Süddeutsche Zeitung

Motivationsforschung:Was uns Islands Fußballer lehren

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Die Siege des Fußballzwergstaats erfreuen Zuschauer rund um den Globus. Für solche Stärke gibt es Gründe - und glaubt man der Psychologie, ist damit noch lange nicht Schluss.

Von Werner Bartens

Es ist immer wieder ein herrliches Bild: Klein gewinnt gegen Groß. Der vermeintlich Chancenlose zeigt dem Überlegenen die lange Nase. Schon in der Bibel triumphiert der kleine David gegen Goliath, der nicht nur sechs Ellen und eine Spanne - und damit fast drei Meter - groß gewesen sein soll, sondern auch an jeder Hand mit sechs Fingern bestückt. Und jetzt kommen ein paar isländische Handwerker und Teilzeitfußballer und werfen die hochbezahlten englischen Profis aus dem EM-Turnier. Trainiert von einem Zahnarzt und angeführt von ihrem grimmbärtigen Kapitän Aron Gunnarsson, dessen Physiognomie bei einer unglücklicheren Kindheit auch zum Anführer der Hells Angels getaugt hätte, und der mit nur fünf Fingern an jeder Hand Einwürfe weiter schleudern zu können scheint als der Vulkan Eyjafjallajökull Glut und Asche.

Es ist aufregender und überraschender, wenn nicht immer der Größere siegt. Daraus gewinnen Pokalduelle zwischen Champions-League-Aspiranten und Fünftligisten ihren Reiz. Auch die Geschichte ist voller Beispiele. Hannibal siegt bei Cannae gegen zahlenmäßig überlegene Römer - Asterix schafft das mit weit weniger Personal. Odysseus gegen den Kyklopen Polyphem, Wilfried-der-Kran-von-Schifferstadt-Dietrich gegen den 200-Kilo-Ringer Chris Taylor.

Die Legenden von Überraschungssiegen in vermeintlich ungleichen Duellen faszinieren immer wieder. Dabei sind Asterix und seine Dorfhorde mit Zaubertrank gedopt. Odysseus muss als hochbegabt gelten, auch wenn sein Intellekt lediglich als "listenreich" umschrieben wurde und seine einzige Frühförderung in ausgedehnten Reisen bestand. Hannibal wählte eine schlaue Taktik. Dem Ringer Dietrich kam seine ausgefeilte Schulterwurftechnik zugute.

Diese leicht überhebliche Sorglosigkeit nach dem Motto: Das kriegen wir schon hin

Aber auch ohne Doping, Hochbegabung und gute Technik haben als kleiner und weniger talentiert eingestufte Kombattanten psychologische Vorteile, die dazu beitragen, dass Favoriten straucheln. "Den Großen droht Erfolgsarroganz", sagt Dieter Frey, Sozialpsychologe an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. "Damit ist diese leicht überhebliche Sorglosigkeit gemeint nach dem Motto: Das kriegen wir schon hin, und wenn es gegen uns läuft, können wir es schnell wieder ausbügeln. Wir sind allemal die Besseren und haben schon gegen viel Stärkere gewonnen."

Diese unterschwelligen Effekte bewirken, dass der Größere nicht mit voller Konzentration und unbedingtem Kampfgeist einsteigt. Er weiß ja schließlich, dass man sich immer noch steigern kann. Blöd ist nur, wenn der Gegner islandesk in Führung geht, frech tunnelt und sich der Rückstand nicht sofort aufholen lässt. "Oft erhält so ein Spiel eine Eigendynamik, sodass man nicht mehr gegensteuern kann", sagt Frey. "Der Kleine dominiert plötzlich. Auch wenn die Trainer der Großen vor Überheblichkeit warnen, bleibt unbewusst die Haltung: Kein Problem, das wäre ja gelacht, wenn wir es nicht doch schaffen."

Beim vermeintlichen Underdog werden gleich auf vielfältige Weise Energien für große Taten freigesetzt. Der Auftritt gegen einen übermächtigen Großen gilt als einmalige Chance - der heutige Tag ist schlicht der allerwichtigste. Diese Mentalität aktiviert viel Potenzial. Dauersieger wie der FC Bayern müssen sich darauf einstellen, dass sie fast ausnahmslos auf Gegner treffen, für die das Match gegen die Stars aus München das Spiel des Jahres, wenn nicht ihres Lebens ist.

Die Großen bewerten die Sache als nicht besonders riskant

"Es entsteht eine Teamsynergie, alles greift ineinander, und deshalb kann eine solche Mannschaft auch mit den potenziell besseren Einzelspielern der Großen mithalten", sagt Frey. "Die Kleinen schätzen ihr Risiko zu verlieren natürlich als viel höher ein und wappnen sich: Sie werden sich verteidigen, werden jede Chance nutzen, weil sie denken, dass es die einzige bleibt."

Die Großen bewerten die Sache hingegen als nicht besonders riskant, weil sie ohnehin damit rechnen, zu gewinnen und mögliche Fehler leicht ausbügeln zu können. Das kann schiefgehen, erst recht, wenn man einen englischen Torwart im Kasten hat.

Erweisen sich die Kleinen überraschenderweise als gleichwertig, ist der Große schnell verunsichert: "Das Selbstvertrauen sinkt, während das der Kleinen sich plötzlich extrem steigert und damit auch ihre Kreativität und Motivation", sagt Frey. "Weil das Publikum den Underdog eher unterstützt, erzeugt dies zusätzliche Motivation." Für die Großen gilt hingegen, dass sie unterschwellig wissen, dass es keine große Leistung wäre, sollten sie gewinnen. Ihre Motivation bleibt überschaubar.

Ob auf dem Spielfeld oder auf anderen Bühnen - es geht immer auch um Kontrolle. Halten die Kleinen zu Beginn stand, fördert das ihr Kontrollgefühl: Wir können es doch schaffen. Umgekehrt bedeutet es für die Großen einen raschen Kontrollverlust, wenn sie spüren: Hoppla, so schnell und einfach gewinnen wir hier nicht.

Neben diesen Faktoren spielen Aspekte der Zieltheorie eine Rolle. Kleine haben ein größeres Ziel, müssen sich höher strecken. Die Großen wissen hingegen: So sehr muss ich mich nicht anstrengen, um Kleinere zu bezwingen. Herausfordernde Ziele setzen viel Potenzial frei. Klein gegen Groß bietet vor allem Chancen für den Kleinen. Die Großen siegen entweder erwartungsgemäß - oder sie blamieren sich.

Auch die von dem Psychoanalytiker Alfred Adler aufgebrachte Minderwertigkeitstheorie hilft, das Phänomen zu verstehen: Wer sich unbedeutend und unterlegen fühlt, strebt oft nach Kompensation, um sich und anderen zu demonstrieren, was er zu bieten hat. Das Kleine-Mann-Syndrom hat hier seine psychologische Heimat. Ähnliches spielt sich im Sport ab, wenn die Kleinen sich nicht unterkriegen lassen und beweisen wollen, dass sie gleichrangig sind.

Keine Anspannung, keine Leistung

Hinzu kommt das richtige Maß Anspannung. Die mentale Einstellung wirkt sich auf den Körper aus: Underdogs haben wenig zu verlieren. Nicht verbissen, aber konzentriert zu sein - heute sprechen Fußballtrainer lieber von "fokussiert" -, verheißt Erfolg. Der vermeintlich bessere der Kontrahenten verkrampft hingegen leicht. Er steht unter Druck. Alles andere als ein Sieg wäre schließlich enttäuschend.

Mit dem Zusammenhang zwischen Anspannung und Leistungsfähigkeit verhält es sich wie mit einem auf den Kopf gedrehten U: Keine Anspannung, keine Leistung. Mit lethargischer Gleichgültigkeit gelingen weder sportliche Erfolge noch Glanztaten in der Prüfung, auf der Bühne oder am Rednerpult. Ein gewisses Maß an Aufregung ist sogar nötig, um die Konzentration zu halten, Körper und Geist zu straffen und zu überzeugen. Ist die Nervosität jedoch zu groß und die Anspannung unerträglich, fällt die Leistung ab, es drohen Krampf und Versagen.

Dieser Zustand der Lähmung kann sich im Laufe eines Auftritts auch erst entwickeln. Wer sich seiner Favoritenrolle zu sicher ist und nur darüber spekuliert, wie hoch der Kantersieg und wie glänzend die Präsentation ausfallen werden, kann schnell ungeduldig und ärgerlich reagieren, wenn der Erfolg in den ersten Minuten ausbleibt. Der Fußballer trifft weit daneben, der Tennis-Crack drischt den Ball wütend ins Netz, und der sonst selbstsichere Redner verhaspelt sich.

Jubeln für diejenigen, die sich die Unterjochung nicht gefallen lassen

Wir sind eigentlich viel besser, wir verdienen einzeln so viel im Monat wie das isländische Team im Jahr, wir müssten längst zweistellig führen - stattdessen steht da immer ein bärtiger Kleiderschrank mit unaussprechlichem Namen im Weg, mögen die englischen Kicker gedacht haben. Den Fußballern aus dem Mutterland des Fußballs, die sich gleichsam qua Geburt für die höhere Ballschule auserwählt fühlten, stand eine Mischung aus Hilflosigkeit und Jähzorn ins Gesicht geschrieben, als sie gegen Island in Rückstand gerieten, dieser unerhörte Zustand immer länger dauerte und sich der Spielstand nicht ändern wollte. Beeindruckend, mit welch monotoner Fahrigkeit Englands Spielführer Wayne Rooney immer wieder Flanken und Freistöße ins Toraus beförderte und in nahezu jedem Zweikampf am Gegner hängen blieb.

Und dann lachte dieses bärtige Ungeheuer auch noch. Als der mächtige isländische Kapitän Aron Gunnarsson kurz vor Ende der Partie gegen England seinen Gegenspieler genarrt hatte und nur knapp am Torwart scheiterte, biss er nicht in den Torpfosten oder fluchte zu den Nebelgöttern seiner Heimat. Seine Gesichtszüge entspannten sich, er lachte einfach. Vermutlich über sich, dieses irrwitzige Spiel und vielleicht auch ein wenig über diesen verkrampften Gegner, der nun seit fast 50 Jahren genauso viele EM- und WM-Titel gewonnen hat wie Island: nämlich keinen.

Die Isländer sind am Sonntag auch gegen Frankreich nicht im Nachteil. Rudi Völler hatte 2003 - nach einem 0:0 der Deutschen in Island - recht: Es gibt keine Kleinen mehr. Zudem wird es der Reaktanz-Theorie zufolge auch im Stade de France mehr Anhänger Islands geben als vermutet: Gewinnt der Kleine, ist das ein stellvertretender Rückgewinn an Freiheit und Gerechtigkeit. Oft schränkt der Größere - Elternteil, Lehrer, Chef - ja die Freiheit ein, sein Leben nach Gusto zu gestalten. Da ist es ein erhebendes Gefühl, Kleinen zuzujubeln, die sich die Unterjochung nicht gefallen lassen.

Und um ein Duell Klein gegen Groß handelt es sich sowieso nicht: Isländische Männer sind im Durchschnitt 1,82 Meter groß und gehören damit zu den längsten der Welt. Franzosen bringen es hingegen im Mittel lediglich auf 1,74 Meter.

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Quelle:
SZ vom 02.07.2016
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