Seit Jahren stehen Umweltforscher vor einem Rätsel: Zwar ist klar, dass seit Jahrzehnten gewaltige Mengen Plastik ins Meer gelangen - die Weltnaturschutzunion IUCN geht von mindestens acht Millionen Tonnen im Jahr aus. Doch bei Expeditionen auf offener See fanden Wissenschaftler bislang oft nur einen Bruchteil dieses Mülls tatsächlich im Meer herumschwimmen. Anhand zahlreicher Proben rechneten Forscher etwa 2015 auf die Weltmeere hoch, und kamen nur auf ein Prozent der erwarteten Menge. Wo war der Rest? Alles auf den Meeresgrund abgesunken und daher unauffindbar? Oder ist das Problem doch kleiner als befürchtet?
Eine Studie im Fachblatt Nature Communications könnte nun dazu beitragen, das verschwundene Plastik zu finden. Die Autoren, Richard Lampitt und Katsiaryna Pabortsava vom britischen National Oceanography Centre, sind sich sicher: Es gibt keine Lücke zwischen Mülleintrag in die Meere und der Müllmenge, die sich nachweisen lässt. Zumindest nicht im Atlantik, wo die Forscher zwischen Großbritannien und den Falklandinseln zahlreiche Proben nahmen. Das bedeutet zugleich: Die Menge an Mikroplastik ist im Atlantik vermutlich sehr viel höher als bislang vermutet. Die britischen Biogeochemiker schätzen, dass zwölf bis 21 Millionen Tonnen Mikroplastik in den oberen 200 Metern des Ozeans treiben, etwa zehn Mal so viel wie bisher geschätzt. Und diese Summe bezieht sich nur auf die drei am stärksten verbreiteten Kunststoffsorten Polyethylen (PE), Polypropylen (PP) und Polystyrol (PS), die etwas mehr als die Hälfte der weltweit produzierten Plastikmenge ausmachen.
"Wir haben auf kleinere Partikel geschaut, und in größerer Tiefe"
Bis in 200 Meter Tiefe: Das ist der wesentliche Unterschied zu bisherigen Messungen. "Das Grundproblem bei früheren Schätzungen ist, dass sie davon ausgehen, dass Plastik schwimmt", sagt Lampitt. Daher seien Proben meist an der Meeresoberfläche oder wenige Meter darunter gesammelt worden. Zudem wurden eher größere Plastikteilchen berücksichtigt. "Wir haben auf kleinere Partikel geschaut, und in größerer Tiefe", sagt Lampitt. So konnten die Forscher zeigen, dass auch Mikroplastik mit einigen Hundert oder wenigen Dutzend Mikrometer Durchmesser, dünner als ein Haar, bis in tiefere Ozeanschichten absinkt.
Die Auswirkungen von Mikroplastik auf die Ökosysteme sind noch weitgehend unklar. Experimente zeigen, dass Kunststoffe Meereslebewesen Schaden zufügen können, indem sie beispielsweise den Appetit verringern oder den Verdauungstrakt verstopfen. Auch hormonelle Wirkungen werden bei einigen Stoffen vermutet.
In einem Kubikmeter Atlantik schwimmen der neuen Studie zufolge im Durchschnitt etwa 1000 kleine Plastikteilchen, die für das Auge meist unsichtbar sind - also etwa ein Stück pro Liter Meerwasser. Was sich nach wenig anhört, ergibt auf den Ozean hochgerechnet eine gewaltige Menge. "Nach unserer Schätzung treibt allein in den oberen 200 Metern so viel Plastik, wie je in den Atlantik gekippt wurde", sagt Lampitt. Dazu bezogen die Forscher Kunststoffmengen seit 1950 ein.
Das allerdings wirft weitere Fragen auf: Denn schließlich ist der Großteil des Atlantik mit durchschnittlich 3500 Metern deutlich tiefer als die betrachteten 200 Meter. Wenn Plastikpartikel absinken, müsste sich also auch in größerer Tiefe noch jede Menge finden. Nur wo soll dieser herkommen, wenn in den oberen Schichten schon der gesamte vermutete Plastikmüll steckt, die Lücke also schon geschlossen ist? Für die Autoren deutet das darauf hin, dass bislang schlicht unterschätzt wurde, wie viel Kunststoff tatsächlich in den Weltmeeren endet, die gesamte Müllmenge also noch viel größer sein muss als acht Millionen Tonnen jährlich.
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Tatsächlich fehlen empirische Daten, wie viel Plastik in die Weltmeere gelangt, die Schätzungen konzentrieren sich auf Kunststoff, den Flüsse in die Meere spülen, oder der direkt hineingeworfen wird. Möglicherweise wurden andere Quellen wie Schiffe oder alte Müllkippen oder Mikroplastik aus Produkten wie Kosmetika bislang unterschätzt.
Die Frage nach Plastik in größerer Tiefe möchten die Wissenschaftler demnächst selbst beantworten. Dazu wollten sie schon in diesem Frühjahr mit einem kleinen U-Boot Proben in mehr als 200 Meter Tiefe nehmen. Allerdings durchkreuzte die Corona-Pandemie vorerst die Pläne für die Expedition.