Süddeutsche Zeitung

Menschheitsgeschichte:Warum Archäologen sich über die Dürre freuen

  • Luftbildarchäologen fahnden aus dem Flugzeug nach archäologischen Stätten im Untergrund.
  • Die derzeitige Trockenheit hilft den Archäologen dabei enorm. Dadurch verstärken sich Kontraste am Boden, und Überreste von Bauten zeichnen sich deutlicher ab.
  • In Deutschland entdeckten die Flieger in diesem Jahr Grundrisse mehr als 7000 Jahre alter Häuser, auch in Großbritannien gelangen spektakuläre Funde.

Von Hubert Filser

Toby Driver ist viel im Himmel über Wales unterwegs. In den vergangenen Wochen zogen unter ihm dabei ausgedörrte Felder und Hügel vorüber. Immer wieder drehte er die Tragflächen seines Leichtflugzeugs Richtung Boden, um Steilkurven zu fliegen und die Erde von oben zu fotografieren. Worunter Bauern leiden müssen, erleichtert die Arbeit des Forschers - die Trockenheit schuf perfekte Bedingungen, aus der Luft spürte er zahlreiche archäologische Stätten auf: Spuren teils uralter Anlagen der Kelten, Römer und Angelsachsen, Wallanlagen, militärische Stützpunkte, Lager, Häuser, vergessene Burgen und römische Landresidenzen.

Obwohl sie oft seit Jahrtausenden im Boden verborgen sind, zeichnen sich die Grundrisse der Bauten an der Erdoberfläche als grüne, beige oder braune Muster in Weizenfeldern oder ausgetrockneten Graslandschaften ab. Archäologen sprechen von einem "wirklich spektakulären Jahr". Driver sagt, er habe noch nie vergleichbar gute Bedingungen gesehen. Und immerhin fliegt er seit 21 Jahren.

Driver ist eine Art Luftaufklärer der Royal Commission on the Ancient and Historical Monuments of Wales, Archäologe, Fotograf und Pilot zugleich. Er gehört zu einer kleinen Schar Wissenschaftler, die derzeit wegen der Hitze Hochkonjunktur haben. Nicht nur in Großbritannien, sondern etwa auch im Norden und Osten Deutschlands. "Vor allem kleinteilige Strukturen sind in diesem Jahr besonders gut zu sehen", sagt Ronald Heynowski. Der Luftbildarchäologe aus Sachsen entdeckte in diesem Sommer in Nordsachsen Grundrisse von mehr als 7000 Jahre alten Häusern aus der linienbandkeramischen Zeit der ersten Bauern oder nahe Kyhna, ebenfalls in Nordsachsen, weitere Details einer 6600 Jahre alten Kreisgrabenanlage. Sie ist älter und mit 135 Metern Außendurchmesser auch deutlich größer als Stonehenge.

Wo einst Fundamente standen, wachsen Weizen, Rüben oder andere Pflanzen schlechter

"Für uns ist die Trockenheit ein Glücksfall", sagt der Archäologe Baoquan Song von der Ruhr-Universität Bochum, der für das Land Nordrhein-Westfalen fliegt. Er spürte neue Areale im bekannten Römerlager Vetera castra I bei Xanten und neue Überreste in einem Römerlager-Komplex bei Bedburg-Hau auf. Beide Lager spielten im Grenzkonflikt zwischen Römern und Germanen in den Jahren 69 und 70 nach Christus eine wichtige Rolle. Bedburg-Hau könnte ein seit längerer Zeit gesuchtes Lager sein, das die Römer errichteten, als sie von den aufständischen Batavern, einem westgermanischen Volksstamm, aus ihrem Garnisonslager Vetera castra I vertrieben worden waren. Je genauer die Befunde werden, umso mehr erfahren die Archäologen über die historischen Abläufe - und das, ohne die Reste der Bauwerke ausgraben zu müssen. "Wir sehen die verschiedenen Bauphasen des Römerlagers in Xanten so gut wie noch nie zuvor", sagt Song.

Aktuell sind die Luftbildarchäologen im Wettlauf mit der Zeit, denn die Bauern ernten in diesem Sommer aufgrund der Dürre früher als sonst. Für ihre Luftbildauswertungen sind die Wissenschaftler nämlich auf die Bewuchsmerkmale der Vegetation angewiesen. Die Pflanzen über den historischen Bauten wachsen abhängig vom Untergrund mal besser und mal schlechter. Ihre Muster machen erst die Strukturen im Boden sichtbar - als würden sie verborgene Grundrisse nach oben durchpausen.

Wo sich verfüllte Gräben und Gruben befinden, speichert der Boden geringfügig mehr Wasser und bietet den Pflanzen gute Wachstumsbedingungen. Wo Fundamente für einen steinigen und eher nährstoffarmen Untergrund sorgen, ist das Pflanzenwachstum hingegen gehemmt. Getreide etwa reagiert empfindlich auf minimale Unterschiede im Wasser- und Nährstoffangebot. Diese kleinräumigen Unterschiede wirken sich auf die Pflanzen aus. Das Wachstumsverhalten jedes einzelnen Stängels oder Grashalms ist dann wie ein Pixel eines Digitalbildes, das vom Flugzeug aus deutlich sichtbar wird.

Nicht alle Pflanzen sind als Marker geeignet. Besonders klar treten die Merkmale bei einjährigen Pflanzen auf, insbesondere Getreide, Mais und Rüben. Vor allem Wintergetreide ist ideal. "Dessen Wurzeln reichen bis 60 Zentimeter in die Tiefe", sagt Song. "Ein Pflug gräbt nur 30 Zentimeter um." Ein Graben im Untergrund führt zu bis zu 40 Zentimetern Wuchsunterschied bei Winterweizen.

Trockenheit fördert solche Wuchsunterschiede. Sie setzt Pflanzen unter Stress. Je stärker die Trockenheit, desto klarer wird die Trennung zwischen notleidenden und gut versorgten Pflanzen und desto deutlicher werden die Kontraste in den Luftbildern. Die Luftbildarchäologen müssen die Spuren lesen können und bei ihren Aufnahmen auf den richtigen Lichteinfall achten. Wenn - wie aktuell - das Wintergetreide schon abgeerntet ist, müssen die Forscher auf andere Pflanzen-Detektive ausweichen. "Wir nutzen in diesem Jahr auch den robusteren Mais und Zuckerrüben", sagt Song. "Ausgetrocknete Grasflächen sind ebenfalls aussagekräftig."

In Waldgebieten lässt sich die Technik nicht anwenden, Bäume eignen sich nicht als Marker für die Hinterlassenschaften im Boden. Hier müssen die Forscher auf Lasergeräte ausweichen, die winzige Höhenunterschiede am Waldboden aus der Luft messen können.

Luftbildarchäologie hat eine lange Tradition, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts fotografierten britische Offiziere vom Ballon oder von Flugzeugen aus die Erde. In Deutschland suchte der ehemalige Militärpilot Otto Braasch in den 1980er-Jahren systematisch Bayern und Baden-Württemberg nach Bodendenkmälern ab. Allein in Bayern sind seither 30 000 Fundstellen kartiert worden. Braasch erkundete auch als erster Pilot nach der Wende im Jahr 1991 die neuen Bundesländer und machte spektakuläre Entdeckungen wie die großen Kreisanlagen von Goseck oder Pömmelte in Sachsen-Anhalt.

"Es ist eine stille Arbeit. Wir wollen Dinge bewahren, nicht zerstören."

Ronald Heynowski ist vor allem in Sachsen unterwegs. Die Liste seiner Funde ist beeindruckend: Mittelalterliche Burgen, Grabhügel aus der Bronzezeit oder eben das Areal mit mehreren Kreisgrabenanlagen. In Kyhna lässt sich nun die Dimension des gesamten Bereichs immer klarer erkennen. Sechs Kreisanlagen liegen auf relativ engem Raum beieinander, die größte verfügt über zwei weitere Palisadenringe im Inneren und vier konzentrische Gräben außen herum. Die innersten Kreise messen in allen sechs Anlagen etwa 50 bis 60 Meter. Offenbar hatten die Anlagen einen astronomischen Bezug. Ob es Ritualstätten waren wie in Pömmelte, ist nicht klar.

Details wie den Nutzungszweck zu erforschen, überlassen die Luftbildarchäologen ihren Kollegen am Boden. Ihnen geht es eher um das große Bild, um die Kulturlandschaft als Ganzes. "Wir beobachten einzelne Denkmäler über Jahre", sagt Heynowski. "Es ist eine stille Arbeit. Wir wollen Dinge bewahren, nicht zerstören."

Ein Thema scheint derzeit alle Luftbildarchäologen umzutreiben: die zunehmende Zersiedlung der Landschaften, der Flächenfraß, der eben auch die in der Erde lange geschützten Kulturdenkmäler zerstört. "Bei der rasend schnellen Vernichtung von Landschaft durch Baumaßnahmen reduzieren sich die noch vorhandenen archäologischen Stätten mit enormer Geschwindigkeit", sagt Heynowski. "Die Anzahl der gut erhaltenen Stätten aus vorgeschichtlicher Vergangenheit ist zwar sehr groß, aber nicht unbegrenzt."

Parallel werden die Mittel für die Piloten seit Jahren gekürzt. Der bayerische Luftbildarchäologe Klaus Leidorf erzählt, er sei in diesem Jahr nur noch 100 Stunden unterwegs gewesen und nicht wie vor Jahren noch 500 Stunden. Was unverändert bleibt, ist die Leidenschaft der Luftbildarchäologen, wenn sie mit ihren Leichtflugzeugen losfliegen und oben am Himmel dann die Fenster aufklappen, um im Schrägflug freien Blick auf die Erde zu haben. "Wir können Neues erforschen", sagt Song. "Man weiß vor dem Fliegen nie, was man findet.

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SZ vom 02.08.2018/cvei
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