Süddeutsche Zeitung

Biologie:Warum Forscher Mischwesen erzeugen wollen

Ein japanischer Arzt will Chimären aus menschlichen und tierischen Zellen erzeugen. Fragen und Antworten zu den ethisch umstrittenen Experimenten.

Von Hanno Charisius

In Japan dürfen Wissenschaftler zukünftig lebensfähige Mischwesen aus menschlichen Zellen und Tieren erschaffen. Den Antrag dazu hatte der Internist Hiromitsu Nakauchi gestellt, der Arbeitsgruppen an der Universität Tokyo und an der Stanford University leitet. Das ferne Ziel des Forschungsvorhabens ist, Ersatzorgane für Schwerstkranke zu erzeugen. Das Projekt verstört dennoch viele Menschen.

Was ist eine Chimäre?

Eine Chimäre ist ursprünglich eine mythologische Gestalt, ein Mischwesen aus verschiedenen Tieren (wie der Wolpertinger) oder aus Tier und Mensch (Zentauren). Manche Wissenschaftler definieren als Chimäre einen Organismus, der aus zwei oder mehr Geweben mit unterschiedlicher genetischer Zusammensetzung besteht. Folgt man dieser Ansicht, entstehen Chimären bereits, wenn einem Menschen Organe oder Gewebe eines anderen Menschen übertragen werden. Im engeren Sinne entstehen Chimären durch gentechnische Eingriffe, die Gene zwischen fremden Arten übertragen. Chimären sind biologisch gesehen jedoch keine eigenen Arten.

Warum wollen Forscher Mischwesen erschaffen?

Das langfristige Ziel dieser Arbeiten ist, den Organmangel zu bekämpfen. Im Jahr 2017 standen in Deutschland dem Bedarf von 10 000 sterbenskranken Menschen 800 Spender gegenüber. In Japan vollzieht sich der demografische Wandel noch sehr viel drastischer als in Deutschland. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung steigt rasant, der Bedarf an Ersatzgewebe wächst entsprechend mit. Aus diesem Grund investiert Japan auch massiv in die Stammzellforschung.

Wie erzeugt man Chimären?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Eine besteht darin, menschliche Stammzellen in einen Tierembryo zu spritzen. Die menschlichen Zellen suchen sich dann Nischen im Embryo; wo sie sich ansiedeln, ist allerdings schwer zu kontrollieren. Ein anderer Weg ist, in Tierembryonen durch einen gentechnischen Eingriff zu verhindern, dass sich ein bestimmtes Organ bildet, zum Beispiel eine Bauchspeicheldrüse. Injiziert man solchen Embryonen menschliche Stammzellen, gibt es Chancen, dass diese die Organ-Lücke ausfüllen und eine menschliche Bauchspeicheldrüse im tierischen Körper formen. Wie stark der Chimärismus ausfällt, also wie menschlich ein solches Wesen ist, hängt nicht nur von der Vorgehensweise ab, "sondern unterscheidet sich von Fall zu Fall sehr stark", sagt Eckhard Wolf von der Universität München, der an Schweinen forscht, die einmal als Organspender für Menschen dienen sollen.

Was wurde in Japan jetzt erlaubt?

Bereits seit vielen Jahren erschaffen Wissenschaftler Chimären - etwa aus Mäusen und Ratten. 2010 züchtete Nakauchi zum Beispiel Mäuse, die Bauchspeicheldrüsen hatten, die fast ausschließlich aus Rattenzellen bestanden. Auch mit menschlichen Zellen in tierischen Embryonen wird bereits experimentiert. Neu ist, dass Japan erlaubt, solche Tier-Mensch-Chimären von Muttertieren bis zur Geburt austragen zu lassen. Bislang wurden solche Experimente spätestens nach zwei Wochen abgebrochen. In den USA, wo der Japaner ebenfalls arbeitet, wäre das zwar nicht verboten, doch fügen sich die Wissenschaftler dort einem 2015 ausgerufenen Moratorium für Chimären-Experimente. Welche Experimente unter welchen Voraussetzungen in Japan gestattet sein werden, darüber berät erst in diesem Monat ein Gremium. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Nakauchi keine Auflagen bekommen hat", sagt Eckhard Wolf. "Wahrscheinlich darf er nur Stammzellen verwenden, deren Entwicklungspotenzial eingeschränkt ist." Im Fachjournal Nature sagte Nakauchi, er werde Maus-Mensch-Embryonen zunächst nicht bis zur Geburt wachsen lassen. Sollten die Experimente erfolgreich verlaufen, will er im nächsten Schritt chimäre Embryonen in Schweinen züchten - bis zu 70 Tage lang. Eine Sau ist normalerweise 114 Tage trächtig. Ob und wann die erste Tier-Mensch-Chimäre wirklich geboren wird, steht demnach nicht fest.

Wie erfolgversprechend ist das Konzept?

Eckhard Wolf hält Nakauchis Strategie für nicht sehr zielführend. Bislang lässt sich nicht gut steuern, wo sich die menschlichen Zellen ansiedeln. Zudem müsste für jeden Patienten ein Tier mit passendem Spenderorgan gezüchtet werden. Das so zu standardisieren, dass man von den Zulassungsbehörden eine Genehmigung bekommt, hält er für schwierig.

Welche Ansätze gibt es noch, um den Organmangel zu beheben?

Zum Beispiel den der sogenannten Xenotransplantation, den Wolf und seine Mitarbeiter verfolgen. Sie wollen Tiere so züchten, dass sie sich als universelle Spender für den Menschen eignen. Sein Team hat es bereits geschafft, Pavianen Schweineherzen einzupflanzen, mit denen die Affen ein halbes Jahr lang leben konnten. Dieser Ansatz lässt sich womöglich innerhalb weniger Jahre auf Menschen übertragen.

Welche ethischen Bedenken gibt es?

Nakauchi selbst hält seine Arbeit nicht für unethisch, wie er dem Tagesspiegel vor einiger Zeit sagte. Eckhard Wolf sähe dann Probleme, wenn der Chimärismus zu stark ausgeprägt wäre, wenn etwa Schweine mit menschlichem Nervensystem entstünden. Der Deutsche Ethikrat setzte sich bereits 2011 mit Chimären-Experimenten auseinander und befand es für vertretbar, menschliche Zellen in das Gehirn von Säugetieren zu übertragen, solange es keine Primaten sind. Allerdings forderte der Ethikrat, dass die menschlichen Zellen erst übertragen werden, wenn der Tierembryo Organe gebildet hat, um eine starke Chimärisierung zu verhindern.

Darf man solche Experimente auch in Deutschland machen?

Das kommt drauf an, welche Zellen man verwenden möchte. Solange keine Embryonen dabei verbraucht werden, steht das deutsche Embryonenschutzgesetz solchen Versuchen nicht im Wege. Prinzipiell gibt es auch keinen Konflikt mit dem Tierschutzgesetz.

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SZ vom 02.08.2019/cvei
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