Süddeutsche Zeitung

Mikrobiologie:Rätselhaftes Pocken-Virus bedroht Berliner Eichhörnchen

  • Ein Pocken-Virus quält Eichhörnchen in der Hauptstadt: "Teilweise fallen den Tieren die Zehen ab."
  • Untersuchungen am Robert-Koch-Institut bestätigten, dass es sich um eine neue Erreger-Art handelt.
  • Unklar ist, woher das Virus kommt.

Von Kai Kupferschmidt

Im Frühjahr 2015 packte Gudrun Wibbelt, Pathologin am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin, Wattestäbchen, Skalpelle und andere Geräte ein. Mit dieser Ausrüstung fuhr sie nach Teltow in Brandenburg, um sich ein krankes Eichhörnchen anzusehen.

Die Leiterin der dortigen Eichhörnchen-Auffangstation, Tanya Lenn, hatte Wibbelt kontaktiert, weil sie immer wieder schwerkranke Tiere fand. "Das geht an den Füßen los und sieht erst einmal aus wie ein harmloser Schorf", sagt sie. Später wandert die Infektion zu den Genitalien, den Pfoten, dem Schwanz und den Ohren. Die Eichhörnchen bluten und bekommen weitere Infektionen. "Teilweise fallen den Tieren die Zehen ab", sagt Wibbelt. "Das ist ziemlich erschütternd." Viele sterben. Die Pathologin nahm Proben und kehrte zurück ins Labor. Es war der Beginn einer langen Forschungsarbeit.

Nun haben Wibbelt und ihr Team die Ergebnisse im US-Fachblatt Emerging Infectious Diseases veröffentlicht: Die Berliner Eichhörnchen leiden unter einem noch nie zuvor entdeckten Pockenvirus. Der neue Erreger trägt nun die Bezeichnung: Berliner Eichhörnchenpockenvirus. Pocken? Die Bezeichnung löst noch heute Furcht aus. Die Pocken waren eine der grausamsten Seuchen der Menschheit, noch im 20. Jahrhundert sollen Hunderte Millionen Menschen daran gestorben sein. Seit 1981 ist die für Menschen gefährliche Variante des Erregers, das Variola-Virus, offiziell ausgerottet.

Bislang keine Symptome beim Menschen

Doch es gibt eine riesige Familie verwandter Viren, die zahlreiche Tiere befallen können: Affenpocken, Kamelpocken, Kuhpocken und weitere. Nicht nur Säugetiere sind betroffen. Es gibt auch Wachtel-, Finken- und Falkenpocken. Nur einige wenige dieser Viren infizieren hin und wieder auch Menschen, die meisten sind harmlos. Das ist offenbar auch für die Berliner Eichhörnchenpocken der Fall. Schließlich pflegen Lenn und Kollegen seit Jahren immer wieder kranke Tiere. Doch bei keinem der beteiligten Menschen sind bislang Symptome aufgetreten.

Für die betroffene Tierart kann die Erkrankung aber verheerende Folgen haben. So spielt eine andere Form der Eichhörnchenpocken eine entscheidende Rolle im Kampf, der zurzeit in Großbritannien und Irland tobt: Der Konkurrenz zwischen einheimischen Eichhörnchen (Sciurus vulgaris) und nordamerikanischen Grauhörnchen (Sciurus carolinensis). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts importierten einige reiche Briten die possierlichen Grauhörnchen und setzten sie frei. Als das britische Parlament 1937 die Einfuhr und den Besitz der Tiere verbot, war es zu spät. Die grauen Tiere hatten begonnen, ihre rötlichen Cousins zu verdrängen - unter anderem indem sie ein Pockenvirus mitgeschleppt hatten, das ihnen nichts antat, die einheimischen Eichhörnchen aber tötete.

"Das Virus hat die roten Eichhörnchen hier dezimiert", sagt Anthony Sainsbury von der Zoologischen Gesellschaft London. Auch ohne Virus verdrängen die Grauhörnchen die Eichhörnchen, sagt der Tierarzt. Doch mit Virus gehe es 25 Mal so schnell. Heute werden die Grauhörnchen in Großbritannien vielerorts getötet. Trotzdem kämpfen die roten Eichhörnchen auf der Insel um das Überleben. In Deutschland gibt es bislang keine frei lebenden Grauhörnchen. Dort gibt es lediglich graue Varianten von Eichhörnchen, zu erkennen an den Haarbüscheln an den Ohrenspitzen, die aufgrund ihrer Fellfarbe von schlecht informierten Spaziergängern mitunter totgeschlagen werden.

Erstaunlicherweise kommt der Erreger nur im Berliner Raum vor

Das Berliner Virus unterscheidet sich schon im Elektronenmikroskop von dem in Großbritannien. Das britische Virus sei oval und mit säuberlich angeordneten Fäden an der Oberfläche, wie ein aufgerolltes Wollknäuel, sagt Wibbelt. "Dagegen sieht das neue Virus aus wie ein Flokatibackstein", sagt sie: eckig, und die Fäden liegen durcheinander. Genetische Untersuchungen am Robert-Koch-Institut bestätigten, dass es sich um eine neue Virusart handelt.

Erstaunlicherweise scheint es auf den Berliner Raum beschränkt zu sein. Im Laufe der Jahre habe sie immer wieder mit Kollegen in anderen Eichhörnchenstationen gesprochen, sagt Lenn. "Keiner kannte diese Erkrankung." Doch woher kommt das Virus? Und wie weit verbreitet ist es? Das seien die Fragen, die sie gerne als Nächstes beantworten würde, sagt Wibbelt. In der Tiefkühltruhe ihres Instituts lagern bereits zahlreiche Eichhörnchenkadaver für weitere Tests.

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SZ vom 09.08.2017/fehu
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