Mittelalter:Österreicher übersetzte Bibel 200 Jahre vor Luther

Mittelalter: Mit Lineal und Federkiel: 27 Kopien des Klosterneuburger Evangelienwerks gibt es noch.

Mit Lineal und Federkiel: 27 Kopien des Klosterneuburger Evangelienwerks gibt es noch.

(Foto: Universität Augsburg)

Martin Luther war nicht der Erste, der die Evangelien ins Deutsche übertragen hat. Ein Unbekannter aus Österreich war ihm Jahrhunderte voraus. Das Werk birgt viele Rätsel.

Von Kathrin Zinkant

Maria wusste nicht, wie ihr geschah, als der Mann an dem leeren Grab zu ihr sprach. Sie hielt ihn für den Gärtner. Erst als sie ihn ansah und der vermeintlich Fremde abermals das Wort an sie richtete, wurde die Frau erlöst: Jesus von Nazareth, gerade erst am Kreuz gestorben und unter Tränen begraben, war auferstanden.

Es ist dieser Moment, den zwei Milliarden Christen am kommenden Sonntag als das höchste Fest ihres Glaubens feiern werden. Und es ist dieser Moment, den ein gläubiger Christ vor knapp 700 Jahren in einer bemerkenswerten Übersetzung des Johannes-Evangeliums infrage stellte. Denn welcher Maria erschien der auferstandene Jesus wirklich zuerst? Während das Original keinen Zweifel daran lässt, dass es sich bei der Frau um Maria Magdalena handelte, die fromme Gefährtin Gottes Sohnes, war der spätmittelalterliche Autor sicher: Wenn, dann musste Jesus doch wohl seiner Mutter Maria von Nazareth zuerst erschienen sein. Die "heyligen ewangelisten" hätten dies zwar nicht aufgeschrieben. Wer aber nur den überlieferten Evangelien vertraue, sei kein aufrechter Christ.

Gründe für einen religiösen Aufbruch gab es auch vor Luther schon genug

Der Mann, der das behauptet, hatte noch viel mehr über die Bibel zu sagen. Er fügte seine Kommentare in umfassende, von ihm selbst gefertigte Übersetzungen der Evangelien ein, die damit erstmalig komplett in Deutsch erschienen und heute als Klosterneuburger Evangelienwerk bekannt sind. Es sind diese und weitere Schriften des Kritikers, die nun zum Großprojekt der Germanistik werden sollen. "Gottes Wort deutsch" heißt es. 4,5 Millionen Euro darf es kosten, verteilt über zwölf Jahre und auf drei Arbeitsgruppen. In Berlin wird der Mediävist Martin Schubert an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) die Texte bearbeiten, oder "edieren", wie die Fachleute sagen. Geleitet wird das Projekt von seinen Kollegen Jens Haustein von der Universität Jena und dessen Augsburger Kollegen Freimut Löser. Und selbst wenn es nach viel Geld für eine Textbearbeitung klingt: Den Forschern steht eine Sisyphosarbeit bevor, die in weiten Teilen per Hand zu leisten sein wird. Am Ende soll eine umfassende hybride gedruckte und digitale Edition stehen, die Licht in das düster erscheinende vorreformatorische Zeitalter bringt.

Nicht nur für die beteiligten Mediävisten geht damit ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Die Schriften selbst sind seit Jahrzehnten bekannt und geben Sprachforschern, Historikern und nicht zuletzt den Theologen genauso lange schon Rätsel auf. Fest steht eigentlich nur: Der Verfasser des Werks, der sich so vehement für eine neue Sicht auf die heilige Schrift engagierte, ist der "erste, herausragende Protagonist der spätmittelalterlichen Verteidigung der Bibel für Laien".

Und zwar fast 200 Jahre vor Luther. Zu einer Zeit, in der die Reformation noch weit entfernt war, sich das Ende der mittelalterlichen Epoche aber schon abzeichnete. Die längst geprägt war vom Missbrauch des Ablasshandels durch die Kirche und von politischer Instabilität. Die Feindseligkeit gegen Juden wuchs. Der Schwarze Tod zog durch Europa. 25 Millionen Menschen fielen der beispiellosen Epidemie zum Opfer. Das Siechtum, der allgegenwärtige Tod, die stete Aussicht aufs Fegefeuer - es gab schon im 14. Jahrhundert genug Gründe für einen religiösen Aufbruch. Und es war nicht nur dem Verfasser des Klosterneuburger Evangelienwerks klar, dass dem vor allem die Deutungshoheit der katholischen Kirche im Wege stand.

Wer war der ominöse Bibelübersetzer?

Das Volk sollte selbst in der Bibel lesen oder das Vorgetragene zumindest verstehen. Im Mittelalter war die heilige Schrift aber nur als lateinische Übersetzung zugänglich. Und als altgriechischer oder hebräischer Originaltext. Wer des Lesens mächtig war, und das war zum Ende des Mittelalters höchstens jeder zehnte männliche Mitteleuropäer, konnte noch lange nicht die Bibel studieren. Nach und nach begannen verschiedene Übersetzer, an dieser Hürde zu rütteln. Bekannt sind heute etwa 70 deutsche Übersetzungen aus fast acht Jahrhunderten vor der Reformation. Die meisten dieser Texte geben allerdings nur Fragmente der Bibel wieder. Kritische Kommentare fehlten meist. Und selten wurden ganze Evangelien ins Deutsche übertragen.

Das Evangelienwerk des Unbekannten ist also schon wegen seiner Umfänglichkeit eine Besonderheit. Dazu loben Fachleute einhellig die sprachliche Eleganz der Texte. Außerdem hat kein Übersetzer jener Zeit so viel kommentiert. Und nicht zuletzt geht vom Verfasser selbst eine große Faszination aus. Dieser Mann, den die Fachleute nur den "Österreichischen Bibelübersetzer" - kurz Ö.B. oder ÖBü - nennen, ist als Person ein sagenhaftes Rätsel. Wer war er, woher kam er, warum tat er, was er tat - und was befähigte ihn dazu, die Evangelien und Psalmen sprachlich so herausragend zu übersetzen?

Die Ortsangaben deuten auf Österreich als Ursprung der Übersetzung hin

Erste Versuche, dem Verfasser auf die Spur zu kommen, führten naheliegenderweise zu einem spätmittelalterlichen Dichter: Heinrich von Mügeln gilt neben Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach und anderen Dichtern heute als einer der "zwölf Meister" des Mittelalters. Zu Lebzeiten lebte er im Gefolge Karls des IV., dem letzten einflussreichen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Vor allem der Zeitpunkt, zu dem die Schriften entstanden sein mussten, und der elegante sprachliche Stil deuteten auf eine Urheberschaft von Mügelns. Als jedoch immer weitere Schriften gefunden wurden, die aus der Feder desselben Verfassers stammen mussten, ließ sich die Zuordnung nicht mehr halten.

Wer aber war dann der Unbekannte, der 200 Jahre vor Luther eine so umfassende und tiefgründig kommentierte Übersetzung der Evangelien vorlegte? "Ich stelle mir vor, dass dieser Mann ein Mönch war und in einem Kloster diese Übersetzungen geschrieben hat", sagt Martin Schubert. Geld habe für den Übersetzer wahrscheinlich keine Rolle gespielt, mutmaßt der Forscher. Sonst wäre eine derart zeitintensive Arbeit kaum möglich gewesen. Viel mehr als dieses nebulöse Bild geben die spärlichen Befunde bislang nicht her, obwohl sich Wissenschaftler bereits seit Jahrzehnten fragen, wer der große Unbekannte wohl gewesen sein mag. Die Existenz der Texte jedenfalls war schon vor 70 Jahren Gegenstand intensiver Analysen.

Das "Geistliche Schrifttum des Spätmittelalters", das der Germanist Wolfgang Achnitz von der Universität in Münster herausgegeben hat, fasst das Wissen über den Anonymus so zusammen: Seine wichtigsten Schriften entstanden um 1330, der Bibelübersetzer muss also in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gelebt haben. Dass er aus dem damaligen Herzogtum Österreich stammt oder zumindest dort tätig war, leiten Wissenschaftler aus den Ortsangaben der Schriften und den Fundorten der überlieferten Kopien ab.

Die kommentierte Bibel sollte ketzerischen Strömungen entgegenwirken

Als möglicher Name taucht in frühen Ausgaben mehrfach "Wolfhart" auf. Es ist aber unklar, ob dieser Wolfhart nur einer der Überliefernden war - oder der Übersetzer höchstpersönlich. Ebenso wenig wissen die Forscher, welchen Beruf der Mann ausgeübt und welche Ausbildung er genossen hat. Lediglich Indizien hat man den Texten entnehmen können. So bezeichnet sich der Autor selbst als Laie, war demnach also kein hoher Gelehrter. Andererseits zeugen seine hervorragenden sprachlichen Kenntnisse im Deutschen wie Lateinischen und seine Kenntnisse bereits vorhandener Übersetzungen durchaus von einem gewissen Bildungsgrad.

War der Mann also einfach nur bescheiden? Tiefgläubig war er gewiss, und sehr darauf bedacht, der römisch-katholischen Kirche in ihrem Selbstbild nicht allzu nahe zu treten. Die teils sehr kritischen Anmerkungen seiner Übersetzung sind daher nicht durch eigene Argumente, sondern mit Zitaten aus der zeitgenössischen Mystik belegt. Eine zentrale Rolle spielten dabei Sagenüberlieferungen und die in Deutsch verfasste Legenda aurea, eine der wichtigsten Schriften der Heiligenverehrung aus dem späten 13. Jahrhundert.

Es geht aber nicht nur um die Biografie des unbekannten Autors. Es geht auch um seine Absichten. Wollte der Bibelübersetzer Unfrieden stiften, die Gläubigen von der Kirche trennen? Wie bei Luther ist wohl das Gegenteil der Fall. Der österreichische Bibelübersetzer lebte in einer Zeit und Region, in der die Bevölkerung immer mehr vom Glauben abfiel. Der Zugang zur Bibel sollte den ketzerischen, aber auch den orthodoxen Tendenzen entgegenwirken und durch Volksnähe neues Vertrauen in die heilige Schrift schaffen. Wäre der Buchdruck damals bereits erfunden gewesen, womöglich hätte der ÖBü die Reformation 200 Jahre früher angeschoben.

Die Digitalisierung hat das Vergleichen der Überlieferungen vereinfacht

Doch trotz der Ähnlichkeiten mit Luther, die vom Widerstand gegen den moralischen Verfall der Kirche bis hin zu den damals verbreiteten antisemitischen Äußerungen reichen: Die Mittel der Verbreitung begrenzten sich auf handschriftliche Kopien, die teils auch noch Kürzungen oder Variationen umfassten. Luther selbst standen später zahlreiche auf diese Art angefertigte Übersetzungen für seine Arbeit zur Verfügung. Anders als der ÖBü übertrug der Theologe aber nicht die lateinische Bibel ins Deutsche, sondern hielt sich an die überlieferten Originaltexte. Die Legendentraditionen, die dem Unbekannten so wichtig waren, lehnte Luther vollständig ab.

Martin Schubert hofft nun, dass die neue Edition mehr Aufschluss über den Unbekannten und sein Schaffen geben kann - aus dem Text heraus und durch Vergleiche mit anderen mittelalterlichen Quellen. Dank der Digitalisierung sind solche Untersuchungen sehr viel einfacher geworden. Beziehungen zwischen den Überlieferungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede, lassen sich heute leichter analysieren. Schubert allerdings verweist darauf, dass vieles eben doch Handwerk bleibt. Das war es für den Unbekannten und für Luther auch.

70 Übersetzungen

von Bibeltexten ins Deutsche gab es vor der Veröffentlichung der Lutherbibel im Jahr 1534. Von diesen Laienbibeln wurden 14 sogar gedruckt. Im Gegensatz zum Werk Luthers handelt es sich bei den allermeisten aber nur um Bibelfragmente, die sprachlich gestelzt und für Laien daher oft unverständlich waren.

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