Süddeutsche Zeitung

Nazi-Marketing:Heldengeist gegen Krämergeist

Wie Hitlers Chefideologe Alfred Rosenberg den Antisemitismus begründete und verbrämte.

Ernst Piper

Waren die Nationalsozialisten Sozialisten? Zumindest gaben sie sich als solche aus. So war der von der Zweiten Internationale 1889 zum "Kampftag der Arbeit" erklärte 1. Mai jahrzehntelang selbst umkämpft. Viele blieben der Arbeit fern, um auf Kundgebungen für ihre Ziele zu demonstrieren, und nahmen dafür Ärger mit ihren Arbeitgebern, bis hin zur strafweisen Entlassung, in Kauf. Erst 1933 wurde das anders. Der neue Reichskanzler Adolf Hitler erhob den 1.Mai kurzerhand zum staatlichen Feiertag. Weit mehr als eine Million Menschen versammelten sich in jenem Jahr zur zentralen Maifeier auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. Hitler rief ihnen zu: "Deutsches Volk, Du bist stark, wenn Du eins wirst!" Hitlers "nationaler Sozialismus" wollte das Völkische mit dem Sozialen versöhnen. Aber war das Dritte Reich deshalb ein Volksstaat? Zweifel sind angebracht.

Wenn Hitler den "Tag der nationalen Arbeit", wie er nun hieß, ein Symbol der "völkischen Verbundenheit und damit des Emporstiegs" nannte, so verbarg dieser Appell an die durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg gedemütigte Nation vor allem die hochaggressive Ideologie einer Volksgemeinschaft nationalsozialistischer Couleur.

Der Einzelne zählte nichts in diesem wieder erwachten Volk, er sollte Glied einer großen Gemeinschaft sein, deren Ziel nicht Gleichheit, sondern Homogenität war. Wer zu ihr gehörte und wer nicht, definierten die Nationalsozialisten nach rassistischen Prinzipien. Deshalb kämpfte man einerseits um die "Heimholung" von Saarländern, Österreichern, Wolgadeutschen und anderen "Grenz- und Auslandsdeutschen" und grenzte andererseits brutal die jüdischen Mitbürger als "Schädlinge am deutschen Volkskörper" aus. Auch geistig Behinderte waren als "Ballastexistenzen" dem Tode verfallen.

Alfred Rosenberg, Chefideologe der Nazis und enger Mitarbeiter Hitlers seit den ersten Tagen der "Bewegung", hatte schon 1923 einen programmatischen Aufsatz mit dem Titel "Nationaler Sozialismus oder Nationalsozialismus" veröffentlicht, in dem es hieß: "Das Wort Nationalsozialismus stellt als Hauptwort eine neue Synthese dar, die die Untrennbarkeit zweier Begriffe betont, während die Bezeichnung nationaler Sozialismus in Wirklichkeit nationaler Marxismus bedeutet oder bedeuten könnte." Nationalen Marxismus gebe es in England und Frankreich, Nationalsozialismus nur in Deutschland, "und das ist ein gewaltiger Unterschied". Denn nationaler Marxismus sei nicht besser als die Demokratie der jüdischen Plutokraten.

Die Verweis auf die Juden sollte hier, wie immer und überall, Feststellungen und Forderungen plausibel machen, die für sich genommen kaum als einleuchtend erschienen. Zugleich sollte der Antisemitismus als soziale Klammer über alle realen Interessen- und Klassengegensätze hinweg die Volksgenossen zusammenschließen. So gab Hitler sich Mühe, die Ruhrbarone zu beruhigen, gegen den Kapitalismus habe man ja nur etwas, soweit er jüdisch sei; das "raffende Kapital" wolle man bekämpfen, nicht aber das "schaffende Kapital".

Die Auffassungsunterschiede innerhalb der NSDAP kristallisierten sich deutlich am Verhältnis zu der jungen Sowjetunion heraus. Während sie für Leute wie Goebbels, die in Lenin eine Hitler vergleichbare Führergestalt sahen, vor allem als Land galt, in dem die Arbeiterklasse zur Macht gekommen war, zeichnete Rosenberg das Schreckbild eines "Sowjetjudäa". Interpretierten die einen Lenin als Nationalbolschewisten, waren für Rosenberg die Börsen in New York und London wie der von den Sowjets beherrschte Kreml gleichermaßen Bollwerke des Weltjudentums. Auch Hitler hatte in "Mein Kampf" geschrieben: "Im russischen Bolschewismus haben wir den im 20.Jahrhundert unternommenen Versuch des Judentums zu erblicken, sich die Weltherrschaft anzueignen."

Rosenbergs Folgerungen: "Nicht der Sozialismus" sei das Ziel, sondern "ein freies Volkstum und seine Selbstbehauptung als solche auf allen Gebieten des Lebens". Eine völkische Bewegung also, deren soziales Pathos am Ende Rhetorik blieb. Für Rosenberg war der Sozialismus nur staatliches Mittel zum Zweck. Nationalsozialisten vom seinem Schlage waren im Grunde eher Sozialnationalisten, die gern den Dünkel der höheren Stände hinter sich ließen, denen sie ohnehin nicht angehörten. Doch man traf sich mit ihnen im Willen zur Begründung einer Volksgemeinschaft durch den Ausschluss anderer.

Der Holocaust-Forscher Yehuda Bauer hat in seinem Alterswerk "Die dunkle Seite der Geschichte" deutlich gemacht, dass dem in der Nazi-Ideologie auf seinen Höhepunkt gelangenden Antisemitismus bei der Analyse der Shoah ein zentraler Platz zukommt. Eben dies, so wenig überraschend es klingt, stellt in den letzten Jahren eine wachsende Zahl von Historikern in Frage. Grund dafür ist die bewusst vage Vermischung antisemitischer und völkischer, also quasi sozialistischer Momente in der Propaganda der Nazis.

Die deutschen Funktionseliten vertraten, wie Bauer es nennt, einen Erlösungsantisemitismus; der mit ihrer Hilfe entstandene gesellschaftliche Konsens ermöglichte der Bevölkerung die Teilhabe am Mordprogramm. Bauer schreibt, die Erklärung der Shoah sei multikausal, doch die Ideologie bilde die zentrale Determinante. Der Antisemitismus der Nazis zielte bewusst auf den Völkermord - im Kontext eines biologistischen Rassismus, der alles an Radikalität hinter sich ließ, was die Welt bis dahin gesehen hatte.

Doch obwohl Rosenberg der wichtigste Theoretiker dieses Antisemitismus war, verschwand er hierzulande fast aus dem Blickwinkel der Aufmerksamkeit. Den "vergessenen Gefolgsmann" nannte ihn Joachim Fest in seiner Porträtsammlung "Das Gesicht des Dritten Reiches" - um dann durch seine wenig sachkundige eigene Darstellung das Vergessen noch zu fördern. Die Zeitgenossen allerdings hatten ein ganz anderes Bild von Rosenberg gehabt. So hieß es in dem 1934 im Pariser Exil erschienenen Buch "Naziführer sehen Dich an": "Hitler befiehlt, was Rosenberg will." Hitler galt als das Medium, mit dessen Hilfe Rosenberg die Bewegung dirigierte.

1923 übernahm Rosenberg die Schriftleitung des "Völkischen Beobachters". Im Jahr darauf, als Partei und Zeitung verboten waren und Hitler im Gefängnis saß, gründete er den "Weltkampf" als "Monatsschrift für die Judenfrage aller Länder" und 1930 übernahm er schließlich auch die "Nationalsozialistischen Monatshefte", das Theorieorgan der Partei. Zudem produzierte Rosenberg eine Flut von Büchern, Broschüren und Pamphleten. Allein zwischen 1920 und 1923, in den Jahren vor dem Hitler-Putsch, brachte er sieben Schriften heraus, von "Die Spur der Juden im Wandel der Zeiten" über "Der staatsfeindliche Zionismus" bis zu "Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische Weltpolitik". Sie alle zeugen vom monomanischen Antisemitismus ihres Verfassers.1920 hatte die NSDAP ihr von Hitler entworfenes Parteiprogramm verabschiedet.

Rosenberg schrieb den offiziellen Kommentar dazu; der Text beginnt mit einem Rückblick auf den Ersten Weltkrieg. Der Krämergeist habe damals über den Heldengeist gesiegt. Seelenloser Internationalismus, Dünkelhaftigkeit und der dämonische Drang nach technischen und wirtschaftlichen Eroberungen hätten sich verbündet, so dass im November 1918 die schlimmsten Kehrseiten wahren Deutschtums triumphierten. Gegen alle "materialistischen, händlerischen und mammonistischen Gedanken" setzten die Nationalsozialisten auf den Glauben an den Idealismus. Standesdünkel und Klassenkampf wurden gleichermaßen abgelehnt; den Begriffen "national" und "sozial" sollte wieder ihre ursprüngliche Bedeutung zukommen. Der Marxismus lehre einerseits die Gleichheit der Völker, predige aber andererseits den Kampf der verschiedenen Schichten des eigenen Volkes gegeneinander.

Hier haben wir einen zentralen Punkt nationalsozialistischer Welterklärung vor uns. Die scheinbar größten Gegensätze, Marxismus und Kapitalismus, fielen in eins, denn beider Führung befand sich "in der Hand der Vertreter ein und desselben Volkes...- in der Hand der Juden."

Die marxistische Arbeiterbewegung, so Rosenberg, wolle in Wirklichkeit keine wirtschaftliche Auseinandersetzung, ihr Auftreten sei vielmehr "ein angesagter Macht- und Kulturkampf an alle Völker Europas", sie wolle letztendlich den Rassenkampf. Aus dieser Perspektive konnten die Nationalsozialisten sich keineswegs als Rechtsextremisten, sondern vielmehr als Partei der Mitte definieren, die die jeweilige Einseitigkeit der Sozialisten und der Nationalisten zu überwinden trachteten und zu einem Ausgleich bringen wollten in einer Volksgemeinschaft, deren gesellschaftliche Verfassung ein friderizianisch-autoritärer Sozialismus war. Für "Börsenjuden" und ihre "unbeschnittenen Geistesbrüder" sollte dort ebenso wenig Platz sein wie für den "demokratisch-marxistisch-plutokratischen Götzen".

1933, im Jahr der "Machtergreifung", konnten die Nazis daran gehen, ihre mörderische Utopie zu verwirklichen. Für Rosenberg bedeutete die Macht im Staat nur die erste Etappe eines langen Weges, dessen Ziel die Macht über die Seelen der Menschen war. Seine Arbeitsfelder waren Schulung und Erziehung, die Kulturpolitik, in der er einen radikal antimodernen Kurs verfolgte, und der Kirchenkampf, in dem er sich als schärfster Gegner der christlichen Kirchen, ja jeder Religiosität, unter den führenden Nationalsozialisten profilierte.

Ende März 1941 wurde in Frankfurt am Main das Institut für die Erforschung der Judenfrage als erstes Institut der "Hohen Schule", einer geplanten Eliteuniversität unter Rosenbergs Leitung, eröffnet. Höhepunkt und Abschluss der Eröffnungstagung war Alfred Rosenbergs Rede "Die Judenfrage als Weltproblem". Sie wurde von allen deutschen Rundfunksendern übertragen, anschließend erschien sie im "Völkischen Beobachter", natürlich auch im "Weltkampf", und wenig später schließlich in einer preiswerten Broschüre als eigenständige Veröffentlichung. Hier wurde Rosenberg schon sehr viel deutlicher als früher: "Für Europa ist die Judenfrage erst dann gelöst, wenn der letzte Jude den europäischen Kontinent verlassen hat." Die Ausgliederung der Juden als Projekt "nationaler Sauberkeit" stellte ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Verbalradikalismus der antisemitischen Rhetorik der "Kampfzeit" und den beispiellosen Vernichtungsaktionen in den besetzten Ostgebieten ab 1941 dar.

Am 18. November 1941 lud Rosenberg, der zuvor zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete ernannt worden war, zu einem "Presseempfang" in den Sitzungssaal des Ostministeriums. Es war keine gewöhnliche Pressekonferenz, die anwesenden Journalisten sollten über das, was sie zu hören bekamen, gerade nicht berichten. Mitschreiben war nicht erlaubt, Rosenbergs Ausführungen vertraulich, denn: "Alle Einzelheiten, die den Osten betreffen, kann man heute noch nicht in der Presse behandeln." Der Reichsminister betonte die Notwendigkeit der Auflösung des russischen Reiches. Was die Journalisten nicht hatten mitschreiben sollen, war aber vor allem dies: "Zugleich ist dieser Osten berufen, eine Frage zu lösen, die den Völkern Europas gestellt ist: das ist die Judenfrage. Im Osten leben noch etwa sechs Millionen Juden, und diese Frage kann nur gelöst werden in einer biologischen Ausmerzung des gesamten Judentums in Europa."

Hier, im Sitzungssaal des Ostministeriums, wurde in vertraulicher Runde erstmals eine Grenze überschritten. Nicht mehr von Evakuierung war die Rede, von der Entfernung der Juden aus Europa, wie sie ständig und überall propagiert wurde, nein, hier sprach Rosenberg von "biologischer Ausmerzung", und es war eindeutig, was damit gemeint war.

Wenig später, am 20. Januar 1942, fand am Ufer des Wannsee die berühmte Konferenz über die Umsetzung der "Endlösung" statt, auf der Rosenbergs Ostministerium prominent vertreten war. "Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten", hieß es im Protokoll. Es folgen die berühmten Sätze, dass "zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird" und "der allfällig endlich verbleibende Restbestand entsprechend behandelt" werden müsse. Das war das unverblümte Mordprogramm.

Alfred Rosenberg war nicht für die Vernichtungslager zuständig. Seine Rolle war die des ideologischen Vorkämpfers. Bei einer Führertagung am 4.Mai 1943 sagte er: "Die Judenfrage war immer das politische Petroleum unseres Kampfes." Und einige Wochen später sprach er vor reichsdeutschen Neusiedlern in der Ukraine über die Notwendigkeit der Judenvernichtung: "Unsere Enkel werden einmal froh sein, dass ihre Großväter sie von diesem Schmutz befreit haben."

Am 1.Oktober 1946 wurde Alfred Rosenberg in Nürnberg vom Internationalen Militärgerichtshof zum Tod verurteilt und 15 Tage später hingerichtet.

Ernst Piper ist Historiker und lebt in Berlin. In diesen Tagen erscheint seine Biographie "Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe" im Blessing Verlag.

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SZ am Wochenende vom 8. Oktober 2005
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