Es war nur die tägliche Routinekontrolle im Black Forest Observatory (BFO), wo seit einem halben Jahrhundert in einem Stollen der stillgelegten Grube Anton bei Schiltach hochempfindliche Seismografen rund um die Uhr den Planeten abhorchen. „Völlig ungewöhnlich waren die Signale“, die sich am 16. September 2023 hier fanden, berichtet Thomas Forbriger vom Geophysikalischen Institut des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und Wissenschaftler am BFO. „Es war ein sehr monotones, langsam abklingendes Brummen mit einer einzigen dominierenden Frequenz, eben kein Erdbeben.“
Sofort prüften die Forscher die Messdaten einer Erdbebenwarte in New Mexico in den USA, auch die bestätigten die seltsamen Signale. „Die Natur hatte uns da ein Rätsel präsentiert“, sagt Forbriger. Ein Rätsel, das aber relativ schnell gelöst wurde: In Ostgrönland hatte ein gewaltiger Felssturz einen Megatsunami ausgelöst. In der aktuellen Ausgabe von Science berichtet ein Team von 68 Forschern aus 15 Ländern im Detail darüber, bereits Anfang August hatten Wissenschaftler des GFZ Potsdam im Journal Seismic Records das geologische Großereignis gemeldet.
Man braucht ein bisschen Fantasie, um sich vorzustellen, was da vor einem Jahr passiert ist, im entlegenen, menschenleeren Dickson-Fjord an der Ostküste Grönlands, fast am Ende der Welt. Eindrucksvoll ist der Vorher-Nachher-Fotovergleich, den die Wissenschaftler präsentieren: Auf dem ersten Bild vom 12. August 2023 sieht man einen Gletscherabbruch am Wasser, der überragt wird von Felshängen aus braunem Gestein, im Hintergrund erhebt sich eine Kuppe und eine Bergspitze, umrissen von einer gestrichelten gelben Linie. Auf dem zweiten Bild gut einen Monat später findet sich im markierten Raum: nichts. Der Grund: Am 16. September 2023 ist die gesamte Felsmasse in den Fjord gerutscht und hat einen Megatsunami erzeugt, dessen Spuren noch in 200 Meter Höhe über dem Meeresspiegel nachzuweisen waren.
Glücklicherweise war kein Mensch in der Nähe, als der Berggipfel abrutschte
Glücklicherweise war kein Mensch in der Nähe, nur eine unbemannte Forschungsstation wurde beschädigt, kulturelle und archäologische Stätten im gesamten Fjordsystem wurden zerstört. Es war ein gigantisches geologisches Ereignis, dessen seismisches Signal Erdebenmessstationen rund um den Globus registrierten. Besonders auffällig waren lang anhaltende Schwingungen, die vom Hin- und Herschwappen des Wassers im engen Fjord verursacht wurden. Neun Tage dauerte diese sogenannte Seiche, wie die Wissenschaftler sagen, vergleichbar den Wasserschwankungen, die entstehen, wenn man von der Seite in eine Badewanne einsteigt.
„Durch Felsstürze verursachte Tsunamis kennt man schon lange“, sagt Forbriger. „Aber diese lang anhaltende Seiche war total überraschend, so etwas wurde noch nie auf diesem Planeten beobachtet.“ Entsprechend sensible Messtechnik gebe es immerhin seit rund 50 Jahren.
Dank Daten aus 40 Forschungseinrichtungen, kombinierten Seismometer- und Infraschalldaten, Feldmessungen, Boden- und Satellitenbildern auch vom dänischen Militär konnte das Team um Kristian Svennevig vom Geologischen Dienst von Dänemark und Grönland (GEUS) die Ereignisse im Detail rekonstruieren. Demnach war der Auslöser der Einsturz des Berggipfels, der sich 1200 Meter über den Fjord erhob. „Das Volumen des herabstürzenden Materials war enorm, mehr als 25 Millionen Kubikmeter“, erläutert Svennevig in einer Mitteilung. Genug um 10 000 olympische Schwimmbecken zu füllen.
Vermutlich habe der Felssturz selbst nur wenige Minuten gedauert, das Getöse dürfte gewaltig gewesen sein, ebenso die Staubwolken. Weitere Berechnungen ergaben, dass das Wasser dann mit einer Periode von 90 Sekunden quer zum Fjord hin- und herschwappte, nunmehr nur noch einen Meter hoch. Es waren diese Schwingungen, die weltweit gemessen wurden.
Wären die Beobachter noch im Fjord gewesen, hätte das böse enden können
Leider sei der große Tsunami nicht nur wissenschaftlich interessant, sondern natürlich ein Bote des Klimawandels, schreibt das Team in Science. Nie zuvor sei bislang ein vergleichbares Ereignis in Nordost-Grönland beobachtet worden. Höchstwahrscheinlich hätten steigende Temperaturen den Permafrost und das Gletschereis in der Region destabilisiert. So konnten die Forscher und Forscherinnen auf Satellitenbildern nachweisen, dass sich der Gletscher am Fuß des Berges in den vergangenen Jahrzehnten bereits stark ausgedünnt hat.
Nun planen die Forscher, noch mehr seismische Instrumente im Fjord zu installieren, um das Gebiet noch besser zu verstehen. „Angesichts des sich rasant beschleunigenden Klimawandels wird es wichtiger denn je, auch Regionen, die bisher als stabil galten, zu charakterisieren und zu überwachsen“, sagt Svennevig.
Und nur zwei Monate nach dem großen Tsunami gab es wiederum im Dickson-Fjord einen weiteren großen Felssturz. „Man mag sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn die Beobachter noch im Fjord gewesen wären, die nach dem ersten Felssturz zu einer Untersuchung vor Ort aufgebrochen waren“, sagt Thomas Forbriger. „Uns ist da ganz mulmig geworden.“