können. Das traditionelle, auf Frontalunterricht ausgerichtete Klassenzimmer, in dem alle Schüler dieselbe Aufgabe erledigen, verliert zunehmend seine zentrale Funktion.

Viele Schulen haben sich inzwischen dem Prinzip der sogenannten offenen Lernlandschaft verschrieben. Vielfach missverstanden, suggeriert der Begriff riesige Räume ohne Wände und Türen, in denen klassenübergreifend gelernt wird. Tatsächlich aber bedeutet die offene Lernlandschaft an deutschen Schulen lediglich eine Abkehr von der starren Klassenraumstruktur. Der Klassenraum besteht weiter, verfügt aber über bewegliches Inventar und baulich abgetrennte Flächen, etwa Lernflure, die man nach Bedarf nutzen kann. Dabei ist Transparenz zwischen den zu nutzenden Räumen wichtig, etwa im Sinne von Sichtachsen oder offenen Türen, aber gleichzeitig auch ausreichend akustische Trennung, damit überall in Ruhe gearbeitet werden kann. Die frontale Tafel, soweit sie nicht entfernt wird, kann durch kleinere Tafeln an allen Wänden ergänzt werden. "Ein Qualitätsmerkmal einer offenen Lernumgebung ist, dass sie flexibel ist", erklärt Susanne Asam, Schulleiterin in München, "Ich kann sie zum konzentrierten Arbeiten nutzen, zum Präsentieren oder Archivieren, je nach den Bedarfen, die ja nach Lehrer und Fach ganz unterschiedlich ausfallen können". Nachteile offener Lernlandschaften können allerdings fehlender Schallschutz oder bisweilen auch wenig effektives Arbeiten der Schüler sein. "Man muss als Lehrer schon aufpassen, dass die Schüler wirklich am Ball bleiben", betont Oliver Schulz, Lehrer für Englisch und Geografie an einer Stadtteilschule im Norden Hamburgs. "Nicht alle können in offenen Lernlandschaften konzentriert und selbständig arbeiten. Für manche Schüler ist eine engere Bindung an die Lehrkraft besser, auch in räumlicher Hinsicht."

Manche Schüler arbeiten selbständig im Lernflur

Susanne Asam hat Erfahrung mit verschiedensten Formen der Bildungsarchitektur. Seit 2013 ist sie Schulleiterin am zeitgleich eröffneten Gymnasium Trudering, dem ersten gymnasialen Neubau in München seit 33 Jahren. Er ist nach dem Münchner Lernhauskonzept gestaltet, einem flexiblen und multifunktionalen Raumkonzept, das künftig alle Schulneubauten und -erweiterungen in München prägen wird. Bei dem Neubau in Trudering dominieren hochwertige Materialien wie Holz und Glas und eine durchdachte Farbgestaltung. Großzügigkeit und Transparenz sind die bestimmenden architektonischen Prinzipien: Die Klassenräume sind recht klein, aber die breiten Flure wurden als Lernflure gestaltet, sodass sie während des Unterrichts mitgenutzt werden können. Immer wieder finden sich auf den Fluren auch kleine Separees. Zugleich kann man in die Klassenräume durch bodentiefe Fenster vom Flur aus hineinschauen. Asam ist begeistert von der Architektur. "Bei uns können die Lehrkräfte im normalen Fachunterricht die Schüler in den Lernflur schicken, wo die Schüler dann selbstorganisiert lernen", sagt sie. Die Lehrer seien somit freier, ihre Aufgabenstellungen zu variieren. "Die einen machen ein Interview, die anderen einen Film. Die Lehrkraft kann sich so verstärkt um Schüler kümmern, die über- oder unterfordert sind. Sie könnte zum Beispiel mit einer kleinen Gruppe Frontalunterricht machen, während die anderen im Lernflur beschäftigt sind. Durch die Glasfenster gibt es ja immer eine Blickverbindung nach außen."

Die Diskussion über die Nachteile offener Lernlandschaften - schwindende Möglichkeiten für Kinder, sich zu konzentrieren, oder fehlende Rückzugsräume - kann Asam nicht nachvollziehen. Allerdings gibt sie zu bedenken: "Transparenz und Offenheit sind super, aber manchmal muss man die Türen aus akustischen Gründen unbedingt zumachen, etwa beim Fremdsprachenlernen."

Offene Lernlandschaften sind nicht mehr nur eine Modeerscheinung, sondern für viele Pädagogen eine große Unterstützung bei einer differenzierten Unterrichtsgestaltung - vorausgesetzt, diese Bildungsarchitektur wird mit Verstand und Feingefühl genutzt.

© SZ vom 07.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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