Naturwissenschaften:Seelenqual des Zwillings

Im Gegensatz zu Ideologen wissen Naturwissenschaftler, dass sie nicht die ganze Wirklichkeit erkennen.

Ein Kommentar von Martin Urban

Die Bilder, die sich Laien gemeinhin von der Wissenschaft machen, haben mehr mit ihnen selbst und ihrer persönlichen Lebens- und Bildungsgeschichte als mit der Wissenschaft zu tun. Von Kaiser Wilhelm II. erzählte man sich, das er schwer beeindruckt war von den neuen Möglichkeiten, elektrischen Strom durch Kabel zu leiten:"Wo ist denn das Loch, durch das der Strom hindurchfließt?", soll er einmal bei einer Führung den Werksleiter gefragt haben.

Albert Einstein wurde bei den Laien so rasch berühmt, weil nach dem Ende des Ersten Weltkriegs jedermann sofort davon überzeugt war, dass nunmehr "alles relativ" sei. Und die Vorstellung, Eigenschaften des Menschen würden sich so einfach vererben wie die von Gregor Mendel beobachteten Eigenschaften einer Erbse, führten in der Konsequenz zu den "Rassenhygiene"-Gesetzen der Nationalsozialisten.

Auch heute machen sich Laien Bilder von der Natur, die mit den Beobachtungen der Wissenschaftler nichts zu tun haben - womöglich aber gravierende Folgen. Zum Beispiel das Bild, mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle werde der menschliche Keim sofort beseelt. Dummerweise entwickeln sich manchmal später daraus eineiige Zwillinge. Was aber passiert dabei mit der Seele? Teilt sie sich auch?

Naturwissenschaftler wissen, dass sie nicht die ganze Wirklichkeit erkennen. Sie machen sich deshalb Bilder, etwa in Form chemischer Zeichen oder mathematischer Formeln. Wenn diese die Wirklichkeit nicht genau genug abbilden, müssen die Formeln revidiert werden. Ideologien halten sich dagegen länger.

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