Manchmal geht in der Wissenschaft plötzlich alles ganz schnell. Schon seit rund 60 Jahren zerbrechen sich Forscher etwa über den sogenannten Polarwind die Köpfe. Satelliten, die in den 1960er-Jahren in Hunderten Kilometern Höhe über die beiden Pole der Erde hinwegflogen, maßen damals einen stetigen Strom an geladenen Partikeln, die nach oben in den Weltraum entweichen, also entgegen der Gravitation des Planeten. Die Ursache dieser Teilchenflucht blieb aber ungeklärt.
Nun könnte ein viertelstündiger Raketenflug das Rätsel des Polarwinds gelöst haben. So legen Messdaten der Nasa-Mission „Endurance“ nahe, dass die Erde über ein drittes Energiefeld verfügt, das den Auftrieb bewirkt. Das „globale ambipolare Feld“ sei erdumspannend und damit so fundamental wie die Gravitation und das Magnetfeld des Planeten, berichten die Forscherinnen und Forscher in der Fachzeitschrift Nature.
Dass ein drittes Energiefeld um die Erde existiert, vermuten Wissenschaftler schon lange. Anders lässt sich der Polarwind aus geladenen Teilchen kaum erklären. Ein gewisser Auftrieb könnte zwar dadurch zustande kommen, dass die Strahlung der Sonne dazu führt, dass leichte Teilchen wie Elektronen aus der Atmosphäre herausgeschleudert werden – ähnlich wie Dampf, der aus einem Kessel mit heißem Wasser aufsteigt. Der Polarwind besteht jedoch überwiegend aus kühlen Partikeln. Darum vermuteten Forscher lange ein Energiefeld, konnten es aber nie nachweisen.
Das änderte sich erst am 11. Mai 2022. An diesem Tag hob von der norwegischen Insel Spitzbergen aus die Rakete Endurance ab, benannt nach dem Schiff des Polarforschers Ernest Shackleton, der 1914 in die Antarktis aufbrach. Der Ort für den Raketenstart war so gewählt, dass die Endurance möglichst genau dem Verlauf des Polarwinds folgen konnte. In rund 250 Kilometern Höhe begann die Messung, die Sonde erreichte eine maximale Höhe von 768 Kilometern, nicht ganz die doppelte Flughöhe der Internationalen Raumstation (ISS). 19 Minuten nach dem Start stürzte die Sonde bereits wieder ins Meer vor Grönland.
Dennoch reichte der kurze, parabelförmige Flug aus, um mithilfe eines neuen Instruments erstmals das ambipolare Feld nachzuweisen: Zwischen 250 und 768 Kilometern Höhe registrierte die Sonde eine Spannungsdifferenz von 0,55 Volt. „Ein halbes Volt ist fast nichts – das ist nur etwa so stark wie die Batterie einer Armbanduhr“, wird Glyn Collinson, der leitende Wissenschaftler der Mission, in einer Nasa-Mitteilung zitiert. „Aber das ist genau die richtige Stärke, um den Polarwind zu erklären.“
Das Feld entsteht durch die Dynamik innerhalb der Atmosphäre: Die Gravitation lässt die schwereren, positiv geladenen Atomkerne nach unten sinken, während der kleinste Stoß die viel leichteren, negativ geladenen Elektronen weit hinaus ins All katapultieren kann. Dadurch entsteht ein elektrisches Feld, das dem Gravitationseffekt entgegenwirkt.
Wasserstoffkerne, die im Polarwind am häufigsten anzutreffen sind, können so eine Beschleunigung erfahren, die mehr als zehnmal so groß wie die Erdanziehung ausfällt – genug, um sie mit Überschallgeschwindigkeit ins All zu schießen. Selbst deutlich schwerere Sauerstoff-Ionen verlassen auf diese Weise die Erdatmosphäre. Collinson vergleicht das mit einem „Förderband“, das die Atmosphäre Richtung Weltall drücke. Der Begriff „ambipolar“ verweist darauf, dass Kräfte auf beide Ladungen wirken: Die leichteren Elektronen werden von den schwereren Atomkernen nach unten gezogen, zugleich zerren Elektronen auf dem Weg nach oben an den schwereren Atomkernen wie ein Hund an der Leine.
Das ambipolare Feld könnte die Entwicklung der Atmosphäre auf der Erde entscheidend geprägt haben, vermuten die Forscher. Auch andere Planeten wie der Mars oder die Venus könnten über solche Felder verfügen, da in deren Atmosphären ähnliche Prozesse wirken müssten. Mit dem Nachweis des Feldes auf der Erde könnten diese Phänomene nun besser erforscht werden.