Süddeutsche Zeitung

Betreuung von Babys und Kleinkindern:Krippen schaden nicht

Müssen Mütter ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihre Kinder vor dem dritten Geburtstag Fremden anvertrauen? US-Psychologen ziehen ein Fazit aus 50 Jahren Forschung.

Christina Berndt

Die irritierten Blicke ist Raina Cravciuc schon gewohnt. Wenn die Gruppenleiterin einer Kinderkrippe in München-Sendling mit ihren Schützlingen im Sechser-Wagen ausfährt, begegnet sie immer wieder besorgten Passanten: "So klein und schon im Kindergarten", sagen sie voller Mitgefühl.

Die Ansicht, Kinder gehörten drei Jahre lang ausschließlich in die Obhut der Mutter, ist in Deutschland noch weit verbreitet. In kaum einem anderen Land werden Mütter derart von schlechtem Gewissen verfolgt, wenn sie ihre Kinder vor dem dritten Geburtstag Fremden anvertrauen.

Die Sorgen aber sind meist unbegründet, besagt noch einmal eine aktuelle Übersichtsarbeit, die Literatur zur Krippenforschung aus den vergangenen 50 Jahren zusammenfasst (Psychological Bulletin, Bd.136, S.215, 2010).

"Kinder, deren Mütter schon vor dem dritten Lebensjahr an den Arbeitsplatz zurückkehren, haben später nicht häufiger Schul- oder Verhaltensprobleme als Kinder, deren Mütter zu Hause bleiben", folgern die Entwicklungspsychologen um Rachel Lucas-Thompson vom Macalester College in Minnesota; sie haben 69 Studien aus den Jahren 1960 bis 2010 zusammengefasst.

Viele Studien verfolgten die Kinder bis ins Erwachsenenalter. "Frauen, die bald wieder anfangen zu arbeiten, sollten sich nicht allzu sehr um das Wohlbefinden ihrer Kinder sorgen", so Lucas-Thompson.

Kinder profitieren demnach sogar davon, dass die Mütter arbeiten gehen. Dies gilt vor allem für den Nachwuchs von Alleinerziehenden und aus Familien mit niedrigem Einkommen. Sie schnitten in Intelligenztests besser ab und waren seltener aggressiv oder übertrieben ängstlich als die Sprösslinge von vergleichbaren Müttern, die nicht arbeiteten.

Ähnliches ergab vor kurzem auch eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung an über tausend deutschen Kindern. Die Krippenkinder unter ihnen gingen später mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit aufs Gymnasium, auch wenn die Eltern selbst kein Abitur hatten.

Kinder aus privilegierten Familien profitierten der neuen Analyse aus den USA zufolge nicht so stark - vor allem dann nicht, wenn die Frauen ihren Job schon im ersten Jahr nach der Geburt wieder aufnahmen. Womöglich stützten die Krippen die Kinder in diesem Alter emotional weniger, als dies die Mütter könnten, folgert Lucas-Thompson.

Das hänge vor allem von der Qualität der Einrichtungen ab, betont Lieselotte Ahnert, Expertin für frühe Bindung an der Universität Wien. Gerade kleine Kinder bräuchten eine zuverlässige, feinfühlige Person, die sich ihnen widmet.

"Gleichwohl ist Übermutterung nichts Gutes", betont Ahnert. Nach dem ersten Lebensjahr seien "erweiterte Sozialkontakte" der Entwicklung förderlich. Das Kind solle erste Schritte in die Welt tun, damit es losgelöst von der Mutter eigene Erfahrungen machen könne. Deshalb seien es auch nicht nur die Kinder mit niedrigem sozialen Status, denen Krippen nützen, ergänzt die Heidelberger Entwicklungspsychologin Sabina Pauen, sondern "auch die überbehüteten Kinder".

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Quelle:
SZ vom 17.11.2010/mcs
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