Zwischen Wiegen und Zählen liegen aber Welten, wie ein einfaches Beispiel zeigt. Zerteilt man einen Würfel von einem Zentimeter Kantenlänge mit der Oberfläche eines Zuckertütchens in Würfelchen von 1,25 Millimeter Kantenlänge, erhält man 512 Partikel, die zusammen die Oberfläche einer Spielkarte haben. Teilt man weiter, bis Würfelchen mit einem Nanometer Kantenlänge entstehen, ergeben sich eine Trilliarde Teilchen, deren gemeinsame Oberfläche einem Fußballfeld entspricht. Die Masse des Materials ändert sich dabei nicht.
Nanopartikel wehren gerucherzeugende Bakterien in T-Shirts ab, machen Tennisschläger stärker, lassen Schmutz von Lackschichten abperlen und erhöhen in Sonnencremes den Schutz vor UV-Strahlen.
(Foto: AP)Dass eine kleine Masse von Nanopartikeln eine derart riesige Oberfläche hat, ist einer der Gründe für die Besorgnis der Risikoforscher. Die große Oberfläche lässt chemische Reaktionen schneller ablaufen, was sowohl erwünschte wie unerwünschte Effekte haben kann.
Was bei Katalysatoren nützlich ist, kann im menschlichen Körper oder der Umwelt gefährlich sein. Mehrere Studien mit verschieden großen Partikeln hätten einen Zusammenhang zwischen der Teilchengröße und damit ihrer Oberfläche pro Masseneinheit und der entzündlichen Wirkung in der Lunge gezeigt, schrieben die Toxikologen Harald Krug und Peter Wick von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt in St. Gallen jüngst in einem Fachartikel.
Auch die Wissenschaft behandelt Nanomaterialien längst als eigene Stoffklasse. Seit etwa 2005 gibt es die Disziplin "Nanotoxikologie". Schon damals schrieb Günter Oberdörster von der University of Rochester: "Die Toxizität der Nanoform einer Substanz kann sich dramatisch von der größeren Form unterscheiden."
Dass Nanomaterialien anders sind, liegt nicht nur an der vergrößerten Oberfläche. Beim Verkleinern ändern Partikel oft ihre chemischen und physikalischen Eigenschaften. So erscheinen Nanopartikel aus Gold nicht gelb, sondern rot. Außerdem können Nanopartikel im Körper leichter transportiert werden und biologische Barrieren, etwa die Luft-Blut-Schranke, überwinden, wie deutsche Forscher vor kurzem für Titandioxid-Nanopartikel zeigten.
Solche Ergebnisse mag die Industrie offenbar nicht hören. Mit ihrem Widerstand will sie eine möglichst enge Definition des Begriffs Nanomaterial erreichen, damit möglichst wenig Produkte als Nanoprodukte gelten.
Um sich durchzusetzen, verwenden Industrievertreter Argumente, die wissenschaftlich klingen, es nach Expertenansicht aber nicht sind. Es sei unmöglich, die Anzahl von Nanopartikeln mit ausreichender Genauigkeit zu bestimmen, kommentierte der Lobbyverband Nanotechnology Industries Association den Definitionsvorschlag der EU-Kommission. Die Bestimmung des Massenanteils hingegen sei Routine.
"Diese Aussage der Industrie ist obsolet", sagt Wolfgang Kreyling vom Helmholtz-Zentrum München, Mitglied der SCENIHR-Expertengruppe. "Man kann auch die anzahlbezogene Größenverteilung präzise genug bestimmen." Das bedeute zwar einen Zusatzaufwand. Praktikabel sind die Verfahren dennoch, und sie würden bereits genutzt, wie Fachpublikationen aus der Industrie zeigten, sagt Kreyling.
Auch ein weiteres Argument der Industrie lässt der Biophysiker nicht gelten. Ein Großteil der bisherigen Risikoforschung würde wertlos, so der Nanotechnologie-Industrieverband, wenn die massenbezogene Größenverteilung nicht mehr verwendet würde, denn die bisher erhobenen Ergebnisse bezögen sich auf dieses Maß.
"Wir schlagen vor, die anzahlbezogene Verteilung als wichtigsten Parameter einzuführen, die Massengrößenverteilung aber weiterhin als zusätzlicher Parameter zu bestimmen, auch wegen der bisherigen Daten", sagt Kreyling. Die Ergebnisse alter und neuer Versuche blieben also vergleichbar.
Aber nicht nur bei der Definition, auch an anderer Stelle bremsen Industrieverbände. Politiker und Nichtregierungsorganisationen fordern, Sonderregeln für Nanomaterialien in der EU-Chemikalienverordnung Reach einzuführen.
Das Gesetz verlangt von Chemikalien-Herstellern und -Importeuren sicherzustellen, dass ihre Stoffe Mensch und Umwelt nicht schaden. Die Firmen müssen daher selbst alle Informationen zusammentragen, die nötig sind, um das Risiko eines Stoffes zu bewerten.
Reach gelte bereits für Nanomaterialien, damit sei für deren Sicherheit gesorgt, erklären Vertreter der chemischen Industrie. Hingegen heißt es in einer Studie des Umweltbundesamtes, die für Reach vorgeschriebenen Standardtests, mit denen die Giftigkeit von Chemikalien untersucht wird, seien nicht auf Nanomaterialien anwendbar und müssten angepasst werden.
Damit ein konkretes Nanomaterial ein eigenes Reach-Dossier mit eigenen Tests erhielte, müsste es als eigenständige Chemikalie eingestuft werden, was bislang aber nicht geschieht. Produkt X müsste also unabhängig von X in Nanoform beurteilt werden.