Mobilität:Wie Autos künftig Frust erkennen sollen

Mobilität: Mit etwas Vanilleduft fährt es sich gleich entspannter

Mit etwas Vanilleduft fährt es sich gleich entspannter

Ein Wutausbruch am Steuer bei Tempo 180 ist lebensgefährlich. Höchste Zeit, dass Autos die Emotionen ihrer Fahrer bemerken.

Von Nadine Zeller

Es ist ein altbekanntes Übel. Drängeln, Lichthupe, den Vogel zeigen - auf Deutschlands Straßen und Autobahnen herrscht das Recht des Gaspedals. Wer stärker draufdrückt, gewinnt. Bei 180 Kilometern pro Stunde kann das schnell tödlich enden. Allein im Jahr 2015 starben in Deutschland 3475 Menschen bei Verkehrsunfällen. Das sind zwar sehr viel weniger als in früheren Jahrzehnten, doch seit zwei Jahren steigt die Zahl der Verkehrstoten wieder.

Nun überrascht es wenig, dass die Kombination von Aggression und hoher Geschwindigkeit lebensgefährlich ist. Neu sind die Mittel, mit denen man dieses Risiko mindern will. Nicht mit neuen Tempolimits, schnelleren Bremsen oder verbesserten Airbags. Seit einigen Jahren arbeiten Psychologen und Computerwissenschaftler daran, viel früher in der Kausalkette einzugreifen: Sie wollen bereits direkt im Auto den Emotionshaushalt des Fahrers beeinflussen. Spezielle technische Systeme sollen Frustrationen und Aggressionen frühzeitig erkennen und ihnen entgegenwirken.

Im Simulator absolvieren Probanden das "Frustprogramm"

Das ist der Grund, wieso Verkehrspsychologin Meike Jipp und ihr Team vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Braunschweig regelmäßig Testpersonen in den Fahrsimulator steckt, meist Studenten. Diese werden dann gezielt in frustrierende Straßenverkehrs-Situationen gebracht. Währenddessen wird aufgezeichnet, wie das Gehirn und die Gesichtsmuskeln der Probanden reagieren. Auf Basis dieser Beobachtungen und Daten wollen sie eine Software entwickeln, die Emotionen erkennt. Im 21. Jahrhundert soll das Auto endlich zum Menschenversteher werden.

Jipp führt in einen kreisrunden Raum, wo sich der Fahrsimulator befindet: Ein echter Kleinwagen, in dem allerlei Technik installiert ist, drumherum wird eine virtuelle Umwelt projiziert. In ihm absolvieren die Testfahrer das Frustprogramm, das die Forscher eigens für dieses Experiment entworfen haben. Die Probanden müssen den Wagen durch eine künstliche Stadt steuern und dabei mit brenzligen und frustrierenden Situationen zurechtkommen. Gelingt es ihnen, ein Route unfallfrei zu absolvieren und ein Paket auszutragen, bekommen sie zwei Euro.

Wie leicht führt psychischer Stress zu Verkehrsunfällen? Um das herauszufinden, werden die Probanden zunächst verkabelt: Aus dem Spiegel blickt eine elektrische Medusa die Testperson an, statt Schlangen kringeln sich Strom führende Kabel auf dem Kopf. Diese münden in Anschlüssen einer besonderen Mütze, einer sogenannten NIRS-Kappe. Die darin eingebaute Nahinfrarotspektroskopie-Technologie (NIRS) misst, wie stark die darunterliegende Hirnregion durchblutet ist. Die Forscher erfahren dadurch, wann sauerstoffreiches Blut in den präfrontalen Cortex steigt. Je mehr sauerstoffreiches Blut dorthin fließt, desto stärker versucht das Gehirn, seine Impulse zu kontrollieren.

Auf dem Bildschirm das animierte Gehirn. Über der Stirn liegt eine Region. Knallrot

Außerdem haben die Forscher verkabelte Pflaster unter den linken Rippenbogen, auf das Schlüsselbein und den Rücken geklebt - für das EKG. Abschließend binden sie das Mützchen unterm Kinn zu. Jetzt könnte die Autofahrt beginnen. "Wenn Ihnen schlecht wird, dann bitte nicht ruckartig bewegen", warnt zuvor noch ein Mitarbeiter, "die Kabelenden verlaufen jetzt auf der Rückseite des Fahrersitzes. Sie sind praktisch gefesselt." Dann reicht er noch schnell ein Schriftstück durch das Seitenfenster. "Und hier unterschreiben Sie bitte, dass Sie nicht schwanger oder Epileptikerin sind. Sie haben sechs Minuten Zeit das Paket auszuliefern, also beeilen Sie sich. Viel Spaß."

Dann fällt die Tür des Saals zu. Vor der Frontscheibe tauchen Häuserschluchten auf. Immerhin scheint hier die Sonne. "Sie können jetzt losfahren", sagt ein Forscher über das Mikrofon. Trotz leichten Drucks auf das Gaspedal tut sich erst mal nichts. Nachdem das rechte Bein voll durchgestreckt ist, beginnen die Gebäude der Stadt vorbeizuziehen. Immer schneller.

Im echten Leben wäre nicht nur das Auto geschrottet

"Biegen Sie an der Kreuzung bitte rechts ab", befiehlt die Lautsprecherstimme. Ein Blick auf den Tacho zeigt 60 Stundenkilometer, zu schnell. Noch zehn Meter bis zur Kreuzung. Das wird eng. Lenkrad einschlagen. Der Wagen steuert auf eine Hauswand zu. Das reicht niemals. Stärker einschlagen. Der Wagen schwimmt. Immerhin ist er noch auf der Straße, allerdings auf der Gegenfahrbahn. Noch stärker einschlagen. Das war zu viel. Der Wagen rast auf den Gehweg zu, über den Bordstein. Nicht lustig. Im echten Leben wäre jetzt nicht nur das Auto geschrottet, sondern vielleicht sogar ein Fußgänger zu Tode gefahren.

Ein neuer Versuch. "Beim ersten Mal ist es immer ein bisschen schwierig", sagt der Forscher verständnisvoll. "Normalerweise dürfen Probanden länger im Simulator üben." Daran wird es liegen. "Können wir?", fragt die Stimme.

Dieses Mal läuft es besser. Die Kurve kommt nicht so unerwartet. Danach liegt der Wagen ruhig auf der Straße. Noch vier Minuten. Vorne schaltet eine Ampel auf Rot. Bremsen. Anfahren. Na also. Ein Bus zuckelt die Straße lang. Noch dreieinhalb Minuten. Das kostet wertvolle Zeit. Obwohl von Anfang an klar war, dass die Wissenschaftler gezielt Hindernisse in den virtuellen Parcours einbauen würden, schleicht sich nun dennoch Gereiztheit ein. Schon wieder eine Ampel. Nur noch zweieinhalb Minuten. Sie schaltet auf Grün. Los, los.

"Und? Frustriert?"

Drinnen im Labor starrt zu diesem Zeitpunkt Psychologin Jipp auf den Bildschirm und beobachtet die Tour durch die fremde Stadt. Je hektischer die Fahrt wird, desto mehr kann sie beobachten. Ihr entgeht nichts.

Was ist da vorne schon wieder? Fahrbahnverengung wegen Baustelle. Erst mal den Gegenverkehr passieren lassen. LKW, Kleinwagen, BMW, Fiat. Die halbe Stadt scheint spazieren zu fahren. Jetzt ist frei. Gas. Die Hälfte der Baustelle ist passiert, da rollt ein roter BMW heran. Wo kommt der denn jetzt her? Beide Wagen bremsen. Stehen Motorhaube an Motorhaube. Der andere Fahrer schaut genervt. Und jetzt?

Ein heftiges Wedeln mit der Hand ist die natürliche Reaktion. Weg da. Das andere Auto fährt aber deshalb nicht rückwärts. Völlige Ratlosigkeit. "Sie müssen den Gegenverkehr schon erst mal durchlassen", raunt der Forscher am Mikro. Zu spät. Die Zeit rennt. Schleierhaft, wie es möglich sein soll, dieses Programm in sechs Minuten zu absolvieren, ohne gegen sämtliche Verkehrsregeln zu verstoßen. "Kann ich durch die Baustelle fahren?" Ausnahmsweise. Immerhin schleudert der Wagen nicht, wie man es eigentlich erwartet. Wann ist bloß endlich das Ziel erreicht? "Sie haben die Zeit überschritten", sagt die Stimme aus dem Off. Der Fuß gleitet vom Gaspedal. Der Wagen rollt langsam aus. Stille.

Der Forscher betritt den Raum und grinst durch das Seitenfenster. "Und? Frustriert?"

44 Bewegungen

der Gesichtsmuskeln unterscheiden Psychologen in dem weit verbreiteten Facial Action Coding System (FACS), zu deutsch Gesichtsbewegungs-Kodierungs-system. Das obere Gesicht ist zu zwölf Bewegungen fähig, das untere zu 32. Auf dieser Basis lassen sich alle mimischen Ausdrücke objektiv beschreiben und automatisch - etwa mit Kameras - erfassen. So auch die fünf wesentlichen menschlichen Emotionen: Freude, Trauer, Wut, Angst, Ekel und Überraschung.

"Kann ich aussteigen?"

"Das ist wie im wahren Leben", sagt Jipp gut gelaunt, "da sind die Leute auch unter Zeitdruck und gestresst. So, jetzt sehen wir uns mal Ihren präfrontalen Cortex an." Der Bildschirm zeigt ein animiertes Gehirn. Mein Gehirn. Über der Stirn liegt eine Region. Sie ist knallrot.

Massagesitze oder Vanilleduft - Autos sollen ihre Fahrer künftig beruhigen

Die Liste der Frustrationsmerkmale ist lang. Mit jedem weiteren Anzeichen scheint die Laune der Wissenschaftler zu steigen. Da haben sie wohl ein tolles Exemplar eines emotionalen Verkehrsteilnehmers entdeckt. "Hochgezogene Schultern, angespannte Kieferregion, nervöses Lippenlecken, ruckartige Lenkbewegungen und diese Grübchenbildung am Mund - ganz typisch." So zeige sich, dass das Gehirn in dem Zustand viel Energie damit verbrauche, den Ärger unter Kontrolle zu halten. "Hier beginnt das riskante Autofahren."

"Dass Sie an der Baustelle losgefahren sind, ohne genau zu schauen, ob in der Ferne ein anderes Auto heranfährt, ist typisch. Gerade unter Zeitdruck empfinden Autofahrer Situationen wie Baustellen oder lange Wartezeiten als frustrierend." Moment mal, das andere Auto kam aus dem Nichts! Aber gut. Das Brettern durch die Baustelle war auch nicht legal.

Von ihren Probanden verlangt Jipp immer noch einen zweiten Durchlauf. Die Versuchspersonen müssen denselben Weg ein weiteres Mal ohne Hindernisse fahren, um herauszufinden, wie die körperlichen Reaktionen dann ausfallen. Was im gut ausgeleuchteten Labor noch relativ einfach ist, fällt in der Praxis schwer. "Durch die Bewegung des Autos fällt mal mehr und mal weniger Licht auf das Gesicht des Menschen", erläutert Jipp. "Vorbei ziehende Bäume oder Tunnel erschweren so die Arbeit der Kamera." Andere Forscher - etwa beim Ingolstädter Autobauer Audi - setzen deshalb auch auf andere Systeme, auf sogenannte Wearables wie Smartwatches oder Activity-Tracker. Diese tragbaren Computer könnten den Puls messen und mit dem Bordcomputer kommunizieren. Vermutlich arbeiten alle großen Auto-Hersteller an entsprechender Technologie; Fortschritte sind absehbar.

Irgendwann wird einem das Auto zur Entspannung Witze erzählen. Will man das wirklich?

Doch selbst, wenn Emotionssignale präzise erfasst werden können, bleiben offene Fragen. Es gilt, einen Algorithmus zu entwickeln, der die von den Sensoren und Kameras gesammelten Daten zuverlässig interpretiert. Wie etwa soll der Computer unterscheiden, ob der Fahrer angesichts der schlechten Nachrichten des Radiosprechers bloß betroffen ist, oder ob er ernsthaft frustriert ist, weil der Wagen vor ihm zu langsam fährt? "Wir sind immer noch auf der Suche nach Indikatoren, die nur bei Frustration aktiv werden", sagt Jipp.

Erst dann, wenn die Autos der Zukunft die gefährlichen Emotionen ihrer Fahrer einwandfrei identifizieren könnten, ließen sich diese auch gezielt beeinflussen. Bislang sind die Maßnahmen eher unspezifischer Art. Daimler lässt die Fahrer mancher Modelle auf Massagesitzen Platz nehmen oder beduftet sie mit Parfum. "Dezenter Vanillegeruch beruhigt", bestätigt Meike Jipp. Andere Forscher spekulieren gar über Programme, die einfach die Geschwindigkeit drosseln, wenn der Mensch am Steuer allzu wütend erscheint. Oder wäre es gar vorstellbar, dass die Autos irgendwann zu sprechen anfangen und zur Entspannung Witze erzählen, so wie das intelligente Auto K.I.T.T. aus der 1980er-Jahre-TV-Serie "Knight Rider".

Ob man das will? Schließlich gibt es noch andere Lösungen: Auf zum Bahnhof, rein in den ICE, Kopfhörer auf und dann gibt es Curtis Mayfield auf die Ohren. Eigentlich ganz einfach, das Entspannen auf Rädern.

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