Moderne Medizin:Wohl und Wehe 

Medikamente

Die perfekte Medikamentierung für jeden, das soll personalisierte Medizin künftig leisten. Grundlage sind die gesammelten Daten über die Patienten. Doch die Digitalisierung im Gesundheitswesen wird oft noch mit Skepsis gesehen.

(Foto: Matthias Hiekel/dpa)

Im Gesundheitswesen können Computer und das Auswerten gesammelter Daten Patienten wie Medizinern durchaus nützen. Allerdings bremsen hohe Kosten die digitale Spitzenmedizin.

Von Kim Björn Becker

Der Patient liegt schon auf dem Tisch, der Raum ist in blaues Licht gehüllt. Als der Operateur zum Instrument greift, wechseln die Leuchten an der Decke die Farbe. Statt blau strahlen sie nun warmweiß. Und wie von selbst richten sie sich neu aus und bündeln ihre Kraft am linken Ohr des Schlafenden - genau dort, wo der Eingriff nun vorgenommen werden soll. Simuliert wird eine Operation am menschlichen Innenohr, dazu muss der Schädel aufgebohrt werden. Statt Knochen durchstößt der Bohrer allerdings nur den Kunststoff einer Attrappe. Und der Operateur ist auch kein approbierter Arzt, sondern studierter Jurist: Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe.

Es ist Mitte August, und am ersten Tag seiner Sommerreise macht der CDU-Politiker in Leipzig halt. Dort steht er nun, umringt von echten Ärzten und Dutzenden Journalisten, im Innovationszentrum für computerassistierte Chirurgie (ICCAS). Dass sich die Beleuchtung des OP-Saals just in dem Moment ändert, in dem der Minister zum Bohrer greift, ist kein Zufall. Denn der Raum weiß, dank Computertechnik, welcher Schritt der Operation jeweils als nächster folgt. Gleich einer Checkliste wird auf einem Monitor angezeigt, welche Arbeitsschritte folgen. Daher weiß der OP-Saal auch, wann der Bohrer benötigt wird - und da dieser dank moderner Technik in dem Raum lokalisiert werden kann, weiß der Rechner auch, falls der Operateur danach greift. Die Bewegung des Instruments ist das Signal für das Beleuchtungssystem, dass es losgeht - es folgt helles Weiß statt beruhigenden Blaus, ohne ein Wort, ohne einen Tastendruck.

Das Leipziger Institut macht erlebbar, wie sehr die Digitalisierung die Chirurgie schon heute verändert. Inzwischen gibt es kaum einen Bereich des Gesundheitswesens, in dem Daten nicht schon im Begriff wären, einiges auf den Kopf zu stellen: Pharmakonzerne setzen auf Gen-Analysen und riesige Datenbanken, um in Zukunft maßgeschneiderte Arzneien für einzelne Patienten zu entwickeln; Krankenkassen interessieren sich für die Bewegungsdaten ihrer Mitglieder, um daraus Krankheitsrisiken abzuleiten und Vorsorgeprogramme zu entwerfen; in Kliniken soll die Krankenakte aus Papier bald der Vergangenheit anhören, da Röntgenaufnahmen und Laborbefunde inzwischen oft auch digital zur Verfügung stehen. Um viele dieser Aspekte geht es auch Ende September bei einer Tagung der Süddeutschen Zeitung in München: Auf dem Kongress "Digital Health - Gesundheit neu denken" diskutieren Experten aus Politik, Wirtschaft und IT zwei Tage lang über Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung in der Medizin.

Dabei wird auch der Aspekt der Patientenrechte nicht zu kurz kommen. Datenschützer mahnen beständig, dass die Möglichkeiten von Big Data nur im zulässigen Rahmen ausprobiert und genutzt werden dürfen. Zwar sei der Datenhunger digitaler Medizin gerade in der Krebsforschung, bei der es für die Betroffenen um viel geht, äußerst verständlich, sagte denn auch Gesundheitsminister Gröhe bei einem Besuch des Softwareherstellers SAP und Molecular Health, eines Anbieters von Genanalysen, in Heidelberg. Die Unternehmen müssten aber bisherige Datenschutzanforderungen wahren, betonte er.

Derzeit wird verstärkt daran gearbeitet, mithilfe von massenhaften Genanalysen zu erklären, warum manche Krebspatienten besser als andere auf Chemotherapien ansprechen. Laut einer Umfrage des Digitalverbands Bitkom erwarten 80 Prozent der befragten Vertreter von Pharma-Unternehmen, dass digitale Techniken in Zukunft beim Kampf gegen Krebs helfen werden. Derlei Gen-Analysen gibt es für Selbstzahler bereits heute, sie schlagen aber mit teils mehreren Tausend Euro zu Buche und es ist offen, ob sie auf diesem Niveau jemals von den gesetzlichen Kassen übernommen werden können. Befürworter der teuren Technik argumentieren, dass damit eines Tages Behandlungskosten gespart werden können, weil Fehldiagnosen und falsche Therapien womöglich vermieden würden. Roland Eils vom Deutschen Krebsforschungszentrum fordert, dass zwischen dem Datenhunger in der IT-gestützten Krebsforschung und der gesetzlich gebotenen Datensparsamkeit eine Balance gefunden werden müsse, die beiden Seiten gerecht wird. Die Entscheidung, was mit persönlichen Daten geschehe, dürfe weiter nur der Patient treffen.

Die elektronische Patientenakte kommt nur langsam voran

Gerade die Deutschen gelten gemeinhin als recht skeptisch, was die Risiken der Digitalisierung angeht. Doch bei einigen Anwendungen versprechen sich die Befragten offenbar viel vom technischen Fortschritt - ein Beispiel dafür ist die elektronische Patientenakte. Die Anwendung basiert auf der elektronischen Gesundheitskarte, die viele Versicherte schon haben. Dort sollen einmal Stammdaten, Notfallinformationen sowie Befunde und Protokolle abrufbar sein. Dass viele dennoch positiv auf die elektronische Patientenakte zu sprechen sind, zeigt eine Umfrage der Unternehmensberatung Accenture aus dem Jahr 2013: Etwa 43 Prozent der befragten deutschen Patienten gaben demnach an, dass sie sogar den Arzt wechseln würden, um Zugang zu ihrer elektronischen Akte zu erhalten. Die Berater werteten dies als Zeichen dafür, dass Patienten "immer häufiger Verantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen". Zugleich machte die Umfrage deutlich, dass Ärzte einer zunehmenden Information ihrer Patienten teils durchaus kritisch gegenüberstehen - womöglich, weil sie aufgeklärten Patienten viel mehr erklären und begründen müssen als unwissenden. Fast 90 Prozent der von Accenture befragten deutschen Ärzte waren nämlich der Ansicht, dass Patienten nicht den vollen Zugriff auf ihre Akte bekommen sollten.

Dass es bis zum weitgehend digitalisierten Arzt-Patienten-Verhältnis aber noch ein weiter Weg ist, zeigen denn auch die teils gescheiterten Projekte der vergangenen Jahre. Die elektronische Gesundheitskarte kommt zum Beispiel viel langsamer voran als von der Politik gewünscht, was vielerorts Frust auslöst. Und als der Bundestag vor einigen Monaten das E-Health-Gesetz beschloss, bestand eine der Neuerungen dieses Gesetzes ausgerechnet in einem Anspruch der Patienten auf einen Medikationsplan - aber nur in Papierform. Erst 2018 soll es eine digitale Version auf der Gesundheitskarte geben.

Im Leipziger ICCAS hat Gesundheitsminister Gröhe den Bohrer derweil wieder zurückgelegt, der virtuelle Operationsschritt am Ohr ist gelungen. Es sei durchaus "schwierig, moderne Technik in die Fläche zu bringen", sagt Andreas Melzer, Direktor des Zentrums. Denn was im Forschungszentrum mühelos wirkt, ist für ein Kreiskrankenhaus im ländlichen Raum oft unbezahlbar. Es wird wohl also noch eine Zeit dauern, bis es die Spitzenmedizin in jeden Winkel des Landes schafft.

Der SZ-Kongress "Digital Health - Gesundheit neu denken" findet am 27. und 28. September 2016 im Hochhaus des Süddeutschen Verlags in München statt. Anmeldung und ausführliches Programm im Internet unter www.sz-digital-health.de.

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