Süddeutsche Zeitung

Naturschutz:Halb so wild

Das Bundesamt für Naturschutz will zwei Prozent der Landesfläche Deutschlands zu Wildnis erklären - doch wo hat die Natur noch Platz?

Hanno Charisius

Deutschland soll wild werden - auf zwei Prozent seiner Landfläche. In diesem Umfang sollten in der Bundesrepublik Gebiete der Natur überlassen werden, fordert das Bundesamt für Naturschutz (BfN) anlässlich des Internationalen Jahrs der Biologischen Vielfalt und erinnert die Bundesregierung an ein altes Versprechen.

Vor drei Jahren formulierte diese selbst das Ziel, bis zum Jahr 2020 zwei Prozent der Landfläche Deutschlands der Natur zu überlassen. Doch seit 2007 Jahren ist das Land kein bisschen wilder geworden. Und das dürfte sich in naher Zukunft kaum ändern.

Nach Angaben des BfN liege der Wildnisgebietsanteil in Deutschland "bei optimistischer Schätzung" aktuell bei etwa 0,5 Prozent der Landfläche. Überwiegend handelt es sich dabei um die Kernzonen der Nationalparks. Als Wildnis bezeichnet das Amt Flächen, die ganz sich selbst überlassen werden.

Naturschutzgebiete sind keine Wildnis

In Naturschutzgebieten hingegen greift der Mensch gelegentlich ein, um den von ihm als schützenswert empfundenen Zustand zu erhalten. Da wird der Borkenkäfer bekämpft, wenn er einen geschützten Bestand befällt oder Wild gejagt, wenn es zu viele junge Triebe frisst. Mitunter ist sogar eine Bewirtschaftung erlaubt. All das gibt es in Wildnisgebieten nicht. Dort gibt es keine besonders schützenswerten Organismen. In der Wildnis gelten Borkenkäfer ebenso viel wie Luchs, Bär, Uhu oder Steinadler.

Die Verfechter dieses Konzeptes müssen gut begründen, warum der Mensch Wildnis braucht - nicht nur irgendwo auf dem Planeten, sondern direkt vor der Haustür.

Angesichts des drohenden Klimawandels seien Wildnisgebiete zum Beispiel "als Vergleichsräume und Lernflächen besonders wichtig, um natürliche Anpassungsprozesse zu studieren und daraus gewonnene Erkenntnisse zu ziehen, die letztlich für unsere genutzten Bereiche bedeutsam sind", heißt es in einem Schreiben des BfN.

Was sich dort ohne Hege des Menschen entwickelt, kann vielleicht einmal ein Landschaftsvorbild auch für die benachbarten Flächen sein.

Ein Argument haben die Wildnis-Befürworter hingegen nicht unbedingt auf ihrer Seite: Wildnis ist nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit größerem Artenreichtum. "Das Argument, dass man mit Wildnisgebieten die Biodiversität erhalten kann, ist zwar nicht falsch, aber es verschweigt, dass dazu ganz erheblich auch der klassische pflegende Eingriff in Naturschutzgebiete beiträgt", sagt Gisela Kangler, Landschaftsökologin von der Technischen Universität München.

Ohne es mit exakten Daten belegen zu können, vermuten Ökologen, dass die Artenvielfalt in unseren Breiten um das Jahr 1900 am größten war, als die Landschaft weitestgehend kultiviert war, aber noch nicht im industriellen Maßstab genutzt wurde.

Offene Kulturlandschaften wie extensiv bewirtschaftete Felder und Weiden, die Heide oder Truppenübungsplätze hätten viele Arten aufgefangen, als deren Lebensräume durch Siedlungen des Menschen oder durch Bewirtschaftung zerstört wurden, sagt Axel Ssymank vom BfN. Solche Landschaften solle man deshalb auch nicht verwildern lassen, sondern durch Naturschutzmaßnahmen erhalten.

Welche Flächen eigenen sich dann? Nach der Definition der Weltnaturschutzunion IUCN ist eine Wildnis ein "ausgedehntes ursprüngliches Gebiet, das eine weitgehend ungestörte Lebensraumdynamik und biologische Vielfalt aufweist". So etwas gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr. Von ein paar sehr kleinen Waldgebieten und einigen Bergregionen abgesehen hat der Mensch in den vergangenen Jahrhunderten jeden Quadratmeter Boden des Landes verändert. Hätte der Mensch zum Beispiel nicht so viele Fichten angepflanzt, weil ihr Holz sich so gut verkaufen lässt, "Deutschland wäre zu 80 bis 90 Prozent mit Buchen bewachsen", sagt Ssymank.

Also bleibt nur, Landstriche verwildern zu lassen; "Wildnis entwickeln" sagt Ssymank. Dazu müssten entsprechende Flächen ausgewiesen werden. Das Berlin-Institut empfiehlt, Menschen in ohnehin dünn besiedelten Landstriche etwa in Brandenburg Abwanderungsprämien zu zahlen und diese Regionen dann in Wildnisgebiete umzuwandeln. Auch die Umweltstiftung WWF erwartet, dass strukturschwache Regionen für den Naturschutz nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa zukünftig eine wichtige Rolle spielen werden.

Streit um das Wo

An der Frage, wo eine Wildnis entstehen soll, entbrennt jedes Mal heftiger Streit. Als etwa Teile des Bayerischen Waldes in einen Naturpark umgewandelt und die Borkenkäferbekämpfung dort eingestellt wurde, trieb das zerstörerische Werk der Insekten die Waldbesitzer in der Umgebung zu Protesten auf die Straße.

In Nordrhein-Westfalen wird gerade darum gerungen, ob in der Nähe von Siegen eine Wisent-Herde ausgewildert werden soll. Mit entscheidend dabei wird die Akzeptanz in der Bevölkerung sein. Nicht jeder wird es reizvoll finden, morgens beim Joggen einem Wildrind zu begegnen.

Wo die Landschaft ohnehin erst zur Wildnis umgewidmet werden muss, schließt das BfN auch Ansiedelungen von Pflanzen oder Tieren nicht aus "wenn die Bevölkerung damit einverstanden ist", sagt Ssymank.

Auch ohne Zutun des Menschen rechnet er damit, dass sich der Biber bald wieder deutschlandweit ausbreiten wird, genauso der Fischotter. Manche Ökologen halten es für nicht ausgeschlossen, dass auch Bären wieder nach Deutschland einwandern. Eine kleine Gruppe Wölfe lebt bereits unter scharfer Beobachtung durch den Menschen in Sachsen. Wahrscheinlich wird es das Beste sein, Pufferzonen um Wildnisregionen einzurichten - zu beiderseitigem Schutz.

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SZ vom 28.05.2010/mcs
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