Süddeutsche Zeitung

Munition aus dem Zweiten Weltkrieg:Gefährliches Aufräumen in Nord- und Ostsee

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Nord- und Ostsee Millionen Tonnen an Munition verklappt. Das gefährliche Material bedroht die Natur und behindert den Ausbau der Windparks auf See. Spezialschiffe kommen mit dem gefährlichen Aufräumen nur langsam voran.

Von Susanne Donner

Mathias Bölt zückt sein Smartphone und öffnet ein Foto. "Eine Artilleriegranate, 12,8 Zentimeter", ruft er und versucht, das Röhren des Dieselmotors zu übertönen. Bölt und vier Männer in orangen Sicherheitsjacken, Schwimmwesten und Arbeitsschuhen mit Stahlkappen drängen sich in den Windschatten des Zubringerschiffs William Wallace.

Zweimal pro Woche fährt Projektingenieur Bölt vom Unternehmen Boskalis Hirdes mit dem Schiff hinaus auf die, wie er sagt, "Baustelle": eine 42 Kilometer lange Trasse, die sich von der deutschen Nordseeküste an Juist und Borkum vorbei bis zum geplanten Offshore-Windpark Riffgat zieht.

Am Grund der Nordsee will die Firma Tennet aus Bayreuth ein oberschenkeldickes Kabel verlegen, durch das Strom der Windräder ans Festland fließen soll. Eigentlich sollten die Arbeiten längst abgeschlossen sein. Doch am Meeresboden wimmelt es von Munition, mit der Tennet nicht gerechnet hat. Geschätzte 1,6 Millionen Tonnen konventionelle und 5000 Tonnen chemische Kampfmittel liegen am Grund der Ost- und Nordsee.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bezahlten die Alliierten Fischer dafür, dass diese die Kampfstoffe in ausgewiesenen Gebieten versenkten. So sollten die Waffen der Wehrmacht vernichtet werden. Doch da pro Fahrt bezahlt wurde, entledigten sich die Seemänner bisweilen ihrer Fracht, sobald sie außer Sichtweite des Hafens waren. Die starke Strömung und die Schleppnetzfischerei verteilten Bomben und Granaten immer weiter auf dem Meeresboden. Die tragische und späte Konsequenz: Obwohl auf Tennets Trasse keine Waffen liegen sollten, ist sie voll davon.

"Die Stromtrasse zum Windpark Riffgat könnte längst fertig sein, wäre die Munitionsbelastung dort nicht so extrem hoch", sagt Claus Böttcher vom Schleswig-Holsteinischen Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume. Auch bei zwei im Bau befindlichen Windparks vor Helgoland stießen die Arbeiter auf Munition. Und bei den übrigen geplanten Anlagen auf See ist mit weiteren Funden zu rechnen. "Das wird die Energiewende um Jahre verzögern", sagt Munitionsspezialist Stefan Nehring.

Der Motor des Zubringerboots William Wallace brummt, als es sich an die Flanke des Schiffes Zwerfer III legt. Es riecht nach Schiffsdiesel. Wortlos klettern die Männer auf das Deck der Zwerfer III, eines von drei Arbeitsschiffen.

Theoretisch könnten auch professionelle Taucher die Munition am Seegrund aufsammeln. Doch das wäre gefährlich und teuer. Deshalb sucht man die Geschosse mit einem unbemannten Unterwasserfahrzeug. An diesem Mittwochmorgen hängt es noch an einem Kran am Bug der Zwerfer III. Ein zwei mal zwei Meter großer, roter Würfel. Er ist der eigentliche Spürhund bei der Minensuche. An der Vorderseite verfügt er über einen Greifarm, einen Saugrüssel, mehrere Kameras und einen Metalldetektor.

"Schiff in Position", meldet Kapitän Harry Bosmann über das Mikrofon. An dieser Stelle der Nordsee hat gestern der Metalldetektor des Unterwasserfahrzeugs angeschlagen. Meistens bedeutet das: Munition. Rund zehn Tonnen verschiedener Geschosse haben die Arbeiter auf dieser Trasse schon geborgen.

Bosmann hängt das Seil eines Krans auf der Steuerbordseite ins Wasser. Die Strömung zerrt daran. "Wir müssen warten, bis sie nur noch 1,5 Knoten beträgt", erklärt Unterwasserfahrzeugspezialist Tim Parkes. Nur vier Mal pro Tag, alle vier Stunden, ist die Strömung so schwach, dass das Unterwasserfahrzeug dagegen anschwimmen kann. "Wir sind auf dieses Zeitfenster zwischen Ebbe und Flut angewiesen wie beim Jojo, wenn es kurz unten stehen bleibt", sagt Parkes. Seit 16 Jahren arbeitet er mit solchen Geräten.

10:30 Uhr. Die Strömung ist endlich schwach genug. Der Kran hebt das unbemannte Fahrzeug samt einer zwei Meter hohen Kabeltrommel über die Wasseroberfläche und lässt dann beides eintauchen. Fast die gesamte Belegschaft drängt sich jetzt in einem roten Baucontainer zusammen. Pilot Paul Thomson und zwei Kopiloten sitzen dort vor einem Paneel aus zehn Monitoren, die den Raum in ein blaustichiges, schummriges Licht tauchen. Ein Bildschirm zeigt die Aufnahmen zweier Kameras, die vorne am Unterwasserfahrzeug angebracht sind: eine undurchsichtige gelbe Brühe, in der Sandkörner auf die Kamera zufliegen wie Flocken bei dichtem Schneefall.

"Wir sind hier quasi immer blind", erklärt Parkes. Thomson muss mit einem Echolot navigieren, das wie eine Fledermaus Schallwellen aussendet. Mit einem schwarzen Steuerknopf und einem Joystick hält er das Suchgerät in Position. "Wenn man nur eine Sekunde nicht aufpasst, kann es in die Nähe der Schiffsschrauben treiben und zerstört werden", sagt Parkes.

Minuten vergehen. Die Mannschaft wartet auf das Ortungssignal. Ein Monitor soll drei farbige Punkte anzeigen: die Zwerfer III in Lila, das Suchgerät in Gelb und die mutmaßliche Munition in Grün. Aber Sedimente im strömenden Wasser behindern die Ortung. Endlich ist das Signal da. Der Pilot dreht am Knopf und betätigt sachte den Joystick. Langsam ruckt das Fahrzeug auf dem Monitor vor- und seitwärts in Richtung des grünen Punktes. Parkes schaut auf die Uhr, zögert und sagt: "Die Zeit reicht nicht." Die Strömung zieht wieder an. Das Gerät muss aus dem Wasser, ehe die Mannschaft überhaupt damit beginnen kann, die Munition zu identifizieren und zu bergen. Sie muss auf die nächste Phase zwischen Ebbe und Flut warten.

Ortswechsel. Auch das Schwesterschiff MPR3 ist unterwegs, um Minen zu räumen. Sein Ortungsfahrzeug schleicht am Meeresgrund entlang. Eigentlich sollte an dieser Stelle keine Munition mehr liegen, weil die Region am Vortag gesäubert wurde. Pilot Richard Luter hat die Hand am Joystick. "Da haben wir etwas", ruft er. Rund 1000 Millivolt signalisiert der Metalldetektor - zunächst. Das könnte Munition mittlerer Größe sein. Luter bewegt das Unterwasserfahrzeug Zentimeter um Zentimeter, sodass der Metalldetektor Größe und Lage genauer erfassen kann: "6500 Millivolt, elf Zentimeter unter dem Sand." Der Kopilot schreibt die Zahlen in ein Buch. Auf der Navigationskarte taucht der Fund als neuer grüner Messpunkt auf.

"Alle Nationen, die sich im Zweiten Weltkrieg bekämpft haben, arbeiten jetzt hier, um dieses Zeug wieder aufzuräumen", sagt Luter. Die Strömung wird stärker. Es ist zwar nicht schwer, mit einem Unterwasserfahrzeug durch den Ozean zu fliegen, wie sie hier sagen, es aber bei starker Strömung im flachen Wasser ruhig zu manövrieren, ist eine Kunst.

"Da draußen ist etwas!", ruft der Pilot. Gebannt starren die Männer auf die Monitore. Die Anzeige klettert auf 10.000 Millivolt. "Ein großes Ding", sagt Luter. Oberhalb von 4000 handelt es sich erfahrungsgemäß um eine Mine. "Das Ding schaut aus dem Meeresgrund heraus", sagt Luter und zieht das Fahrzeug etwas in die Höhe. "24.000 Millivolt, 28.000 Millivolt. Das muss auf die Prioritätenliste!", sagt er angespannt. Die Kamera zeigt einen gespenstischen schwarzen Schatten. Und wieder lässt die Strömung keine Zeit mehr zum Bergen. Aber gleich zwei Metallobjekte - diese Tauchmission hat sich gelohnt.

"Wir haben einen 50-Tage-Job für dich." So fing für Marinekoordinator Hans Cuylits das Minenräumprojekt an. Doch seither hat er schon mehr als ein Jahr auf der Baustelle auf See verbracht. Gut 80 Mann arbeiten mittlerweile auf drei Arbeitsschiffen rund um die Uhr und in zwei Schichten, dazu das Personal an Land. Dass so viel Munition am Meeresgrund lagert und die Bergung so schwierig werden würde, hatte niemand geahnt. Die Firma Tennet steht längst in der Kritik, die Energiewende zu verzögern. Über die Kosten will hier niemand reden. Aber allein Personal und Gerätschaften lassen ein Milliardenbudget erahnen.

"Die Räumung zahlt am Ende der Stromkunde", sagt Böttcher. Die Bundesregierung beteiligt sich nicht an den Kosten. Sie hat Schadensersatz für alle Offshore-Windparks zugesagt, die nicht rechtzeitig ans Netz angebunden werden. Dies soll den Netzausbau beschleunigen. Böttcher rechnet mit dem Gegenteil: "Eine Vollkaskoversicherung für alle Netzbetreiber und eine Garantie zum Gelddrucken." Nun fehle jeder Anreiz, die Munition besonders schnell und effizient zu räumen.

Die Männer auf See kennen kein Wochenende. 28 Tage Dienst am Stück, oft auch länger, weil das Personal knapp ist. Sie schlafen auf einem ehemaligen Arbeitsschiff, der Taklift 7, einem schwimmenden Kran im Wattenmeer. Tief unten im Bauch der Taklift überrascht so etwas wie Behaglichkeit: karierte Tischdecken, ein Fernsehgerät und 70er Jahre Holzfurnier. Beim Essen verständigen sich die Männer aus 15 verschiedenen Ländern auf Englisch. Es gibt Asianudeln mit Gemüse, scharfe Frühlingsrollen, Sparerips, Koteletts, Pommes, Gulaschsuppe, Salat und Pudding. Nachts lässt der Dieselmotor die Schlafcontainer vibrieren.

Wenn es nur so einfach wäre wie im Film: In einer Animation des Unternehmens Boskalis Hirdes taucht das Unterwasserfahrzeug am Boden entlang. Das Wasser ist klar, die Sicht gut. Wenn der Metalldetektor anschlägt, stoppt es. Der Saugrüssel beginnt den Sand aufzusaugen und legt die Granate frei. Ein Greifarm am Unterwasserfahrzeug fährt aus und umklammert das Geschoss.

Spezialisten wie Mathias Bölt können sämtliche Geschosse am Aussehen identifizieren und binnen Minuten entscheiden, ob sie gefährlich sind oder nicht. Munition, die nicht ohne Weiteres detonieren kann, wird in roten Metallcontainern am Seegrund gesammelt. Der staatliche Kampfmittelräumdienst sammelt diese Boxen ein und vernichtet den Sprengstoff dann in Spezialanlagen an Land.

Große Seeminen und gefährliche Munition sprengen die Arbeiter vor Ort in der Nordsee. Drei Minen waren es im vergangenen Jahr auf Tennets Trasse. Mit einer großen Glocke, "sea scarer" genannt, verscheucht die Besatzung zunächst die Robben. Dann bringt sich die Mannschaft in Sicherheit. Von der eigentlichen Explosion ist nicht viel zu sehen. In der Ferne schießt eine haushohe Wassersäule wie ein Geysir empor. Kein Geräusch, kein Rauch.

"Bei der Kampfmittelräumung passiert nicht viel", sagt Bölt. Die Unterwasserfahrzeuge sind vergleichsweise sicher, weil gefährliche Munition dank der Kameras schon im Wasser identifiziert wird und gar nicht an Deck und damit in die Nähe von Menschen gelangt. Doch mit ihrem Greifarm können sie nur ein Geschoss nach dem anderen bergen. Das kostet wertvolle Zeit.

Deshalb hat Boskalis Hirdes ein weiteres Schiff auf die Baustelle geschickt, die Coastal Discovery, deren Bergungsmethode etwas anders funktioniert - und schneller. An einem Kran an ihrem Bug hängt ein zwei Meter langer Magnet. Ins Wasser versenkt, pflügt er am Meeresgrund entlang und zieht die Munition bündelweise aus dem Sand. Der Nachteil: Die Metallobjekte können nicht unter Wasser identifiziert werden. Darum gelangen auch gefährliche Objekte mit an Bord; ein Kran hievt sie an Deck und legt sie vorsichtig in einem großen Sandkasten ab, der mit zwei Meter hohen Schutzwänden gegen die Schiffsbrücke abgeschirmt ist.

Dirk Ehlert, Minenräumspezialist aus Rheinsberg bei Berlin, stemmt hinter der Schutzwand eine rote Metallkiste auf. Sie beherbergt die Sprengmittel, die die Männer in den letzten Tagen mit dem Magneten geangelt haben. In der Ecke steht ein Eimer mit etlichen Dutzend kastaniengroßen Zündverstärkern. Daneben stapeln sich 15 Zentimeter lange, stiftförmige Granaten. 117 Stück vom Wochenende.

Ehlert nimmt eine der Granaten in die Hand und dreht sie zwischen Daumen und Zeigefinger. "Manche sind noch in Papier eingepackt und kaum verrostet", sagt er. Das Wattenmeer ist so arm an Sauerstoff, dass einige Geschosse wie Moorleichen konserviert sind. Und, an Bölt gewandt: "Die hier ist gegen gepanzerte Ziele. Baujahr 1940." In einer zweiten Truhe lagern 40 Zentimeter lange Granaten und eine weitere von einem halben Meter Länge in einer glänzenden Messinghülse. "Die Hülse wird gern als Regenschirmständer verwendet. Hab ich schon bei Ebay gesehen", erzählt Bölt.

Gefährliche Munition, die mit dem Magneten an Bord gelangt ist, versenkt die Besatzung wieder, sodass sie wie bei den anderen Schiffen am Meeresgrund bleibt, bis der Kampfmittelräumdienst sie einsammelt. "Was hier an Deck steht, ist handhabungssicher", erklärt Ehlert. Eine der Granaten ist stark verrostet und von einer dicken schwarzen Kruste überzogen. "Dieses Zeug ist sehr aggressiv. Das würde man kaum von der Hand abkriegen." Meistens befinden sich Sprengstoffe wie TNT in der Munition. Manchmal auch chemische Kampfstoffe. Das Meerwasser wäscht unaufhaltsam Blei, Quecksilber, Zink und Kupfer aus den Geschossen.

Meeresbiologe Stefan Nehring errechnete, dass in den Kampfmitteln am Grund der Nordsee alleine 400 Tonnen Quecksilber lagern. Der Stoff ist ein starkes Nervengift und reichert sich in Fischen an. Meeressäuger kann er so schwer schädigen, dass sie verenden. "Auch alle übrigen organischen Chemikalien in Granaten und Minen sind giftig, krebserregend oder erbgutverändernd", warnt Nehring. Allerdings wurde die Belastung der See nie systematisch untersucht. Einzig nach Unfällen wird die Öffentlichkeit hellhörig: Nach Nehrings Recherchen wurden seit Ende des Zweiten Weltkriegs mindestens 689 Menschen durch Munition aus dem Meer verletzt. 410 starben.

Wenn sich der Metallmantel der Geschosse zersetzt, gelangen die organischen Substanzen ins Meer. "Der Sprengstoff löst sich aber nicht im Wasser auf, sondern wird dann von der Strömung hin- und hergeworfen", sagt Bölt. Die Unterwasserfahrzeuge können ihn mit ihren Metalldetektoren nicht mehr erkennen. Die giftige Altlast wird unsichtbar. Je mehr Zeit verstreicht, desto schwieriger wird es, sie zu bergen.

Der Text stammt aus der Januar-Ausgabe von natur, dem Magazin für Natur, Umwelt und nachhaltiges Leben. Er erscheint hier in einer Kooperation - mehr aktuelle Themen aus dem Heft 1/2014 auf natur.de.

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natur 1/2014/mcs
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