Musik im Hirn:Vom Klang der Seele

Früher sangen hier Nonnen des Couvent des Sœurs de Marie-Repatrice in einer Kapelle. Heute ergründen Forscher am kanadischen Brams-Institut, warum Musik die Menschen so sehr berührt.

Hubertus Breuer

Eigentlich war Isabelle Peretz in das Aufnahmestudio des kanadischen Radiosenders CBC gekommen, um Anrufern Fragen zum Thema "Musik und Gehirn" zu beantworten.

Musik im Hirn: Miles Davis in Concert:  Wo musiziert wird, spielen so ziemlich alle Areale des Gehirns mit - zum Beispiel.

Miles Davis in Concert: Wo musiziert wird, spielen so ziemlich alle Areale des Gehirns mit - zum Beispiel.

(Foto: Foto: AP)

Für das Thema war die Neuropsychologin von der Université de Montréal prädestiniert, schließlich hatte sie im Jahr zuvor das "Laboratory for Brain, Music, and Sound Research" (Brams) mitgegründet, das weltweit erste Institut, das sich dem Zusammenspiel von Tonkunst und Neuronen widmet. Da lag es nahe, die öffentliche Aufmerksamkeit zu erhöhen und dem Zentrum ein wenig Bekanntheit zu verschaffen.

Doch dann war Gwen in der Leitung. "Ich bin während der Weltwirtschaftskrise aufgewachsen. Wir hatten keinen Strom auf unserem Einödhof, wir waren arm", erzählte die betagte Dame. "Wir haben nie Musik gehört. Seitdem kann ich Musik nicht leiden. Was unterscheidet eine Symphonie von einer Heulsirene?"

Da erwachte die Forscherneugier in Isabelle Peretz. Sie begann, die alte Dame während der Radiosendung über deren Musikerfahrungen auszuhorchen - Wiegenlieder? Kirchengesang? - und lud sie schließlich zu Tests in ihr Labor ein. Peretz ist eine führende Expertin für sogenannte Amusiker - Menschen, für die Musik nicht anders klingt als klapperndes Porzellangeschirr.

Das Brams-Labor residiert in einem weitläufigen Gebäude aus den 1920er-Jahren am Fuße des Mont Royals in der Mitte Montréals. Früher sangen hier Nonnen des Couvent des Sœurs de Marie-Repatrice in einer Kapelle. Dann wurde das das Gebäude an die Université de Montréal verkauft.

Seit dem vergangenem Jahr kundschaften hier Neurologen, Psychologen, Akustiker und Mathematiker die verschlungenen Wege aus, auf denen das Gehirn Schall, Sprache und vor allem Musik verarbeitet. "Weltweit ist dieses Team die Nummer Eins", sagte der Musikforscher Jamshed Bharucha von der Tufts University in Massachusetts im Wissenschaftsjournal Science.

Das Labor ist gut ausgestattet. In Kernspintomografen verfolgen die Wissenschaftler die Leuchtspuren der Musik durch die Großhirnrinde, mit einer 80Kanal Surround Sound Audiostimulationskugel simulieren sie jede denkbare akustische Umwelt. Ein Bösendorfer-Flügel erfasst mithilfe von Messfühlern jede Nuance eines Klavierspiels.

Und in einem Hightech-Konzertsaal können die Wissenschaftler bei Bedarf mittels drahtloser Sensoren Atemfrequenz, Puls, Mimik und Hautleitwert der Musiker und des Publikums aufzeichnen. Hinter all dem Aufwand steht die große Frage, warum Musik den Menschen so fasziniert, welche Rolle sie für die Entwicklung des Homo sapiens gespielt hat - und warum kein anderes Lebewesen Klängen so verfallen ist.

"Akustischer Käsekuchen"

Das heißt, nicht jeder Mensch. Peretz' liebstes Studienobjekt sind jene Menschen, die unfähig sind, Musik als rhythmisierten tonalen Zusammenhang zu hören. Mozarts Jupiter-Symphonie oder Miles Davis' Trompete - jede Melodie, jeder Rhythmus, jede Tonfolge ist für Amusiker nicht mehr als Gerumpel und Geschepper. Es wird geschätzt, dass fünf Prozent der Bevölkerung damit geschlagen ist.

Sigmund Freud und Che Guevara waren von Musik genervt, selbst der Komponist Maurice Ravel litt als Folge einer Hirnerkrankung am Ende seines Lebens unter dieser Störung. Doch so sehr Amusikern der Musikgenuss verwehrt bleibt, im sonstigen Leben sind sie meist kaum eingeschränkt. Die Frage ist also: Was fehlt ihnen?

Der Linguist Steven Pinker hat Musik einmal "akustischen Käsekuchen" genannt. Von seiner Warte erscheint sie nur als Genussmittel und Zufallsprodukt, das in der Evolution des Menschen keine zentrale Rolle gespielt hat. An dieser Aussage zweifeln die Brams-Mitarbeiter. "Damit liegt Pinker sicher falsch", sagt der Neuropsychologe Robert Zatorre von der McGill University in Montreal, neben Peretz der zweite Gründer des Brams. "Der Beweis für eine genetische Grundlage für Musik steht noch aus, aber die Hinweise darauf häufen sich."

Ein Ton - anders als Blätterrascheln oder Meeresrauschen - besteht zunächst aus nur aus synchron schwingenden Luftmolekülen. Das Trommelfell nimmt die Luftdruckschwankungen auf und gibt sie an das Innenohr weiter. Dort sitzen gerade mal 3500 Haarzellen - wenig im Vergleich mit 100 Millionen Lichtrezeptoren im Auge -, die den Schall nach Höhe und Tiefe sortiert in Nervenimpulse verwandeln. Lange vermuteten Forscher, dass jedes Signal in der Hörrinde in einer räumlichen Karte abgebildet werde. Aber so einfach ist die Sache nicht.

Der deutsche Forscher Marc Schönwiesner sitzt in seinem Büro am Brams mit Blick auf den Klostergarten und zeichnet einen Kopf mit zwei großen Ohrmuscheln auf ein Blatt Papier. Schallwellen kämen an den Ohren mit einem unterschiedlichen Zeitabstand von Mikrosekunden an, erklärt er. Dieser Zeitabstand werde im Hörzentrum durch unterschiedlich feuernde Nervenzellen repräsentiert.

Dieser "neuronale Code" erlaube es, den Klang zu verorten. "Vor einigen Jahren hätten wir allenfalls auf den Bereich deuten können, in der das Hörerlebnis stattfindet", sagt Schönwiesner. "Aber heute, mit immer höher auflösenden bildgebenden Verfahren, können wir im lebendigen menschlichen Gehirn die Feinmechanik solcher diffizilen Prozesse ausleuchten."

Die akustische Signalverarbeitung im Gehirn umfasst Geräusche zunächst ebenso wie Musikklänge. Peretz hofft jedoch, ein auf Musik spezialisiertes Neuronennetzwerk zu entdecken. Das wäre ein starkes Argument dafür, dass der Sinn für Musik in der Evolution von Vorteil war.

Doch die Prozesse im Gehirn sind komplex. Verschiedene Areale verarbeiten Rhythmus, Harmonien, Melodiekontur und Musikgedächtnis. Bei geübten Musikern sind auch Hirnbereiche beteiligt, die sonst Bewegungen steuern. Manche Areale verarbeiten auch Sprache, und tief im Gehirn treten Lustzentren hinzu, die sonst bei Sex, Schokoladengenuss oder Kokainkonsum aktiv sind.

Sicher ist: Der Sinn für Musik wurzelt tief im Menschen. Er ist kulturübergreifend und begleitet uns seit Urzeiten. Das älteste bekannte Instrument ist eine 35.000 Jahre alte Flöte aus Schwanenknochen, die in einer Höhle bei Blaubeuren gefunden wurde. Auch sind viele der mit Musik befassten Hirnregionen bereits in nur zwei Tage alten Babys aktiv.

Schon Neugeborene erkennen Missklänge

Das entdeckte Maria Cristina Saccuman von der Vita-Salute San Raffaele Universität in Mailand bei Untersuchungen mit Magnetspintomographen. Obendrein reagieren die Neugeborenen eindeutig auf Missklänge - ihr Gehirn scheint also bereits für Harmonien verdrahtet zu sein.

Hinzu kommen die Amusiker. Da viele ein sonst unbeeinträchtiges Leben führen, ist es denkbar, dass allein ihr Musik-Modul ausgefallen ist. "Das deutet alles auf eine genetische Komponente hin", erklärt Peretz in ihrem Zimmer, in dem auch eine klassische Gitarre steht, deren Spiel sie elf Jahre lang studiert hat. "Schließlich steckt auch die Sprache ein Stück weit in den Genen."

Wie sollte Musik auch nur schmückendes Beiwerk sein, wo sie so stark die Emotionen des Menschen anspricht? Geordnete Schallwellen treiben selbst nüchternen Menschen mitunter Tränen in die Augen, jagen Schauder über den Rücken und versetzen in Ekstase.

Vom Klang der Seele

Klar ist, dass Klangmuster das limbische System erregen, den Sitz des menschlichen Gefühlslebens. Nach einem Experiment mit 13Versuchspersonen, die sich in einem Magnetspintomographen klassische Musik anhörten, beobachteten Vinod Menon von der Stanford University und Zatorres Kollege Daniel Levitin, wie das Vorderhirn Struktur und Bedeutung eines Musikstücks erfasst.

Dem "Chill-Faktor" auf der Spur

Gleichzeitig schütteten limbische Regionen bei harmonischen Klängen das Glückshormon Dopamin aus. Zusätzlich bemerkte das Kleinhirn jede kleine Abweichung von Tempo, Rhythmus oder Klangfarbe. Diese Variationen erzeugten eine als positiv empfundene Spannung, erkannten die Forscher in ihren Daten. Und genau das macht in Levitins Augen, der einst als Pop-Produzent tätig war, gerade Lieder wie die der Beatles zu Klassikern: "Es gibt fortlaufend subtile Veränderungen in ihren Songs."

Zatorre wiederum, der als gelernter Organist manchmal in der menschenleeren Kapelle des Brams auf der Orgel spielt, ist dem so genannten "Chill-Faktor" auf die Spur gekommen. Ein klassisches Beispiel dieses genüsslichen Schauderns ist Bachs Matthäus-Passion.

Als Pontius Pilatus die aufgebrachte Volksmenge fragt, wen er freigeben solle, schreit die Menge auf: "Barrabam!" - verpackt in einen dissonanten, markerschütternden Akkord von Chor und Orchester. Mit Positronenemissionstomografie (PET) konnten Zatorre und seine Mitarbeiterin Anne Blood zeigen, dass derart fröstelnde Erfahrungen das neuronale Belohnungszentrum des Gehirns aktivieren, während gleichzeitig die Alarmzentrale, der Mandelkern, ruhiggestellt ist.

Musik mag den Menschen anrühren, doch welchen konkreten Überlebensvorteil könnte der ästhetische Genuss in der Historie der Menschwerdung gehabt haben? Peretz verweist auf zwei geläufige Thesen. Der Evolutionspsychologe Geoffrey Miller von der University of New Mexico behauptet, Musik sei nicht mehr als ein akustisches Pfauenrad, ein Element der Balz, der Erfolg bei der Partnersuche brachte.

Von der Humanevolution zum verzückten Musikerlebnis

Robin Dunbar von der University of Oxford hingegen hält Musik für sozialen Kitt. Kriegsgesänge, Wiegen- und Arbeitslieder, Nationalhymnen hielten Familien, Gruppen und Völker zusammen. Dafür sprechen Experimente, die zeigen, dass gemeinsames Singen Stresshormone abbaut, Aggressionen besänftigt und soziale Bindungen stärkt. Auch Peretz glaubt eher an die soziale Funktion, bekennt aber: "Keine dieser Hypothesen ist überprüfbar."

Bislang führt die Erforschung des Homo musicalis Wissenschaftler ständig auf neue Wege. Wie ein roter Faden ohne vorbestimmtes Ziel führt sie die Forscher durch die verwinkelte menschliche Psyche: von der Humanevolution zum verzückten Musikerlebnis, von der Feinmotorik des Musizierens zu den Finessen des Hörsinns.

Die Neuropsychologie der Musik hilft auch, sonderbare psychiatrische Fälle zu erhellen, wie sie Oliver Sacks in seinem jüngst erschienenen Buch "Der einarmige Pianist" beschreibt. So hilft Gesang manchem Aphasiker, sein Sprachvermögen zurück zu gewinnen. Im Gehirn gibt es zwei neuronale Wege, die Artikulation ermöglichen - einen für gesprochene und einen für gesungene Sprache.

Auch Schönwiesner hat das Studium des auditorischen Kortex auf neue Ideen gebracht. Für das visuelle System gibt es Experimente, bei denen sich allein aus dem Erregungsmuster des Sehzentrums erkennen lässt, welches Objekt eine Testperson gerade ansieht. An solchem Gedankenlesen versucht sich der Neuroakustiker derzeit anhand von Musikinstrumenten und Sprachen.

Dabei erstellt er erst das Modulationsspektrum des Gehörten, das sich aus Schwingung, Zeit und Tonspektrum zusammensetzt. Diese Signaturen setzt er jetzt zu Scannerfotos der Hörrinde in Relation. "Ich bin zuversichtlich, dass wir bald sagen können, ob jemand eine Geige oder Trompete hört. Ob Paganini, Mahler oder Bach, lässt sich zwar noch nicht sagen - aber dazu kommt es eines Tages ganz gewiss."

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