Süddeutsche Zeitung

Nahtoderfahrungen:"Der Tod ist ein potenziell reversibler Prozess"

Lesezeit: 4 Min.

In Nahtoderfahrungen sehen manche Wissenschaftler den Seelenbeweis. Oder handelt es sich nur um ein Feuerwerk der Neuronen? Forscher haben Leute gefragt, die dem Tod gerade noch einmal von der Schippe sprangen - und hörten von freundlich winkenden Frauen, warmem Licht und Städten aus Kristall.

Von Werner Bartens

Es wäre ja zu schön. Bevor es irgendwann richtig zu Ende geht, wartet da noch diese einmalige Premium-Erfahrung: Helle, schmeichelnde Farben, ein Gefühl der absoluten Ruhe, eingetaucht in warmes, goldenes Licht, vielleicht noch ein ordentlicher Regenbogen dazu. Ein himmlischer Augenblick, so ungefähr müsste sich das Paradies anfühlen.

Immer wieder berichten Menschen, die verschüttet waren, fast ertrunken oder nach einem medizinischen Notfall wiederbelebt worden sind, von den besonderen Momenten, die sie kurz vor dem gerade noch verhinderten Übertritt ins Jenseits erlebt haben. Angeblich wollen allein in Deutschland vier Prozent der Bevölkerung Ähnliches erlebt haben - das wären mehr als drei Millionen Menschen. Manche beschreiben die Erlebnisse gar als die schönsten, die sie je gehabt haben.

Schilderungen von Nahtoderfahrungen beinhalten oft den Klassiker "gleißendes Licht am Ende des Tunnels", bieten aber auch sonst ein faszinierendes Panoptikum an Sinneseindrücken. Der amerikanische Neurochirurg Eben Alexander berichtet gar davon, dass er im Koma "über Wolken gegangen" sei, mehrere Engel und schließlich Gott getroffen habe. Auf der Suche nach den Hintergründen aus dem Grenzbereich zwischen Leben und Tod berühren sich allerdings die Grenzen zwischen Neurobiologie, Religion, Esoterik und Mumpitz. Weniger phantasiebegabte Menschen sehen schlicht eine Minderdurchblutung des Gehirns als Ursache für derartige Erlebnisse an - die Neuronen spielten dem Bewusstsein schlicht einen letzten Streich.

Intensivmediziner um Sam Parnia von der Universität Stony Brook haben nun versucht, die Wahrnehmungen an der letzten Schwelle des Lebens auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen. Im Fachmagazin Resuscitation (online) von dieser Woche beschreiben sie, was jene erlebt zu haben glauben, die dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen sind. Von 2060 Menschen, bei denen nach Herzstillstand mit der kardiopulmonalen Wiederbelebung begonnen worden war, überlebten 330. Mit 140 von ihnen ließen sich anschließend Interviews führen, und immerhin 39 Prozent dieser Befragten konnten sich "an etwas aus der Zeit erinnern, in der sie bewusstlos waren".

Eine freundliche Frau winkte ihm von der Decke des Zimmers aus zu

Jene, die unscharfe Wahrnehmungen aus der Phase ihrer Bewusstlosigkeit zurückbehielten, hatten am häufigsten den Eindruck, dass alles um sie herum schneller oder langsamer ablief. Ein Fünftel erlebte den Zustand als angenehm schwebend und friedvoll. Jeder Achte spürte seine Sinne lebhafter, fühlte sich besonders aufmerksam und gab sogar an, sich fremd von seinem Körper zu erfahren.

Bei gerade mal neun der Patienten hatte das Ärzteteam den Eindruck, Nahtoderfahrungen geschildert zu bekommen, wie die Begegnung mit Familienmitgliedern oder auch den Anblick von weißem Licht, Pflanzen oder Tieren ("Ich sah Löwen und Tiger"). Einer der Überlebenden berichtete davon, dass "Gott ihn von der anderen Seite des Lebens zurückgeschickt" habe, "seine Zeit noch nicht abgelaufen" sei und er "noch viel zu tun habe". Auf seinem Rückweg sei er "durch einen Tunnel auf ein sehr starkes Licht zugekommen, das seine Augen aber nicht verletzt habe". Andere Menschen waren offenbar auch im Tunnel unterwegs, und dann sah der Mann "diese Stadt aus Kristall, mit kristallklarem Wasser". Er sah "schöne Menschen", hörte "einen wunderbaren Gesang" - und erblickte dann den Arzt, der ihn mittels Herzdruckmassage ins Leben zurückholte.

Ein 57-jähriger Sozialarbeiter aus dem britischen Southampton beschreibt gar, dass er nach einem Herzstillstand den Druck auf seinem Brustkorb gespürt und die Zurufe der Ärzte gehört habe ("jetzt der Elektroschock"). Eine freundliche Frau habe ihm sodann von der Zimmerdecke herab zugewunken. Im nächsten Moment sei er bei ihr gewesen und habe von oben auf sich selbst herabgeschaut und auf die Ärzte, die sich über ihn beugten und gerade dabei waren, sein Leben zu retten. Einer der Doktoren habe eine Glatze gehabt, ein anderer sei "ziemlich feist" gewesen: "Ich sah meinen Körper und wie sie bei mir den Blutdruck gemessen haben" - bis irgendwann eine Krankenschwester zu ihm sagte: "Sie waren weg, jetzt sind sie wieder bei uns."

Für Parnia, den Leiter der Studie, sind diese Befunde Anlass für den großen Rundumschlag. "Gegenläufig zur allgemeinen Einschätzung ist der Tod kein spezifischer Moment, sondern ein potenziell reversibler Prozess, der einsetzt, wenn Herz, Lunge und Gehirn in Folge schwerer Krankheiten und Unfälle die Funktion einstellen." Mit Hilfe der aktuellen Untersuchung lasse sich "objektiv feststellen, was tatsächlich passiert, wenn wir sterben". Schließlich habe der 57-Jährige während der Wiederbelebung zweimal Pieptöne gehört, die nur im Abstand von drei Minuten erklungen sind. "Normalerweise beginnt das Gehirn 20 bis 30 Sekunden nach Aussetzen des Herzschlages damit, seine Funktion einzustellen", sagt Parnia. "In diesem Fall müssen sich Wahrnehmung und Bewusstsein mindestens über drei Minuten erstreckt haben, ohne dass sein Herz schlug."

Neurowissenschaftler sehen indes eine Vielzahl anderer Erklärungen dafür, wenn Menschen ungewöhnliche Erlebnisse berichten, nachdem sie fast gestorben wären. Das Gehirn biete in letzter Not nochmals ein Feuerwerk neuronaler Entladungen auf und dazu gehörten eben auch Spezialeffekte inklusive Lichtblitzen und akustischen Halluzinationen. Bei Herzstillstand und Sauerstoffmangel könnten zudem die körpereigenen Schmerzmittel und Euphoriedrogen (Endorphine) der Wahrnehmung manchen Streich spielen, der im Nachhinein zu eigenartigen Erlebnissen verdichtet wird.

Psychiater und Psychologen wissen zudem, dass nach einem so einschneidenden Erlebnis häufig eine posttraumatische Belastungsstörung die Folge ist. Die beängstigende, lebensbedrohliche Situation werde dann im Nachhinein in ein angenehmeres Erlebnis umgedeutet, und ein selektives Gedächtnis hilft, manche Unannehmlichkeit zu vergessen. "Wir sollten die Studie als Anlass sehen, genauer zu erforschen, was während des Sterbens tatsächlich vor sich geht", sagt Jerry Nolan, Herausgeber der Fachzeitschrift Resuscitation.

Die Aussicht auf ein finales Licht-Wärme-Bad im goldenen Strahlenkranz spendet Trost

Der niederländische Kardiologe und Sterbensforscher Pim van Lommel hat ausführlich beschrieben, dass Erlebnisse, wie sie im Zuge einer Nahtoderfahrung geschildert werden, auch während schwerer Krankheiten wie Epilepsie und Depressionen auftreten können, die nicht lebensbedrohlich sind; zudem auch im Rahmen von Meditationen, unter Drogeneinfluss, bei Astronauten im Zentrifugaltraining und während akuter Bedrohungen. Aber auch er ist überzeugt, dass "Menschen ein klares Bewusstsein erfahren können, selbst wenn das Gehirn nachweislich nicht mehr funktioniert - das ist eine Erkenntnis, die uns zwingt, über Leben und Tod neu nachzudenken".

Wenn es tatsächlich ein Bewusstsein außerhalb des Körpers geben sollte, wie manche Autoren behaupten, stellt sich allerdings die Frage, warum nur so wenige Teilnehmer der Studie in diesen Genuss kamen. Nicht zu unterschätzen in der Beschwörung von Nahtoderlebnissen ist wohl auch das verständliche Bedürfnis vieler Menschen, der Angst und Ungewissheit angesichts des Todes die Hoffnung entgegenzusetzen, dass es so schlimm schon nicht werden wird. Unabhängig von der Stärke ihrer religiösen Überzeugung ist die Aussicht auf ein finales Licht-Wärme-Bad im goldenen Strahlenkranz ja tröstlich. Ob es tatsächlich und endgültig so kommt, wird die Wissenschaft allerdings nie herausfinden können. Studien zum Thema leiden an der unüberwindbaren methodischen Schwäche, dass sie sich nur mit Probanden durchführen lassen, die zwar fast, aber eben noch nicht ganz tot waren.

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Quelle:
SZ vom 11.10.2014
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