Der deutsche Begriff Weltraumspaziergang ist höchst irritierend, denn der Ausstieg eines Astronauten aus der schützenden Hülle einer Raumkapsel ist alles andere als ein lustiger Ausflug ins Vakuum – zu viele Dinge könnten passieren.
Dies musste der sowjetische Kosmonaut Alexei Leonow am eigenen Leibe erfahren, als er an einer Sicherheitsleine aus seiner Woschod-Kapsel ins All schwebte. Als erster Mensch befand er sich am 18. März 1965 zwölf Minuten im freien Weltraum. Doch genießen konnte er die Aussicht nicht wirklich, als er bemerkte, dass sich sein Raumanzug so aufgebläht hatte, dass er nicht mehr durch die enge Luke in seine Kapsel zurückkehren konnte. Er musste Druck aus seinem Raumanzug ablassen, um das Abenteuer zu überleben. Und im Juli 2013 musste Esa-Astronaut Luca Parmitano seinen Außenbordeinsatz an der Raumstation ISS vorzeitig abbrechen, da sich wegen eines Defekts in seinem Raumanzug so viel Wasser in seinem Helm angesammelt hatte, dass er fast ertrunken wäre.
Letzteres konnte an diesem Donnerstag nicht passieren, als erstmals zwei private Astronauten der US-Mission Polaris Dawn zu einem Kurzausflug aus einer Space-X-Kapsel ausstiegen. Allerdings reckten sie sich eher ins All, ein Spaziergang war es letztlich nicht. Sie haben bei dem Einsatz neue Druckanzüge der kalifornischen Raumfahrtfirma Space-X getestet, die nur über einen Versorgungsschlauch mit dem Lebenserhaltungssystem der Kapsel Crew Dragon verbunden sind. Dies ist ein völlig anderes System als bei den ISS-Außenbordeinsätzen. Die ISS-Astronauten tragen einen fast schon antiquierten klobigen Rucksack, in dem Sauerstoffsystem, Kühlung und Energie enthalten sind.
Die Space-X-Anzüge wirken hingegen schnittig mit mehr Bewegungsfreiheit, der Helm hat ein Visier, damit das Sonnenlicht nicht blendet. Außerdem können sich die Astronauten auf einem Innendisplay über Druck, Temperatur und Luftfeuchtigkeit im Anzug informieren.
Der Weltraumausstieg startete etwa 740 Kilometer über der Erde. Die Umlaufbahn der ISS befindet sich auf einer Höhe von etwa 400 Kilometern. Der Milliardär und Finanzier des Raumflugs, Jared Isaacman, begann gegen 12.45 Uhr deutscher Zeit, die Luke aufzukurbeln, was fünf Minuten dauerte. Ähnlich wie früher bei einem Auto-Dachfenster. Als erster Privatastronaut stieg er dann an einer kleinen Leiter aus der Kapsel, um unter anderem die Beweglichkeit in dem Raumanzug zu testen, wie auf dem Livestream von Space-X zu sehen war. „Zu Hause haben wir alle noch eine Menge Arbeit vor uns, aber von hier aus sieht die Welt wirklich perfekt aus“, sagte er bei seinem Blick zur Erde. Geschäftsmäßig handelte er dann die Liste der Tests ab, reckte sich mal mehr, mal weniger aus der Kapsel. Er blieb jedoch immer mit den Stufen verbunden und schwebte nicht komplett außerhalb der Kapsel wie einst Alexei Leonow.
Nachdem er nach etwa acht Minuten wieder in die Crew Dragon zurückgekehrt war, folgte Missionsspezialistin Sarah Gillis, die sonst bei Space-X selbst Astronauten auf ihren Flug zur ISS vorbereitet. Die Kapsel war mittlerweile auf rund 500 Kilometer abgesunken. „Die Idee ist, so viel wie möglich über diesen Anzug zu lernen“, hatte Isaacman im Vorfeld des Starts zur Presse gesagt. Und Gillis machte deutlich, dass sie beim Training auf der Erde bereits viel Erfahrung mit dem Raumanzug gesammelt hätten. „Als Crew haben wir wohl mehr als 100 Stunden in diesem Anzug verbracht.“ Gillis wiederholte die Anzugtests und war etwas länger als Isaacman im freien All. Die Tests sind wichtig, weil Space-X die Druckanzüge später auch bei Missionen auf Mond und Mars verwenden möchte.
Die Kapsel Crew Dragon hat keine Luftschleuse, deswegen musste der Druck in der Kabine zunächst auf null abgesenkt werden. Dies bedeutet, dass auch die beiden anderen Astronauten Scott Poteet, ein Airforce-Veteran, und Anna Menon, Mission Director bei Space-X, ihre Druckanzüge anlegen mussten. Erst als die beiden Spacewalker wieder in die Kapsel zurückgekehrt waren, wurde die Luke der Crew Dragon wieder geschlossen und Sauerstoff zurück in die Kabine geleitet.
Die gesamte Prozedur dauerte etwa zwei Stunden, doch hatten sich die vier Raumfahrer schon seit dem Start am Dienstag auf das riskante Manöver vorbereitet. So haben sie den atmosphärischen Druck in der Kabine allmählich gesenkt und den Sauerstoffgehalt erhöht. Auf diese Weise werde dem Körper Stickstoff entzogen, wie Gillis vor dem Flug erläuterte. Damit solle das Risiko der Dekompressionskrankheit reduziert werden.
Selbst wenn technisch alles klappt – letztlich mussten auch die Nerven von Isaacman und Gillis mitspielen. So berichten viele Astronauten, dass sie bei einem Ausstieg zum Außenbordeinsatz zunächst eine Art Schwindelgefühl hätten und die Angst, „nach unten“ zu stürzen. Der deutsche Astronaut Matthias Maurer absolvierte im März 2022 einen fast siebenstündigen Außeneinsatz an der ISS. „Ich habe während meines Weltraumspazierganges in den ersten Minuten nicht nach unten geschaut, sondern nur auf die feste ISS-Struktur direkt vor mir, um dieses überwältigende Angstgefühl gar nicht erst aufkommen zu lassen“, erzählte er der SZ. „Nach ein paar Minuten draußen entspannt man sich dann meist aber schnell.“
Der Teilausstieg aus der Kapsel war der Höhepunkt der privat finanzierten Polaris-Dawn-Mission. „Der heutige Erfolg stellt einen riesigen Schritt nach vorne für die kommerzielle Raumfahrtindustrie und Nasas langfristiges Ziel dar, eine dynamische US-Weltraumwirtschaft aufzubauen“, twitterte Bill Nelson, Chef der Weltraumbehörde Nasa, die nicht an der Mission beteiligt war. Bevor die Astronauten am Samstag zur Erde zurückkehren, stehen am Freitag noch Tests mit dem Starlink-Internetsystem von Space-X für die Kommunikation im All auf dem Programm. Am Mittwoch hatten die Astronauten einen Rekord aufgestellt und mit ihrer Dragon-Kapsel eine Höhe von rund 1400 Kilometern erreicht. So weit war seit der letzten Apollo-Mondmission 1972 kein Mensch mehr von der Erde entfernt.
Hinweis: In einer früheren Version dieses Textes stand, dass der Sauerstoffgehalt in der Kabine auf null abgesenkt worden sei. Wir haben die Stelle präzisiert: Der Druck wurde insgesamt reduziert, nicht nur der Sauerstoffgehalt.