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Naturphilosophie:Urknall im Mittelalter

Ein englischer Kleriker entwarf im 13. Jahrhundert eine Urknalltheorie: Eine Explosion aus Licht habe das Universum erzeugt. 800 Jahre später fasziniert der Bischof Physiker der Universität Durham. Sie rechnen seine Ideen nach.

Von Christoph Behrens

Das Mittelalter, eine dunkle Zeit, in der Analphabeten herrschten, und die Kirche wissenschaftlichen Fortschritt bekämpfte? Streckenweise mag dieses Bild stimmen, doch gab es auch Blütephasen kritischen Denkens und neuer Ideen. Das frühe 13. Jahrhundert war eine solche Phase in Europa, und der englische Gelehrte Robert Grosseteste einer ihrer Vertreter. Der Kirchenmann hatte in Paris studiert und stieg später zum Bischof von Lincoln auf. Er beherrschte die aristotelische Logik und verfasste zahlreiche naturphilosophische Abhandlungen - über die Hitze der Sonne, den Ursprung der Klänge, über Regenbögen, Kometen und Sterne.

Doch das wohl bemerkenswerteste Werk nannte er 1225 De luce - über das Licht. Grosseteste entwickelt darin erstmals die Idee, eine Art Urknall könne am Anfang des Universums gestanden haben - 700 Jahre, bevor die Idee eines "Big Bang" auch in die moderne Physik einging.

Explosion aus Licht

Physiker, Linguisten und Historiker um Tom McLeish von der Universität Durham haben die Werke Grossetestes nun genauer untersucht. In der Studie, die demnächst im Fachblatt Proceedings of the Royal Society A veröffentlicht wird, schreibt das Team, De Luce sei ein früher Versuch, das Universum mit einem festen Satz physikalischer Regeln zu beschreiben. Grosseteste verwendet darin bereits eine relativ fortgeschrittene Mathematik, er räsoniert über die Natur der Atome, den Zusammenhang von Licht und Materie.

Eine Art Explosion aus Licht habe das Universum erzeugt, vermutete der englische Kleriker. Dieses Licht habe sich von einem zentralen Punkt ausgebreitet und dabei an Dichte und Kraft verloren, bis es an eine äußere Grenze gelangt sei - quasi das Ende des Universums. Von dort habe sich eine zweite Welle nach innen ausgebreitet, und so insgesamt zehn Sphären geschaffen, für Sterne, Planeten und zuletzt die Erde.

Parallelen zum Multiversum

Zwar sind aus heutiger Sicht viele Annahmen in Grossetestes Argumentation unsinnig, etwa die Idee, die Erde stünde im Zentrum des Universums. Doch mathematisch ist sein Modell schlüssig. Die Forscher um McLeish haben die mittelalterlichen Ideen in sechs physikalische Formeln übersetzt und durchgerechnet. Die Ergebnisse passen demnach genau zum Weltbild einer zentralen Erde und äußeren "Himmelssphären", wie sie auch Aristoteles erwähnt.

Doch eine Sache verblüffte die Wissenschaftler: Ob sich nach Grossetestes Modell ein stabiles Universum entwickelt, hängt von sorgfältig gewählten Anfangsbedingungen ab. Die Bindungsstärke zwischen Materie und Licht musste stimmen, ebenso die Masseverteilung. Andernfalls schaffen die Simulationen unsinnige Welten, wo die einzelnen Sphären überlappen oder gar keine entstehen. Dies erinnert die Forscher stark an die moderne Theorie eines Multiversums, in dem unzählige Universen parallel existieren sollen.

Dass Grosseteste diese Möglichkeit vorhersah, darf bezweifelt werden. Jedoch ist es kein Zufall, dass er seine modern anmutenden Ideen zu jener Zeit entwickelte. "Die Naturphilosophie erlebte um 1200 einen Schub", sagt der Historiker Frank Rexroth von der Universität Göttingen. Viele Schriften etwa von Aristoteles seien aus Arabien nach Europa gekommen und dort begeistert aufgenommen worden. "Zugleich versuchte sich die Philosophie von der Theologie zu emanzipieren", sagt Rexroth. Deshalb habe Grosseteste wohl auch keinen Ärger mit kirchlichen Vorgesetzten bekommen: Er beging nicht den Fehler, seine Physik auf Fragen des Glaubens zu übertragen.

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SZ vom 19.03.2014/pai
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