Nachforschungen über Männer und Frauen:Die Sache mit der Leidenschaft

Der erste Blick, die Länge der Finger, das Fremdgehen und die MHC-Gene - wie ein Wiener Professor versucht, dem Spiel der Geschlechter auf die Schliche zu kommen.

Achim Zons

Wien, im November - Ein eher ruhiger Arbeitstag ist das heute für ihn, nur drei Medientermine stehen an. In dem modernen Arbeitszimmer stehen ein paar Männer und blicken professionell-gelangweilt umher. Einer von ihnen, ein Kameramann, sagt, vor der Büste der nackten afrikanischen Frau wäre es doch ideal.

Karl Grammer

"Frauen sind untreu, weil sie wollen, dass der Nachwuchs für die Gefahren und Herausforderungen des Lebens das beste nur mögliche Rüstzeug bekommt." Karl Grammer im Präparationsraum seines Instituts.

(Foto: Foto: Achim Zons)

Der Mann mit den weißen Haaren hält das für keine gute Idee. Ein anderer Mann, Redakteur beim Österreichischen Fernsehen, schlägt vor, nach unten in den Präparationsraum zu gehen, da habe er ein paar Skelette und Totenköpfe gesehen, die passten doch perfekt zum Thema Liebe und Leidenschaft.

Findet der Herr Professor aber überhaupt nicht. Also einigen sie sich darauf, dass er - vermutlich als erster Mensch auf der Welt - vor einer Bücherwand sitzt, in dem auch viele seiner Bücher stehen, zum Beispiel das Buch "Signale der Liebe". Das ist okay, es dient ja der Sache. Und dafür scheut er nichts, nicht mal die Publizität.

Dann geht das Scheinwerferlicht an, der Ton läuft, und der begehrte Experte sagt die Sätze in eine Kamera, für die er in den vergangenen Jahren immer wieder sehr viel Aufmerksamkeit bekommen hat:

"Frauen sind untreu, weil sie wollen, dass der Nachwuchs für die Gefahren und Herausforderungen des Lebens das beste nur mögliche Rüstzeug bekommt."

Oder: "Ob ein Mann gerne fremd geht, erkennt man daran, dass sein Ringfinger länger ist als sein Zeigefinger."

Oder: "Männer schätzen ihre Chancen grundsätzlich höher ein, als sie tatsächlich sind, um nur ja keine Kopulation zu verpassen."

Oder: "Wir wissen, dass die Männer irgendwann verschwinden, in Millionen von Jahren, weil das Y-Chromosom immer kleiner wird. Der Mann ist also ein Auslaufmodell - aber ein paar Jahre bleiben uns ja noch."

Wo die Auswahl funktioniert

Nun gut, das erleichtert die Sache ein wenig und gibt uns die Möglichkeit zu erklären, warum wir den Weg hierher nach Wien gemacht haben.

Es ist in diesen Zeiten ja nicht unbeobachtet geblieben, dass es um das Zusammenleben zwischen Mann und Frau nicht allzu gut bestellt ist, dass offenbar reihenweise die Beziehungen auseinander brechen, dass die Menschen in großer Zahl unglücklich sind, dass die Gewalt unter Partnern steigt und die Zahl der Alleinlebenden rapide wächst.

So richtig toll scheint also die alltägliche Auswahl unter den Geschlechtern nicht zu funktionieren, weshalb es, dachten wir, nicht uninteressant sein könnte, einmal einen Spezialisten zu befragen, der es kraft seines Amtes und kraft seiner Forschungen auf diesem Gebiet zu großen Meriten gebracht hat.

Der 54 Jahre alte Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe Karl Grammer ist ein eher zart gebauter Mann mit viel Geduld und zurückhaltenden Gesten. Seine Bühne ist das Ludwig-Boltzmann-Institut für Stadtethologie, das man in einem Seitentrakt der Wiener Universität finden kann und das er zusammen mit seinem Lehrer, dem Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt, 1991 gegründet hat.

Ludwig Boltzmann, so viel Zeit muss sein, war so etwas wie der Max Planck Österreichs, ein Physiker, auf den die Boltzmann-Gleichung zurückgeht, mit der er Ende des 19. Jahrhunderts die Geschwindigkeit von Gasmolekülen errechnet hat.

Was das mit dem Verhalten von Mann und Frau zu tun hat? Grammer zuckt mit den Schultern. Boltzmanns Forschungsgebiet ist wohl ein ähnlich schwer zu überquerendes Minenfeld wie das zwischen Mann und Frau, vermutlich ist das Institut ja deshalb nach ihm benannt worden.

Der erste Zehn-Sekunden-Blick auf Karl Grammer lässt erkennen, dass er wohl über eher wenig Testosteron verfügt. Der Körper, geschmackvoll gewandet in ein schwarzes Polohemd und eine hellgraue Hose, ist insgesamt schlank. Ob seine Ohrläppchen gleich groß sind, lässt sich in den zehn Sekunden leider nicht ermitteln, Aussagen über die Symmetrie und Attraktivität müssen also zurückgestellt werden.

Symmetrisch bedeutet attraktiv

Dass man überhaupt auf so etwas achtet, ist natürlich kein Zufall, Grammers eigene Untersuchungen haben den Blick dafür geschärft. Denn als attraktiv wird vor allem derjenige empfunden, dessen Gesichtshälften völlig symmetrisch sind.

"Symmetrie ist ein Signal guter Gene, und ein makelloser Körper ist ebenfalls ein Signal guter Gene", sagt er und zupft sich ganz zufällig an beiden Ohrläppchen gleichzeitig. Natürlich ist das nicht das einzige nennenswerte Ergebnis seiner Arbeit, schließlich versucht man an seinem Institut schon seit fast 15 Jahren, dem Spiel der Geschlechter auf die Schliche zu kommen.

Grammers erste Erkenntnis, mit der er in diesem Forschungszweig auf sich aufmerksam gemacht hat, ist diese Sache mit den zehn Sekunden. In nur zehn Sekunden entscheide sich, ob etwas läuft zwischen zwei Menschen.

In dieser winzigen Zeitspanne checke vor allem die Frau, ob der auf sie zukommende Mann ein idealer Kandidat für Nachwuchs ist, und zwar checkt sie das nach einem Programm, das vor Jahrtausenden geschrieben wurde.

Denn unser Gehirn, so Grammer, sei im Laufe der Evolution darauf trainiert worden, aus Äußerlichkeiten relativ schnell abzuleiten, welche Anlagen die andere Person habe.

Hat dieser Kerl Eigenschaften, die dem Nachwuchs nutzen?, fragt sich die Frau. Und vor allem: Ist sein Immunsystem eine Ergänzung zum eigenen Immunsystem? Denn nur dann habe der Nachwuchs eine größere Chance, den Gefahren zu trotzen.

Alles verstanden, Herr Professor, bis auf eines: Wie kann eine Frau so schnell erkennen, ob der Mann vor ihr ein anderes Immunsystem hat?

"Ja, das ist die zentrale Frage", antwortet Grammer und schaut aufmerksam auf seinen Ringfinger, der länger ist als sein Zeigefinger.

Die Sache mit der Leidenschaft

"Sie checkt das über den Geruch, über die so genannten MHC-Gene." Und, nach einer kurzen Pause: "Kommen Sie. Es ist nicht ganz einfach, das zu verstehen."

Wir müssen also ins Herz der Forschungen vorstoßen, anders wird es nicht gehen. Die Universität ist ein Betonklotz von eher diskretem Charme, und wenn man durch die schlichten Gänge geht, vermisst man den Hauch von Romantik, den man eigentlich hier erwartet hätte.

In zehn Sekunden wissen Sie alles

Auf dem Weg hinunter zum Präparationsraum, der kein Präparationsraum mehr ist, erste Hinweise: Fotos von attraktiven Frauengesichtern, Bilder von simulierten Emotionen, auf einem Tisch ein französisches Magazin namens Science Vie mit der auf der Titelseite prangenden Frage "Warum zwei Geschlechter?"

Unten dann der riesige Raum, unterteilt von Büroschränken, Stellwänden und Leichentischen, die heute keine Leichentische mehr sind, aber an eine Zeit erinnern, als hier noch anatomische Studien betrieben wurden. Daneben weiße Skelette und Schädel von Tieren und Menschen.

Nur wenige Meter davon entfernt, hinter einer stoffbespannten Stellwand, ein Stuhl, hell erleuchtet von dem gleißenden Licht zweier großer Scheinwerfer. Auf dem Stuhl sitzt eine junge Frau, die gerade von einer anderen jungen Frau fotografiert wird. Da passiert es.

Hirnregionen, abgeschaltet

In zehn Sekunden wissen Sie alles, hatte der Meister gesagt. Also schauen wir so aufmerksam wie nur möglich, als die junge Frau, die gerade fotografiert hat, näher kommt - und tatsächlich, sofort arbeiten die Neuronen und Synapsen im Gehirn auf Hochtouren.

Gedanken blitzen auf, blitzschnell wird die Frau gescannt: Alter, Mimik, Gang, Geruch. Sie ist hübsch. Gesichtshälften offenbar symmetrisch. Nackter Bauch. Blond. Ein wunderbares Lächeln, schlank, aber ein bisschen klein . . .

Man kann eine Menge denken in zehn Sekunden, aber jetzt sind sie fast vorbei, und da steht plötzlich senkrecht die Frage unter der Schädeldecke: Warum kommt sie nur näher?

Weil sie offenbar etwas will. Und sie sagt: "Mein Name ist Pamela Schreiner. Hätten Sie nicht Lust, an unserem Feldversuch teilzunehmen?"

Doch erst einmal die Pflicht, dann die Kür. Klar ist so viel: Bei der ersten Wahrnehmung einer Person arbeiten ungefähr 100 Milliarden Nervenzellen nahezu gleichzeitig.

Im Extremfall, also der leidenschaftlichen Liebe, werden das rechte Stirnhirn und Teile des Mandelkerns deaktiviert. Das heißt, in dem speziellen Erregungszustand der Liebe sind die Hirnregionen abgeschaltet, die mit negativen Gefühlen einhergehen, also Trauer, Angst, Aggressionen.

Klar ist deshalb auch, dass die an diesem Institut betriebenen Forschungen sehr schnell Eingang finden in Zeitungen außerhalb des Wissenschaftsbetriebs.

Zum einen, weil dieses Thema Männer und Frauen gleichermaßen interessiert und so manche Auflage steigern hilft. Zum anderen, weil es außerhalb der Vereinigten Staaten nur wenige Institute gibt mit dem Renommee des Ludwig-Boltzmann-Instituts - vor allem und ganz besonders im Bereich der Pheromon-Forschung.

Irritation bei Anzüglichkeiten

Man kann also guten Gewissens behaupten, dass man hier mittlerweile etwas weiter ist als der erste große Frauenerforscher Karl Kraus, der, auch hier in Wien, seine praktischen Studien in den für ihn ungewöhnlich platten Satz zusammenfasste: "Es kommt gewiss nicht nur auf das Äußere einer Frau an. Auch die Dessous sind wichtig."

Inzwischen aber hat sich so einiges getan, auch in puncto Sensibilität, und es ist bestimmt nicht falsch, darauf hinzuweisen, dass es die ernsthaft arbeitenden Verhaltensforscher schon etwas irritiert, wenn sich der eine oder andere Betrachter bei diesem Thema zu Anzüglichkeiten hingezogen fühlt.

Also ganz kühl: Der Mann, so das Ergebnis evolutionsbiologischer Studien, ist in erster Linie auf der Suche nach einer Frau, die fruchtbar ist. Doch woran erkennt er das?

Die Sache mit der Leidenschaft

Fragt man ihn, was ihm bei einem weiblichen Wesen wichtig ist, so antwortet er, auf das Gesicht bezogen, fast immer: volle Lippen, große Augen, glatte Haut, schmaler Kiefer, dezente Augenbrauen - also alles Kriterien, die auf einen hohen Östrogen-Anteil hinweisen.

Das ist nicht überraschend, weshalb Männer als Forschungsobjekt schon längst keine Herausforderung mehr sind für die Wissenschaftler.

Also richten sie das Scheinwerferlicht auf die andere Seite. Man könnte meinen, dass Frauen testosteronüberflutete Männer attraktiv finden, also Männer mit einem kantigen Kiefer, eher schmalen Lippen und kleinen Augen unter eindrucksvollen Überaugenwülsten.

Doch mitnichten. Grammer verweist da vor allem auf eine Studie der Psychologen Lisa DeBruine und Dave Perrett von der University of St. Andrews in Schottland. Das verblüffende Ergebnis: Frauen fühlen sich viel mehr von weniger männlichen Gesichtszügen angezogen.

Und da verbindet sich aufs Schönste die Evolutionsbiologie mit der Untersuchung der Attraktivität und der Pheromonforschung. Denn den jeweiligen Anteil des Testosterons scheinen Frauen erschnuppern zu können, und zwar über die erwähnten MHC-Gene.

Mit deren Hilfe nämlich produziert der Körper Moleküle, die dem Immunsystem Eindringlinge melden. Und je mehr MHC-Varianten, umso besser die Abwehrkraft, so Grammer. "Man weiß zwar nicht genau, wie Menschen die Resistenzgene erschnuppern, man weiß nur, dass sie es tun."

Doch dann geschah das Undenkbare: Nichts passte mehr. Immer mehr Studien widersprachen sich. Einmal mochte Madame den Duft der Machos, ein andermal mochte sie ihn nicht.

Schließlich fanden die britischen Forscher um Dave Perrett eine Antwort: Die Frau will zu unterschiedlichen Zeiten ihres Monatszyklus etwas anderes.

In der empfängnisbereiten Zeit wünscht sie sich eher den maskulineren Mann, weil dessen Immunsystem in Bezug auf Nachwuchs erfolgreicher ist - und mit dem geht sie dann auch gerne fremd. Ansonsten bevorzugt sie den fürsorglichen und eher femininen Lebensgefährten, weil der bei der Aufzucht zuverlässiger - und insgesamt treuer ist.

Es ist Abend geworden. Wir stehen für ein paar Minuten draußen auf der Steintreppe vor dem Haupteingang der Universität und schauen dem Treiben unten auf der Straße zu.

Da kommt Pamela Schreiner, die Studentin der Anthropologie, durch die große Glastür heraus, einen Laptop unter dem Arm. Sie hat es eilig, schließlich geht es bei ihrem Feldversuch um ein Experiment für ihre Diplomarbeit.

"Haben Sie nicht Lust, an unserem Feldversuch teilzunehmen", hatte sie gefragt, und der Reporter hat dummerweise "Ja" geantwortet, hat sich auf das Stühlchen und in das gleißende Scheinwerferlicht gesetzt und sich fotografieren lassen.

Und jetzt geht diese junge Studentin mit den Bildern vieler wunderbarer Frauen und dem einen Bild eines zerknitterten Gesichts in eine Kneipe oder eine Gastwirtschaft und fragt die Leute, ob sie die Gesichter schön und attraktiv finden.

Und dann, gegen Mitternacht, wenn die Menschen ganz viel getrunken haben, geht sie noch einmal hin, zeigt dieselben Gesichter denselben Personen und fragt, wie schön und attraktiv die Gesichter denn jetzt sind.

Manchmal findet man eben nicht nur die Frage für eine wissenschaftliche Arbeit an Stammtischen - sondern auch die Antwort.

Das Geheimnis der Untreue

Wie das jetzt alles weitergeht mit dem desolaten Zustand der Beziehungen, kann nur vermutet werden. Vielleicht werden immer mehr Menschen allein leben, vielleicht tun sich Mann und Frau eines Tages nur noch für ein paar Minuten zusammen, wenn sie Kinder haben wollen, und gehen sonst ihrer eigenen Wege, bis die Männer ausgestorben sind.

Die Sache mit der Leidenschaft

Schon gut, manchmal werden Grammers Erkenntnisse wirklich zu weit zugespitzt, und man versteht sehr gut, dass er Medienmenschen nur bedingt schätzt, weil sie doch gerne alles verkürzen oder auf Schlagworte reduzieren, und wenn es kompliziert wird, dann fragen sie ihn manchmal sogar, ob er nicht etwas Vorformuliertes in der Schublade habe.

Aber wie ist das denn nun mit dem langen Ringfinger und dem kürzeren Zeigefinger und der Untreue, es kann auch ruhig etwas komplizierter sein . . .

Da lehnt er sich zurück, der Herr Professor, jetzt wieder in seinem schwarzen Lederstuhl im Büro, zündet sich eine weitere Zigarette an, die mitzuzählen überflüssig ist, weil er fast ununterbrochen raucht, und sagt milde lächelnd:

"Die Fingerlänge ist eine Hormoninformation. Pränatales Testosteron führt dazu, dass der Ringfinger länger wird als der Zeigefinger. Bei Frauen ist das in der Regel umgekehrt. Und Männer mit einem hohen Testosteronanteil sind nun mal nicht so treu wie andere."

So ist die Natur, sie kann nichts geheim halten. Deshalb zurück in ungefährliche Gewässer. Wenn das Auswahlverfahren unter den Geschlechtern so ausgetüftelt ist - warum geht es dann so häufig schief? Warum liegen die Frauen bei ihrem Grundlagencheck so oft daneben?

Grammers Antwort kommt prompt: "Es ist alles eine Frage des Samples, der Auswahlgruppe. Im Zeltlager, im Urlaub, am Arbeitsplatz, im Fitnessclub, im Sportverein - überall sucht sich die Frau automatisch den für sie passendsten Partner, denn sie flirtet immer. Aber der jeweilig Beste muss nicht zwangsläufig auch generell der Beste sein."

Außerdem gebe es, aufs Ganze gesehen, bei den Menschen genug Nachkommen, das Überleben des homo sapiens sei also gesichert, auch wenn die Auswahl im Einzelfall ungenügend ist.

Und wo bleibt das Glück?

Da springt er auf, es ist schon dunkel, die Studenten haben längst das Institut verlassen, er geht zum Schreibtisch und zündet sich eine neue Zigarette an. "Wer sagt denn, dass das Zusammenleben von Mann und Frau glücklich sein muss?"

"Würde doch vieles erleichtern."

"Vergessen Sie's. Glück ist keine Kategorie der Evolution. Die Natur kennt keine Romantik. Die Natur kennt nur das Überleben des Stärksten."

Mein Gott, denkt man beim Rausgehen, was für ein trauriges Ende. Ein Wunder, dass es manchmal gut geht.

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