Süddeutsche Zeitung

Meteorologie:Hochspannung

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Die Luft erhitzt sich auf ungefähr 30 000 Grad, die gesamte Chemie der Atmosphäre spielt verrückt: Doch wissen Forscher bis heute nicht genau, wie Blitze eigentlich entstehen.

Von Marlene Weiss

Am Anfang merkt man nicht viel. Noch ist der Himmel halbwegs blau, es ist schön warm, nur etwas drückend, Freibadwetter. Dabei hat es längst begonnen. Warme, feuchte Luft steigt nach oben, und trifft dort auf kalte Luftschichten. Während der Sommernachmittag unten noch trügerisch ruhig verläuft, ist oben schon die Hölle los. Die Feuchtigkeit der warmen Luft kondensiert zu Tropfen, die teils gefrieren, eine Gewitterwolke türmt sich auf, weitere Wärme wird frei, die das Ganze zusätzlich antreibt. Auf- und Abwinde wirbeln Wasser und Eis durcheinander, elektrische Ladungen bauen sich auf.

Am Boden wird es jetzt langsam ungemütlich. Die Wolke sieht bedrohlich aus. Der Wind nimmt zu, vielleicht beginnt es zu regnen. Und allerspätestens wenn Menschen die Haare zu Berge stehen, sollten sie sich schleunigst in Sicherheit bringen. Über ihnen hat sich die Wolke in eine gigantische Batterie verwandelt, ein elektrisches Feld von Hunderttausenden Volt pro Meter ist dort entstanden.

Der Hauptblitz schießt als "Gegenblitz" von unten zurück nach oben zur Wolke

Die Unterseite der Gewitterwolke ist jetzt negativ aufgeladen, an der Erdoberfläche sammeln sich positive Ladungen, die nach den Pendants im Himmel streben. Irgendetwas muss geschehen, es kommt rasch zum Kurzschluss, Starkstrom fließt - ein Blitz schlägt ein.

Wie kann das sein? Luft leitet keinen Strom. Für einen Funkenschlag durch die Luft über solche Distanzen wären noch weit größere Spannungen nötig, als sie jemals in Gewitterwolken gemessen wurden. Trotzdem gibt es Blitze. Was genau sie auslöst, ist bis heute ein ungelöstes Rätsel, das viele Wissenschaftler beschäftigt.

Die Physikerin Ute Ebert zum Beispiel. Sie arbeitet am niederländischen Forschungsinstitut für Mathematik und Informatik in Amsterdam und leitet dort eine Gruppe, die sich unter anderem mit Blitzforschung befasst. Wenn sie eine Frage für unsinnig hält, lacht sie fassungslos und fängt noch einmal ganz von vorne an. "Man möchte wissen, was in der Wolke passiert", sagt sie. "Da laufen sekundenlang Entladungsprozesse über Dutzende Kilometer ab. Erst am Ende kommt irgendwann ein Blitz heraus."

Sicher ist nur, dass in der Atmosphäre irgendwie verzweigte Kanäle entstehen, in denen Luft-Moleküle in elektrisch geladene Teilchen zerrissen werden. Solche Kanäle aus ionisierter Luft sind leitfähig. Sie wenden sich mal hierhin und mal dorthin, viele enden im Nichts, aber irgendwann nähert sich einer dieser zunächst nur schwach leuchtenden Ionen-Schlängel dem Boden, wo ihm meist schon ein Kanal aus positiven Ladungen entgegenkommt. Der Stromkreis schließt sich, negative Ladungen rasen durch den Blitzkanal und fluten den Boden. Weil dieses Abfließen unten beginnt und sich nach oben fortsetzt, schießt der hell sichtbare Hauptblitz als "Gegenblitz" von unten nach oben zurück zur Wolke, mit bis zu 100 000 Kilometern pro Sekunde. Kurz danach gibt es oft noch weitere Entladungen durch den nun offenen Kanal, gefolgt von weiteren Gegenblitzen; der Blitz scheint dann zu flackern. Die Luft im Blitzkanal erhitzt sich auf bis zu 30 000 Grad Celsius und explodiert in einer Schockwelle nach außen - das löst den Donner aus.

Von der Wolke aus bahnt sich der Leitblitz ruckartig in verzweigten, zentimeterdicken Kanälen aus stromleitender, "ionisierter" Luft einen Weg. Wenn so ein Kanal nach Sekundenbruchteilen den Boden erreicht hat, wird der Stromkreis geschlossen. Dann gibt es einen Kurzschluss: Ladungen fließen in den Boden ab, der Hauptblitz zuckt zurück zur Wolke - durch den in diesem Bild gut sichtbaren, hell leuchtenden Hauptkanal. Die Luft im Blitzkanal wird dabei bis zu 30 000 Grad heiß, und dehnt sich explosionsartig aus. Das erzeugt den Donner.

Bei einem Gewitter im Sommer 1934 über New York schlägt ein Blitz in die Spitze des Empire State Buildings ein. Weil Turmspitzen oder Berggipfel den Wolken näher sind als ihre Umgebung, werden sie leichter von Blitzen getroffen.

Wenn eine Vulkaneruption Ascheteilchen durch die Luft wirbelt, können sich auch diese elektrisch aufladen, ähnlich wie Wasser- und Eisteilchen in einer Gewitterwolke. Die Spannung entlädt sich in sogenannten Eruptionsgewittern, hier beim Ausbruch des Vulkans Sakurajima in Japan.

Ein Gewitter über dem Potala-Palast, dem einstigen Regierungssitz der Dalai Lamas in Tibets Hauptstadt Lhasa. Statt sich ein Ziel auf dem Boden zu suchen, bleibt der Blitz hier innerhalb der Wolke, wie die große Mehrheit der Blitze - nur etwa jeder fünfte schlägt ein.

Elmsfeuer wurden früher oft an den Spitzen von Schiffsmasten beobachtet - sie schienen bei Gewittern zu glühen. Tatsächlich ist die Erscheinung eine Entladung, ähnlich einem Blitz. Hier tritt sie, was häufiger vorkommt, an einem Flugzeug-Cockpit auf.

Ein Blitz, der an Wolken oder Regentropfen reflektiert wird, kann wie in diesem Bild ganze Flächen des Himmels erleuchten, man spricht von einem Flächenblitz. Es handelt sich dabei jedoch um einen normalen Linienblitz, der allenfalls besonders stark verzweigt sein kann.

Superzellen wie dieses Exemplar in Colorado können entstehen, wenn sich der Wind in der Höhe stark von dem weiter unten unterscheidet. Solche mächtigen Gewitter produzieren oft große Hagelkörner, Starkregen oder Tornados.

Irgendetwas muss jedoch die vorausgehende Ionisation der Luft auslösen, die den Blitz erst möglich macht. Möglicherweise ist kosmische Strahlung beteiligt, der permanente Teilchenbeschuss aus dem All. Allerdings braucht man auch dann noch hohe Feldstärken, und das über viele Kilometer Distanz. Vor einigen Jahren haben Ebert und ihre Kollegen eine Theorie präsentiert, nach der Eisteilchen in der Wolke die Sache erleichtern. Aber ob es wirklich so funktioniert? "Wie genau ein Gewitter so einen Kanal macht, das weiß man einfach nicht", sagt Ebert.

Was man weiß ist, dass ein Gewitter die gesamte Chemie der Atmosphäre verändert. "Im Blitzkanal wird es sehr heiß", sagt Ulrich Schumann vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Wenn der Stickstoff aus der Luft ionisiert wird, entsteht Stickstoffmonoxid. Um das zu erkunden, ist Schumann jahrelang gereist; man kann als Gewitterforscher viel von der Welt zu sehen bekommen. Er war in Afrika südlich der Sahara, im tropischen Brasilien und in Australien, wo sich im Sommerhalbjahr über den Tiwi-Inseln nahezu täglich eine gewaltige Gewitterwolke namens Hector bis an den Rand der Stratosphäre auftürmt; manche nennen das Monstrum sehr unwissenschaftlich "Hector the Convector".

An all diesen Orten flog das DLR-Forschungsflugzeug Falcon am Rand von Gewitterwolken entlang oder auch mal quer durch, um die chemische Zusammensetzung der Luft zu messen. "Teils sind wir den Aufwinden dabei näher gekommen als geplant", erzählt Schumann. Einmal schlug sogar ein Blitz ins Flugzeug ein, das war dann das Letzte, was die Kamera aufzeichnete, bevor sie den Heldentod starb.

Das wichtigste Ziel all der spektakulären Flüge war, die chemischen Auswirkungen von Gewittern zu verstehen - und damit die molekularen Prozesse in der Atmosphäre. Diese ist nämlich auch ohne menschlichen Einfluss keineswegs frei etwa von den Stickoxiden, mit denen heute vor allem Dieselmotoren die Städte verpesten. "Vor der Industrialisierung waren Blitze vermutlich die entscheidende Quelle natürlicher Stickoxide", sagt Schumann. Bei geschätzt rund 100 Blitzen pro Sekunde weltweit kommt auch heute noch einiges auf diese Weise zusammen, auch wenn der menschengemachte Anteil inzwischen größer ist.

Der Mensch am Boden interessiert sich derweil vor allem dafür, wann nun das Gewitter kommt, wann es wieder verschwindet und ob mit Hagel oder Orkanböen zu rechnen ist. Das aber ist für den Deutschen Wetterdienst (DWD), von dem solche Vorhersagen erwartet werden, gar nicht so einfach zu sagen. Die Meteorologen können zwar schon einige Tage vorher absehen, dass in einer Region dank viel warmer, feuchter Luft ideale Gewitter-Bedingungen herrschen werden und man sich daher auf Regen und Blitze einstellen sollte, manchmal auch auf Orkanböen oder Windhosen. Aber wenn das Gewitter dann heranzieht, zeigt das normale Wetter-Radar nur den Niederschlag. Nicht einmal die Hagelkorn-Größen kann es präzise erkennen, Blitze sowieso nicht.

Darum hat der DWD einen Vertrag mit der Münchner Firma Nowcast GmbH, die seit gut zehn Jahren seltsame Antennen mit zwei gekreuzten Metallringen auf der ganzen Welt verteilt - rund 30 davon stehen in Deutschland, weitere in Afrika, Asien, Australien. Oder in der tropischen Region um den Maracaibo-See in Venezuela, der so zwischen Anden und Karibischem Meer eingeklemmt ist, dass es in fast 300 Nächten im Jahr gewittert. Laut Satellitenbeobachtungen der Nasa ist es das Blitz-Zentrum der Welt.

Die Sensoren sehen harmlos aus, kaum komplexer als ein Wetterhahn. Aber damit betreibt Nowcast eines der besten Blitzerfassungssysteme der Welt. Entwickelt hat das System Hans-Dieter Betz, emeritierter Physikprofessor der Ludwig-Maximilians-Universität München. Als er in den späten Neunzigern an einem Projekt zur Wetterfühligkeit beteiligt war, stellte er fest, dass die Messmethoden für Blitze zu wünschen übrig ließen; aus seinem modernen Labor war er anderes gewohnt. "Ich dachte gleich, dass das besser gehen muss", sagt er heute.

Und es ging besser. 2002 gründete Betz mit seinem Sohn Nowcast. Der Begriff steht für sehr kurzfristige Wetterberichte, und gerade darum geht es: Blitze in Echtzeit sichtbar zu machen. Seit 2006 bezieht der Deutsche Wetterdienst Blitzdaten von Nowcast. Auch die Allianz-Versicherung prüft Schadensmeldungen anhand der Daten; Flughäfen nutzen sie, um ihre gewitterbedingten Schließungen möglichst kurz zu halten.

Wenn irgendwo ein Blitz entsteht, registrieren die Antennen die elektromagnetische Strahlung. "Radiotechnisch ist es nicht schwierig, solche Antennen zu bauen", sagt Betz. "Aber sie müssen empfindlich, präzise geeicht und robust sein, und der Datenanfall darf nicht zu groß sein." Vor allem aber sei intelligente Signalverarbeitung wichtig. Aus der leicht unterschiedlichen Ankunftszeit des Signals bei verschiedenen Antennen wird der Ort des Auslösers errechnet und damit die aktuelle Position des Gewitters. Das Besondere an dem System ist, dass es auch die Höhe der Blitze registrieren kann: Mehr als 80 Prozent der Blitze bleiben innerhalb der Wolkendecke, der Strom fließt dann von einem Ladungspol in der Wolke zu einem anderen. Die übrigen Blitze schlagen in den Boden ein. Das Nowcast-System kann die Blitze dreidimensional anpeilen und so zwischen Bodenblitzen, niedrigen und höheren Wolkenblitzen unterscheiden. So können Versicherungen prüfen, ob zum Zeitpunkt X am Ort Y der Blitz tatsächlich eingeschlagen hat. Und Meteorologen können aus zunehmender Höhe der Wolkenblitze schließen, dass sich die Wolke weiter auftürmt, das Gewitter gefährlicher wird, womöglich große Hagelkörner und Sturmwinde drohen.

In den allermeisten Fällen sind Blitze negativ geladen, aber auch positiv gepolte Blitze sind möglich. Sie entstehen im oberen dem Erdboden abgewandten, positiv geladenen Teil der Wolke. Daher sind sie oft stärker und zerstörerischer als die klassische Variante - und sie können kilometerweit entfernt vom Zentrum des Gewitters einschlagen. Manchmal gehen Blitze auch den umgekehrten Weg, starten von Türmen, Masten oder Windrädern aus in Richtung Wolke.

Positiv gepolte Blitze können Kilometer entfernt vom Zentrum des Gewitters einschlagen

Aber trotz bester Technik kommt die Wetterbeobachtung noch nicht ohne Menschen wie Andreas Kollmohr aus, dem Vorsitzenden des Vereins Skywarn Deutschland. Er ist aktiver Feuerwehrmann und will vor allem helfen. Er wäre der Letzte, der seinen Mitbürgern ein Unwetter an den Hals wünschen würde, aber so ein schönes Gewitter? "Als Wetter-Begeisterter hat man einfach lieber actionreiches Wetter als langweilige Standardlagen. Naturgewalten üben eben Faszination aus", gibt er zu. Wobei es natürlich ein Unterschied sei, ob ein Unwetter über leeren Feldern niedergeht oder dort, wo Menschen betroffen sind.

Bei Skywarn kann er sein Hobby mit dem Nützlichen verbinden: Die rund 700 ehrenamtlichen Mitglieder melden Wetterbeobachtungen mündlich oder per Skywarn-App an Abonnenten, zu denen auch der DWD gehört. Nur mithilfe solcher Beobachtungen kann der DWD schnell vor Tornados oder großen Hagelkörnern warnen. Im Gegenzug bekommen die Gewitterjäger, auch Stormchaser genannt, Zugang zu speziellen Radar-Daten, die der DWD nicht veröffentlicht. So wissen sie, wo spektakuläres Wetter zu erwarten ist.

Wenn Kollmohr Zeit hat, fährt er einem ungewöhnlichen Gewitter auch mal hinterher, soweit das Risiko vertretbar ist. "Wenn man weiß, was man tut, ist die Gefahr beherrschbar", sagt er. "Aber es gibt natürlich Dinge, die macht man nicht." Zum Beispiel "Core-Punching": in den Kernbereich eines Schwergewitters fahren, dort, wo Aufwinde auf Abwinde treffen, wo dicker Hagel oder Tornados drohen. "Da fährt man nicht rein", sagt Kollmohr, das ist einfach zu gefährlich.

Es gibt unter Eingeweihten sogar ein Sprichwort dazu - auch wenn es schwer sein dürfte, das durchzuhalten, wenn man nicht von Gewittern lassen kann: Ein guter Sturmjäger wird nicht nass.

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Quelle:
SZ vom 08.07.2017
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