Mysteriöses Kälbersterben:"Als würden sie Blut schwitzen"

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Die Symptome erinnern an Ebola: Immer mehr Kälber verbluten innerhalb von Stunden. Die Tiermediziner stehen vor einem Rätsel.

Hanno Charisius

Kurz nach ihrer Geburt bekommen Kälber in Deutschland eine Marke ans Ohr geheftet. Ein kleiner Stich, und ihr Erkennungszeichen sitzt. Wenn das richtig gemacht wird, sieht man nicht einmal einen Tropfen Blut. Normalerweise.

Immer mehr Kälber verbluten, nachdem sie die Ohrmarken bekommen haben. Doch auch ohne diesen Eingriff sterben manche Tiere. (Foto: Foto: AP)

Seit etwa einem Jahr mehren sich jedoch Berichte, nach denen manche Tiere beim Einziehen der Ohrmarken zu bluten beginnen, so heftig, dass sie schließlich verenden.

Bei anderen Kälbern treten die unstillbaren Blutungen gar ohne äußerlich erkennbaren Grund auf: An mehreren Stellen des Körpers tritt plötzlich Blut durch die Haut. Manche Tiere bluten auch aus Körperöffnungen und in ihre Eingeweide.

Meist verenden sie wenige Stunden nach dem ersten Auftreten der rätselhaften Symptome, die an eine Infektion mit dem mörderischen Ebola-Virus erinnern. "Es ist, als würden die Kälber Blut schwitzen", sagt ein Bauer über den Todeskampf eines seiner Tiere.

Hohe Dunkelziffer vermutet

Von 110 Fällen allein in Bayern weiß der Präsident des Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) Andreas Zapf zu berichten. Bundesweit sei von 150 verendeten Tieren die Rede, "verschiedene Rassen sind betroffen". Genaue Zahlen kenne niemand, da es bislang keine Meldepflicht gebe, sagt Zapf. "Wir kennen derzeit nur die Fallzahlen auf Grundlage der zur Untersuchung eingelieferten Tiere."

Er vermutet eine hohe Dunkelziffer. Auch sei derzeit unklar, ob die Zahl der Fälle noch steige. Es könnte auch sein, dass die zunehmende Aufmerksamkeit für das Phänomen mehr Meldungen auslöst. Über derlei im Alter von zwei bis drei Wochen verblutende Kälber außerhalb Deutschlands gibt es nur sporadische Berichte.

Über die Ursache der mysteriösen Krankheit rätseln Veterinärmediziner in ganz Deutschland. Eine Infektion mit einem bekannte Erreger könne derzeit ausgeschlossen werden, sagt der Chef-Virologe Mathias Büttner vom LGL. Bislang war die Fahndung nach Viren oder Bakterien erfolglos. Gegen eine Infektionskrankheit spricht auch, dass es keinen Hinweis auf eine Übertragung zwischen Kälbern gibt.

Das Knochenmark ist geschädigt

Auch eine Vergiftung durch Futter oder Medikamente könne ausgeschlossen werden, erklärt Ottmar Distel von der Tierärztlichen Hochschule Hannover.

Bei amerikanischen und australischen Wiederkäuern hatten Farnpflanzen ähnliche Symptome hervorgerufen. Auch das Antibiotikum Furazolidon kann spontane Blutungen auslösen. Doch in den Proben der verendeten Kälber konnten die Toxikologen keine Spuren dieser Substanzen aufspüren.

Die Experten bezeichnen das Krankheitsbild als hämorrhagische Diathese, eine gesteigerte Blutungsneigung. Es hat sich gezeigt, dass die betroffenen Tiere eine Gerinnungsstörung haben, weil das Knochenmark geschädigt ist. "Vor allem die Thrombozyten fehlen", sagt Mathias Büttner, die für die Blutgerinnung wichtig sind. Bei vielen sezierten Kälbern sei das Knochenmark, in dem normalerweise Blutzellen und Gerinnungsfaktoren gebildet werden, "komplett leer" gewesen, sagt Büttner.

Die bislang heißeste Spur sehen Tiermediziner im sogenannten Kolostrum, der ersten Milch, die Kälber vom Muttertier bekommen, bevor der Bauer sie auf Milchersatz umgestellt. Sie vermuten, dass darin Antikörper schwimmen, die sich fatalerweise gegen das Knochenmark der Kälber richten.

Für diese These spricht der Fall eines Bauern, der mit Kolostrum einer Kuh vom Nachbarhof ein eigenes Jungtier fütterte, woraufhin dieses zu bluten begann. Nun ist die entscheidende Frage, was Muttertiere dazu bringen könnte, Antikörper zu bilden, die für Kälber gefährlich werden können.

Vielleicht ist es ein Impfstoff oder ein Medikament, das Kühe mit einer empfindlichen genetischen Ausstattung dazu bringt, Abwehrstoffe zu produzieren, die zufällig gleichzeitig ihren Nachwuchs attackieren. Es könnten aber auch bislang unbekannte Krankheitskeime sein. Diese könnten mit aufwendigen Genanalysen im Blut der Muttertiere gefunden werden.

Fragwürdiger Erfolg der Homöopathie

Eine andere Hypothese wird in Internetforen diskutiert: genetisch veränderter Mais. Das gentechnisch gegen Fraßinsekten resistent gemachte Futter könnte demnach zu einer Immunreaktion bei den Muttertieren führen, die Abwehrstoffe produzieren, die das Knochenmark von Kälbern zerstören. Auf die Beteiligung von genetisch verändertem Mais gebe es jedoch "keinen Hinweis", erklärt Wolfgang Klee, Leiter der Klinik für Wiederkäuer an der Universität München.

Klee räumt auch mit dem Bericht über die erfolgreiche Therapie eines verblutenden Kalbes durch eine Tierheilpraktikerin auf. Mit einem homöopathischen Mittel aus verdünntem Schlangengift, wolle sie ein krankes Tier gerettet haben, heißt es im Bayerischen Landwirtschaftlichen Wochenblatt.

"Die Blutveränderungen bei dem fraglichen Kalb entsprachen nicht unseren Definitionskriterien für eine hämorrhagische Diathese", so Klee. Da die Blutprobe, die ihm zur Verfügung gestellt worden sei, aber einige Tage nach der Behandlung genommen wurde, behaupte die Tierheilpraktikerin, die Normalisierung des Blutbildes sei auf ihre Behandlung zurückzuführen, erläutert der Tiermediziner. "Das halten wir nicht für möglich."

Mit seinen Kollegen hat sich Klee daran gemacht, die Spuren in der Milch zu verfolgen. "Voraussetzung ist allerdings die Bereitstellung von ausreichenden Mitteln durch das Ministerium."

Die Anträge gemeinsam mit dem LGL seien gestellt, die Bewilligung stehe noch aus. Sein Kollege Distel aus Norddeutschland springt ihm bei: Eine so große Zahl von so grausamen Ereignissen stelle "ein sehr ernsthaftes Problem" dar. "Der Staat muss dem eine hohe Priorität einräumen."

© SZ vom 05.03.2009/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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