Naturschutz:Vom Schießplatz zum Nationalpark

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  • Die Senne, eine Heidelandschaft in Ostwestfalen, ist seit 120 Jahren militärisches Sperrgebiet.
  • Die Region soll nach Abzug der Truppen spätestens 2020 Nationalpark werden, da dort über 1000 Pflanzen- und Tierarten leben, die auf der Roten Liste NRW stehen.
  • Dagegen gibt es aber Widerstand.

Von Velten Arnold

Mitten in Ostwestfalen ist Gerhard Lakmann auf Löwenjagd. Doch er ist nicht mit einem Gewehr bewaffnet, sondern mit einem Löffel und einem Plastikschälchen. Lakmann bückt sich, schiebt den Löffel in eine kreisförmige Vertiefung im weißen Sand, und da hat er es auch schon erwischt: ein gräulich-braun gepanzertes Krabbeltier, so groß wie ein Ein-Cent-Stück. Lakmann richtet sich auf und präsentiert seine Trophäe. "Das ist der Ameisenlöwe, die Larve der Ameisenjungfer. Er gräbt sich im Sand einen Trichter und beschießt am oberen Rand vorbeitippelnde Ameisen mit Sandkörnern." Oft genug torkeln die Insekten dann ins Loch, wo der Attentäter sie aussaugt. "Der Ameisenlöwe ist ein typischer Bewohner dieser Landschaft, er braucht Sandböden." Und solche Sandböden, die gibt es hier in der Senne, zwischen den Städten Bielefeld, Detmold und Paderborn am westlichen Rand des Teutoburger Waldes, mehr als genug.

Gerhard Lakmann kennt die Landschaft so gut wie kaum jemand sonst. Der Biologe arbeitet seit 1993 an der Biologischen Station Kreis Paderborn-Senne. Hinter ihm erstreckt sich blühende Heide, so weit das Auge reicht; inmitten der weiten, offenen Fläche ragen vereinzelt Birken und Eichen auf, am Horizont huschen ein paar Damhirsche vorbei. Idylle pur, jedoch eine, die man nur höchst selten zu sehen bekommt. Das Herzstück der Senne ist militärisches Sperrgebiet, seit mehr als 120 Jahren. Zurzeit nutzen es die britischen Streitkräfte.

Spätestens 2020 werden die Soldaten abziehen, das genaue Datum steht noch nicht fest. Aber die Debatte, was nach dem Ende der militärischen Nutzung aus dem fast 12 000 Hektar großen Gelände wird, hat längst begonnen. Die einen wollen in der Senne unbedingt einen Nationalpark einrichten und können dabei auf die Unterstützung des nordrhein-westfälischen Umweltministers Johannes Remmel zählen. Die anderen, allen voran Andreas Jürgen Wulf, Bürgermeister der benachbarten 9600-Einwohner-Gemeinde Augustdorf, die auch Bundeswehrstandort ist, wollen ein militärisches Übungsgebiet erhalten und die Landschaft lieber als Naturpark oder Biosphärenregion schützen.

"An den Ufern wird sich Auwald entwickeln, den es in Europa kaum noch gibt."

Zurzeit öffnen sich die Schranken hier nur wenige Male im Jahr, doch an diesem Augustsonntag feiert die Heidschnuckenschäferei Senne ein Heideblütenfest, und aus diesem Anlass darf Gerhard Lakmann mit Genehmigung des zuständigen Kommandanten eine Besuchergruppe durch das sonst nicht zugängliche Herz der Senne führen. "Wir haben hier eine der nährstoffärmsten Gegenden in ganz Nordrhein-Westfalen", erklärt er. "Deshalb treffen wir hier nur Arten an, die mit dieser Nährstoffarmut zurechtkommen." Zum Beispiel das Silbergras, dessen Wurzeln sich bis zu einen Meter tief in den Boden eingraben, damit die Pflanze überleben kann. Am Wegesrand blühen gerade überall Berg-Sandköpfchen und Heidenelken, nur zwei von mehr als 1000 Pflanzen- und Tierarten des Truppenübungsplatzes Senne, die auf der aktuellen Roten Liste NRW der in dem Bundesland gefährdeten Spezies stehen. Ein Sensationsfund war 1993 die Entdeckung des Einfachen Rautenfarns, der als ausgestorben galt und in Deutschland nur noch auf dem Truppenübungsplatz in der Senne vorkommt.

Die Landschaft verdankt ihre Besonderheit der Saale-Eiszeit vor mehr als 130 000 Jahren. "Die Gletscher hatten den Gebirgszug des Teutoburger Waldes fest im Griff", erklärt Lakmann. "Als das Eis schließlich schmolz, bildete sich zwischen dem südwestlichen Hang des Gebirges und dem Rand des Gletschers eine Art Becken, in dem sich das Schmelzwasser sammelte und jede Menge Sand zurückließ." Stellenweise lagerten sich auf dem Kalksteinuntergrund bis zu 60 Meter mächtige Sandschichten ab. Landschaft und Ruhe machen den Truppenübungsplatz Senne auch zum Paradies für Vögel; die Brutbestände von Ziegenmelker, Heidelerche und Wendehals sind die größten in Nordrhein-Westfalen. Deshalb ist das Areal bereits als EU-Vogelschutzgebiet ausgewiesen. Der Ziegenmelker, der jedes Jahr für drei Monate aus Afrika in die Senne kommt, ist Lakmanns Liebling. "Nachts fliegt er über die Heide und sucht nach Nachtfaltern. Und wenn er nach längerem Regen mal keine findet, legt er sich einfach hin, fährt seinen Stoffwechsel herunter und schläft eine Weile." Bei der letzten Bestandsaufnahme vor sechs Jahren wurden 80 rufende Männchen des Ziegenmelkers gezählt.

Verrostete Militärfahrzeuge stehen als Ziele für Schießübungen zwischen dem Heidekraut der Senne. (Foto: Günter Bockwinkel)

In der Ferne zieht eine Gruppe Damwild vorbei, mindestens 60 Tiere, und an der Seite plätschert es leise. Weit unten windet sich der Haustenbach, der sich ein zehn Meter tiefes Tal gegraben hat; kristallklar strömt er über weißen Sand, gesäumt von Rispen-Segge und Binsen. Vor sechs Jahren erstreckte sich hier noch der Haustensee. Unter den Nazis hatte die Wehrmacht den Bach aufgestaut, um amphibische Manöver durchführen zu können, ebenso wie an mehreren anderen Orten in den Bachtälern der Senne. "Ökologisch war das überhaupt nicht gut", sagt Gerhard Lakmann. Fische, die zum Laichen stromaufwärts schwimmen, konnten die Stauanlagen nicht mehr überwinden, und am Grund der Stauteiche hatte sich im Laufe der Jahrzehnte eine dicke Schicht aus Faulschlamm gebildet. "Die einzige Wasserpflanze, die es hier noch gab, war die Kanadische Wasserpest", sagt der Biologe, "und die wollten wir hier nun wirklich nicht haben." Von den deutschen Behörden zur Sanierung aufgefordert, rissen die britischen Streitkräfte die Stauanlagen ein. "Jetzt fließen die Sandbäche wieder, und Groppen, Bachforellen und Bachneunaugen sind wieder da. An den Ufern wird sich Auwald entwickeln, von dem wir in Europa nur noch wenig haben."

Um die Landschaft und deren Bewohner langfristig zu schützen, kämpft Erdmute von Voithenberg, Vorsitzende des Fördervereins Nationalpark Senne-Eggegebirge, seit Jahren dafür, dass das Gelände nach Abzug der Briten zum Nationalpark deklariert wird. Die 65-jährige ehemalige Leiterin der höheren Landschaftsbehörde der Bezirksregierung Detmold stapft an diesem Sonntag mit durch die Heide. Sie verweist auf ein Gutachten des Landesamts für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2014, wonach die Senne alle Kriterien erfüllt. "Ein Nationalpark ist die einzig adäquate Schutzkategorie, um die Senne dauerhaft zu erhalten", sagt sie. "Für ein Biosphärenreservat ist die infrage kommende Fläche zu klein, und nur eine Kernzone von drei Prozent wäre wirklich geschützt. Ein Naturpark ist keine wirkliche Schutzkategorie, in einem Naturschutzgebiet wären auch nachhaltige Forst- und Landwirtschaft möglich. Das gibt es nicht einmal jetzt."

Dass es auf dem riesigen Areal tatsächlich keine intensiv genutzte Agrarlandschaft, nur sehr wenige Straßen und keine Besiedlung gibt, ist ausgerechnet dem Militär zu verdanken, sonst nicht gerade ein natürlicher Verbündeter der Naturschützer. Seit 1892 ist das Gelände militärisches Sperrgebiet und wird als Truppenübungsplatz genutzt. Schon Rekruten der kaiserlichen deutschen Armee haben dort das Schießen geübt. Seit mehr als 100 Jahren wird auf dem Areal keine Landwirtschaft betrieben, das bedeutet: keine Pestizide, keine Düngemittel, kein Ackerbau.

"Ihrem Charakter nach kein Nationalpark"

Trotzdem hat sich hier nicht wilde Natur entwickelt, sondern eine sehr alte Kulturlandschaft erhalten. 3000 bis 4000 Jahre alte Grabhügel liefern Hinweise darauf, dass es in der Gegend schon in der Jungsteinzeit ausgedehnte Heideflächen gab. Bauern konservierten die offene Landschaft über Jahrhunderte durch Beweidung und regelmäßigen Plaggenhieb. Dabei wurde Heide abgetragen, im Stall als Einstreu genutzt und als Dünger auf Ackerflächen wieder ausgebracht.

Damhirsche im Sperrgebiet: Die Tiere haben von den Soldaten nichts zu befürchten. (Foto: Günter Bockwinkel)

Erst als das Militär das Gebiet übernahm, wurde die traditionelle Landnutzung aufgegeben; mit der Zeit wuchsen auf weiten Bereichen Kiefern und Sandbirken und bildeten sich Wälder. "Doch insgesamt gibt es noch gut 5500 Hektar Offenlandfläche und damit die größte zusammenhängende Heidelandschaft in Nordrhein-Westfalen", sagt Gerhard Lakmann. "Im Sicherheitsbereich hinter den Schießbahnen sieht es in Teilen noch so aus wie im Mittelalter - ein Fenster in die Vergangenheit."

Dass es so bleibt, wünscht sich auch das Militär, damit die Soldaten Schießübungen im offenen Gelände machen können. Rund 1000 Heidschnucken sind darum als lebende Heidemäher im Einsatz. Tag für Tag ziehen sie bis zu zwölf Kilometer weit über die Ebene und sorgen dafür, dass die Flächen nicht überwuchern.

Nato-Soldaten haben hier für Afghanistan geübt. Darum ragt ein Minarett als Kulisse aus der Heide

Genau das führen die Gegner eines Nationalparks Senne als eines ihrer gewichtigsten Argumente ins Feld. "Die Senne ist ihrem Charakter nach kein Nationalpark", sagt Andreas Jürgen Wulf, der nicht nur Bürgermeister von Augustdorf ist, sondern auch studierter Landschaftsplaner. "In einem Nationalpark soll man die Natur sich selbst überlassen. Nach internationalen Kriterien gilt dieser sogenannte Prozessschutz für 75 Prozent der Fläche." Diese Forderung kann das Gebiet nicht erfüllen, wenn die Heide konserviert wird. Das stimme zwar, entgegnet Karl Friedrich Sinner, Forstwissenschaftler und Vorstandsmitglied von Europarc Deutschland, dem Dachverband der großen Schutzgebiete. "Aber nach deutschem Naturschutzrecht sind 50 Prozent der Fläche erforderlich, und die sind in der Senne auf jeden Fall vorhanden, da der Anteil des Offenlandes gut 40 Prozent beträgt." Zudem habe man dreißig Jahre Zeit, die Zielvorgabe zu erreichen, wofür langfristig auch eine Einbeziehung des Wildnisgebiets Eggegebirge infrage komme. "Mit seiner Vielfalt an Sandflächen, Bachtälern, Wald- und Offenlandflächen fehlt uns genau so ein Park in der Riege der deutschen Nationalparks."

Noch wird hier allerdings jeden Tag scharf geschossen, der Übungsplatz ist nach wie vor in vollem Betrieb, und man sieht es: Als Fremdkörper ragen die blaugelbe Kuppel und das Minarett einer Moschee aus dem Heidemeer - die Kulisse eines zu Übungszwecken nachgebauten "Afghanistan-Dorfs", das Nato-Soldaten aus verschiedenen Ländern zur Vorbereitung auf Einsätze in Afghanistan diente. "Insgesamt ist der Truppenübungsplatz aber in einem guten Zustand", sagt Gerhard Lakmann. "Die britischen Streitkräfte haben ihn sehr umweltschonend behandelt."

Trotzdem findet man noch täglich Blindgänger, Hinterlassenschaften der Vorgänger der Briten. Für Erdmute von Voithenberg ist gerade das ein weiteres Argument für einen Nationalpark. "Auf eindeutig gekennzeichneten Wegen und mit Rangern kann man dieses Gebiet viel besser für künftige Besucher erschließen." Bei ihrem Kampf um einen Nationalpark hat sie in Johannes Remmel, dem Umweltminister in Düsseldorf, einen wichtigen Unterstützer. Er sagt: "Das erklärte Ziel des Landes NRW ist und bleibt die Einrichtung eines Nationalparks in der Senne. Die Senne ist der wertvollste Biotopkomplex in Nordrhein-Westfalen, ein echter Schatz der Artenvielfalt vor unserer Haustür."

Allerdings musste die Politik bei diesem Projekt auch schon Niederlagen einstecken. Vor drei Jahren schlugen die Pläne um die Einrichtung eines Nationalparks in der Region schon einmal hohe Wellen. Damals sollte das Schutzgebiet neben dem Truppenübungsplatz Senne und dem Eggegebirge auch noch Teile des Teutoburger Waldes umfassen. Private Waldbesitzer mobilisierten damals erfolgreich Widerstand, allen voran Stephan Prinz zur Lippe, dem allein ein Viertel des Waldes gehört, der für den Nationalpark vorgesehen war. Jetzt geht es erst einmal nur um die 12 000 Hektar des Truppenübungsplatzes, die fast komplett der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben gehören.

"Die Weite dieser Heidelandschaft kriegt man so in Deutschland nirgendwo zu sehen", sagt Johannes Wiemann-Wendt, der ebenfalls im Vorstand des Fördervereins Nationalpark aktiv ist. "Für mich ist das hier die deutsche Serengeti."

© SZ vom 31.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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