Süddeutsche Zeitung

Molekularbiologie:Forscher untersuchen "dunkle Materie" im Menschen

Mit herkömmlichen Methoden können Wissenschaftler bestimmte Proteine im Körper nicht darstellen. Sie sind aber da. Was also tun?

Von Katrin Blawat

Der menschliche Körper gilt eigentlich als gut erforschtes Terrain. Die Grundzüge des Lebens, so erscheint es zumindest nach einem Blick auf die Detailtiefe vieler Fachveröffentlichungen, sind sauber einsortiert in den Kanon des biologischen Wissens.

Doch der Schein trügt. Zellbiologen ist in jüngster Zeit klar geworden, dass sie viele Biomoleküle, die lebenswichtige Funktionen im Körper übernehmen, noch gar nicht entdeckt haben. Manche meinen, dass bislang erst gut die Hälfte der Proteine, die eine Zelle braucht, bekannt ist.

Die restlichen werden als "dunkle Proteine" bezeichnet - in Anlehnung an die geheimnisvolle "Dunkle Materie", die das Universum zusammenhält, sich aber bislang hartnäckig jeder direkten astrophysikalischen Messung entzieht.

Konventionelle Methoden reichen nicht aus

"So wie man die Dunkle Materie des Universums nicht mit dem Teleskop beobachten kann, so lassen sich auch die dunklen Proteine nicht mit konventionellen Methoden darstellen", sagt Peter Wright vom Scripps-Forschungsinstitut im kalifornischen La Jolla. Zusammen mit Kollegen hat er kürzlich die "Human Dark Proteome Initiative" gegründet. Ihr Ziel ist es, die dreidimensionale Struktur dunkler Proteine aufzuklären.

Wie ein Eiweiß gefaltet, gedreht und gewinkelt ist, entscheidet nämlich zu einem großen Teil über seinen Charakter: Bleibt es gerne Eigenbrötler, oder fühlt es sich in der Gemeinschaft mit anderen Molekülen wohler? Hält es sich versteckt in der Zelle auf, oder ist es als kommunikativer Typ im Außendienst unterwegs?

Und vor allem: Was ist sein Job? All das ist im Fall der dunklen Proteine größtenteils unbekannt. Sie seien im Wesentlichen ein Rätsel, schreibt daher ein Team um Sean O'Donoghue von der Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation in Sydney im Fachmagazin PNAS. Dennoch ist es den Autoren gelungen, eine Art vorläufigen Steckbrief der dunklen Proteine zu erstellen.

Datenbanken für das Dunkle

Dazu durchsuchten die australischen, portugiesischen und deutschen Forscher eine zuvor selbst entwickelte Datenbank nach Proteinen, von denen lediglich die Aminosäuren als Grundbausteine bekannt sind, nicht aber die entscheidende 3-D-Struktur.

Lässt sich diese auch nicht durch Vergleiche mit anderen Proteinen herleiten, handelt es sich laut der Definition der Autoren um ein dunkles Protein oder zumindest einen "dunklen Abschnitt" innerhalb eines Moleküls.

Mit dieser bioinformatischen Methode bleibt zwar das Dilemma bestehen, dunkle Proteine nicht unmittelbar sichtbar machen und beobachten zu können. Aber immerhin lassen sich so Moleküle oder Teile davon aufspüren, denen man mittels Experimenten im Labor bisher nicht auf die Spur kommt.

Dabei hilft zum Beispiel ein Blick ins Erbgut, dessen Gene sämtliche Bauanleitungen für Proteine enthalten. Aus der Gensequenz kann man die Abfolge der Aminosäurebausteine ableiten, nur die Struktur und Funktion des Proteinmoleküls lässt sich so nicht aufklären.

Eine überraschende Erkenntnis dieser Daten-Inventur: Dunkle Proteine und dunkle Abschnitte sind alles andere als Exoten, sondern machen im Gegenteil einen beträchtlichen Anteil im Proteom - der Gesamtheit aller Proteine einer Zelle - von Eukaryoten aus. Das sind Lebewesen wie der Mensch, deren Zellen einen Kern besitzen. Demnach besteht immerhin etwa die Hälfte des Eukaryoten-Proteoms aus "dunkler Materie".

Unerwartet ist dies auch deshalb, weil ein Großteil davon nicht etwa aus jener Art dunkler Proteine besteht, die Peter Wright seit Jahren untersucht. Bei diesen Molekülen war bislang immerhin schon klar, wie wenig man über sie weiß - und dass sie zwischendurch für kurze Zeit eben doch immer wieder mal wohlbekannte und messbare 3-D-Strukturen bilden.

Das Unbekannte im Körper ist häufiger als gedacht

Die PNAS-Autoren aber haben nun einen neuen, noch rätselhafteren Typ dunkler Proteine ausfindig gemacht. "Wir waren selbst erstaunt, wie viel wir noch nicht verstehen", sagt eine der beteiligten Forscherinnen, Andrea Schafferhans vom Lehrstuhl für Bioinformatik der Technischen Universität München. Auch der Proteomforscher Matthias Mann, Direktor am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München, ist überrascht: "Dass der Anteil des Unbekannten so groß ist, hätte ich nicht gedacht."

Dennoch steht immerhin ein entscheidender Punkt außer Frage: Die rätselhaften Moleküle sind unverzichtbar, damit im Körper alles glattläuft. "Dunkle Proteine haben mit Sicherheit wichtige Funktionen", sagt Schafferhans, "wir wissen nur noch nicht, welche."

Dunkle Proteine und der Schritt von Maus zu Mensch

Immerhin erste Ideen und Vermutungen gibt es: Die rätselhaften Proteine kommen oft außerhalb von Zellen und in Drüsengewebe vor. Das könnte für einen Job in der Kommunikations- oder gar der Verteidigungsbranche des Körpers sprechen - beides Bereiche von enormer Bedeutung.

Außerdem scheinen die dunklen Proteinen spät in der Evolution entstanden zu sein. Zwischen den einzelnen Lebewesen unterscheiden sie sich relativ stark voneinander. Vielleicht, so spekuliert Schafferhans, seien es ja ausgerechnet die dunklen Proteine, die den Mensch zum Menschen, die Maus zur Maus und die Mikrobe zur Mikrobe machen.

Zutrauen sollte man es ihnen jedenfalls. Schon ein Blick auf die Funktionen der besser untersuchten Proteine zeigt, welch vielfältige Aufgaben diese Moleküle übernehmen können. Sie entscheiden mit darüber, ob wir uns hungrig oder satt fühlen, unruhig oder zufrieden sind. Sie sorgen dafür, dass wir frisch gekochten Kaffee riechen und uns gegen das Grippevirus wehren können.

Proteine geben jeder Zelle und damit dem gesamten Körper mechanischen Halt, sie regeln seinen Stoffwechsel, den Transport und die Kommunikation zwischen verschiedenen Organen, die Aktivität der Gene, und wenn jemand zum Beispiel an Krebs, Rheuma oder Diabetes erkrankt, spielen auch dabei Proteine die Schlüsselrolle. "Viele denken, wir seien bestimmt durch unsere Gene", sagt Matthias Mann. "Dabei sind es die Proteine, die wirklich etwas in uns und mit uns machen."

Proteine sind Künstler

Bei derart vielfältigen Aufgaben wundert es kaum, dass viele wahre Rollenkünstler sind. "Sie verändern sich, je nachdem, mit wem sie zusammen sind", sagt der Proteomforscher Bernhard Küster von der Technischen Universität München. "Das ist vergleichbar mit einem Menschen, der an einem Tag als Fußballer auf dem Bolzplatz steht und am nächsten Geige in einem Orchester spielt."

Je nach Umfeld und Situation nehmen auch Proteine verschiedene Aufgaben wahr und richten ihr jeweiliges Erscheinungsbild und ihr Verhalten daran aus. Gründe, sich zu verändern, gibt es genug: Tages- und Jahreszeit, Ernährungs- und Entwicklungszustand, das Alter und alle möglichen Umweltbedingungen beeinflussen das Proteom.

Hinzu kommt, dass auch die Ausstattung zwischen den einzelnen Organen deutlich stärker variiert, als Forscher lange angenommen haben. Erst als eine Gruppe um Küster sowie ein weiteres Team vor knapp zwei Jahren den bislang umfassendsten Proteom-Atlas des Menschen im Fachmagazin Nature präsentierten, zeigte sich: Die jeweiligen Mengen der knapp 20 000 verschiedenen Proteine unterscheiden sich etwa zwischen Lunge, Leber Herz und Gehirn enorm. "Das Proteom ist wahrscheinlich um Größenordnungen komplexer als das Genom", sagt der MPI-Forscher Mann.

Millionen verschiedene Varianten sind denkbar

Das klingt nun alles wiederum so, als wüssten Küster, Mann und ihre Kollegen bereits ziemlich gut Bescheid über das Protein-Universum. Ist es also doch kein "dürftig definiertes, sogar rätselhaftes Gebilde" mehr, wie der spätere Chemie-Nobelpreisträger Michael Levitt vor einigen Jahren im Journal PNAS schrieb?

Es kommt darauf an. Einerseits zählt es längst zum Standardwissen, wie mithilfe der Information, die in der DNA gespeichert ist, ein Protein aus Aminosäuren zusammengebaut wird.

Andererseits gibt es dabei einige Produktionsschritte, in denen die Proteine noch einmal verändert werden. Welche und wie viele verschiedene Varianten der 20 000 Grundformen dabei entstehen und wo diese in welcher Menge im Körper vorkommen, liegt jedoch zum großen Teil im Dunklen. "Da schießen die Schätzungen ins Kraut. Man kommt schnell auf Millionen verschiedener Moleküle", sagt Küster. "Und davon ist ganz viel 'dunkle Materie'".

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Quelle:
SZ vom 13.01.2016/mter
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