Natur des Rechnens:Mathematik bei Mensch und Huhn

Tiere kommen mit Zahlen kaum zurecht - jene, die zählen können, kommen nur bis drei. Allerdings wird auch der Mensch nicht als Numeriker geboren, sondern muss den Umgang mit Ziffern und Zahlen erst mühsam lernen.

Lennart Pyritz

Hühner können zählen, allerdings nur bis drei. Genauer gesagt können sie eins von zwei sowie zwei von drei unterscheiden. Bei Vergleichen zwischen vier und fünf oder sechs und sieben hingegen ist ihr arithmetischer Verstand überfordert. Haben Hühner also Spatzenhirne?

HÜHNER PICKEN GETREIDE

Wer mehr Körner abbekommen hat? Das ist unter Hühnern eine schwer zu entscheidende Frage. Sie können zwar zählen, aber nur bis drei.

(Foto: DPA/DPAWEB)

Der Fairness halber muss gesagt werden: Nicht nur das Federvieh hat Probleme mit dem Zählen, vielmehr geht es allen Tieren so. Sogar der Mensch wird nicht als Numeriker geboren, sondern muss den Umgang mit Ziffern und Zahlen erst mühsam lernen. Es mag wie eine Kränkung der eigenen Spezies klingen, aber Babys ergeht es nicht viel anders als Salamandern.

Letztere können in Experimenten zwar eine von zwei und zwei von drei Fruchtfliegen unterscheiden. Müssen sie aber Mengen mit noch mehr Insekten identifizieren, so versagen die Lurche. Auch Rhesusaffen tun sich schwer. Im Experiment schaffen sie es zwar, aus zwei Kisten diejenige auszuwählen, in die zuvor eine größere Anzahl Apfelstückchen gelegt wurde - aber nur wenn einer der Behälter höchstens drei Stücke der süßen Belohnung enthält.

Viele Studien haben nachgewiesen, dass Tiere kleine Mengen gut unterscheiden können, aber sobald diese Menge vier oder fünf Einheiten überschreitet, werden die Ergebnisse ungenau", sagt Vanessa Schmitt, die am Deutschen Primatenzentrum in Göttingen das Mengenverständnis von Anubispavianen und Javaneraffen untersucht. In Einzelfällen können Schimpansen zwar die Zahlen bis acht lernen. "Ob das Tier das zu Grunde liegende Konzept dabei wirklich begriffen hat, ist allerdings umstritten, da jede Zahl einzeln und mühsam trainiert werden muss", gibt Schmitt zu bedenken.

Wenn man in Bezug auf Tiere von Zählen spricht, bedeutet das, sie können Mengen unterscheiden", sagt der Tierphysiologe Andreas Nieder vom Institut für Neurobiologie der Universität Tübingen. In mehreren vielbeachteten Studien hat Nieder überprüft, warum Rhesusaffen nur eine grobe Vorstellung von Zahlen haben, und warum diese Vorstellung mit zunehmender Größe noch ungenauer wird. Der Biologe zeigte den Tieren am Bildschirm eine Punktmenge. Nach einer Weile wurde eine neue Menge präsentiert. Um eine Belohnung zu erhalten, durften die Affen nur dann eine Taste drücken, wenn die beiden Mengen identisch waren. Gleichzeitig ermittelten die Forscher die Aktivität der Nervenzellen im Affenhirn.

Die Ergebnisse waren erstaunlich. Je nach präsentierter Punktmenge feuerten andere, gleichsam zahlenspezifische Nervenzellen. Allerdings zeigten die spezialisierten Zellen auch bei den jeweiligen benachbarten Zahlenwerten leichte Aktivität. Außerdem zeigte sich: Je größer die Zahl, auf die die Nervenzelle spezialisiert war, desto größer fiel auch die Spanne der benachbarten Zahlen aus, auf die sie ebenfalls reagierte. Das Gehirn der Rhesusaffen vollbrachte also keine exakte Verknüpfung zwischen Zelle und Zahl, sondern schätzte Mengen ungefähr.

Diese Leistung sei nicht zu unterschätzen, sagt Nieder. "Ich bin der Überzeugung, dass die Fähigkeit Mengen zu unterscheiden, für alle höher entwickelten Arten einen klaren Überlebensvorteil darstellt." Ein Gespür für Mengen verspricht zahlreiche Vorzüge, etwa beim Vergleich verschiedener Futterquellen. Oder zum Abschätzen der eigenen Chancen bei Konflikten zwischen zwei Gruppen: Ob beispielsweise Schimpansen oder Löwinnen ihr Revier gegen eine eindringende Gruppe verteidigen, machen die Tiere vom Verhältnis der Gruppengrößen abhängig: Sind die anderen zahlenmäßig überlegen, verzichten sie auf einen Angriff.

Auch das Amerikanische Blässhuhn nutzt sein Gespür für Mengen. Die Vögel überprüfen ab und an die Größe ihres Geleges und senken so das Risiko von Kuckuckskindern. Tierphysiologe Nieder vermutet daher, dass die natürliche Selektion die Fähigkeit fördere, Mengen korrekt einzuschätzen.

Wie aber hat der Mensch im Lauf der Evolution den Sprung hin zu komplexen mathematischen Fähigkeiten geschafft, zu Bruchrechnen und Dreisatz, das er täglich bei Einkäufen oder Steuererklärungen anwendet? Wie ist sein abstraktes Zahlensystem entstanden? Wann lernen Kinder, mit Zahlen umzugehen? Antworten liefern Besuche im Kindergarten und im südamerikanischen Dschungel.

Geboren mit einem einfachen Schätzsystem

Die Psychologin LisaFeigenson von der New York University und ihre Kollegen untersuchten das Zahlenverständnis von zehn bis zwölf Monate alten Kindern. Dazu legten sie vor deren Augen unterschiedlich viele Kekse in zwei Behälter und beobachteten anschließend das Verhalten ihrer krabbelnden Probanden. Die Kinder unterschieden souverän zwischen Schachteln mit einem und zwei beziehungsweise zwei und drei Keksen. Im Gegensatz dazu wurden sie fahrlässig, sobald sich mehr als drei Kekse in einem der Behälter befanden. Mit anderen Worten: Die Kleinkinder zeigten ein ähnliches Schätzsystem für Mengen wie Zahnkarpfen und Rhesusaffen.

Alles deutet darauf hin, dass auch der Mensch mit einem einfachen Schätzsystem zur Welt kommt", fasst Andreas Nieder die Studienlage zusammen. Den Umgang mit Zahlen müssen Kinder also erst mühsam lernen - ein Prozess, der Jahre dauert, wie ein Blick auf die eigene Schullaufbahn bestätigt. "Unsere rechnerischen Fähigkeiten sind sehr wahrscheinlich durch die Entwicklung der Sprache so weit vorangeschritten", sagt Vanessa Schmitt. Der Mensch kann nur exakt zählen, was er auch zu benennen vermag. "Erst die Etablierung abstrakter Symbole für die jeweiligen Zahlen hat es möglich gemacht, schwierige Rechenoperationen durchzuführen", so Schmitt.

Die Mundurukú, eine indigene Volksgruppe aus dem brasilianischen Amazonasgebiet, belegen dies. Die Mundurukú haben Wörter für die Zahlen eins bis fünf, für größere Mengen fehlen die entsprechenden Symbole. Tatsächlich können sie diese nur grob schätzen und ungenau vergleichen. Die Mitglieder des ebenfalls in Brasilien lebenden Stammes der Pirahã tun sich bereits schwer mit Mengen, die mehr als drei Elemente umfassen - ihr Zahlensystem kennt lediglich die Begriffe eins, zwei und viele. "Als relativ ursprünglich lebende Jäger- und Sammlergemeinschaften brauchen sie vermutlich kein abstraktes Rechensystem", erklärt Nieder den Unterschied zu anderen Kulturkreisen.

Tatsächlich ging es bis vor einigen tausend Jahren noch allen Menschen so. Erst etwa 4000 vor Christus entwickelten sich in Mesopotamien mit zunehmender Handelstätigkeit Symbole für Zahlen. Zuvor waren Zählsteine verwendet worden. Noch einmal sind einige tausend Jahre verstrichen, bevor die Null als Zahl entdeckt und benannt wurde - Voraussetzung für das Dezimalsystem und die moderne Mathematik.

Das ursprüngliche, grobe Schätzen von Mengen, das wir als Kleinkinder an den Tag legen, schlummert auch noch in mathematisch geschulten Erwachsenen moderner Gesellschaften, wie John Whalen von der University of Delaware und Charles Gallistel von der University of California in Los Angeles gezeigt haben. Die Psychologen untersuchten die Mengenwahrnehmung von Studenten in zwei einfachen Experimenten. Beide waren so angelegt, dass die Probanden keine Zeit hatten zu zählen. Zum einen wurden ihnen Zahlen von sieben bis 25 auf einem Bildschirm gezeigt. Sobald die Zahl erschienen war, sollten die Testpersonen so schnell wie möglich entsprechend oft eine Taste drücken.

Im zweiten Experiment mussten die Studenten Lichtblitze zählen, die nur Millisekunden nacheinander präsentiert wurden. Das Ergebnis: Ohne die Zeit, die Zahlen gedanklich als Wörter auszudrücken, ähnelten die Leistungen der Studenten ungefähr denen von Tieren in vergleichbaren Studien. Auch die menschlichen Probanden schätzten - und das umso schlechter, je größer die präsentierte Menge war. Wenn es um Zahlen geht, unterscheiden sich also Mensch und Huhn nicht allzu sehr.

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