Vor nahezu 4000 Jahren erwachte König Zimri-Lim im Königspalast der mesopotamischen Stadt Mari aus einem Albtraum. In diesem hatten Nomaden aus der umliegenden Wüste seine geliebte Frau gefangen. Zimri-Lims Angst, in einem antiken Keilschrifttext verewigt, zeige die Rolle der Nomaden im frühen städtischen Leben, vermuten Archäologen seit Langem. Diese mobilen Plünderer, mächtig genug, um den Schlaf der Herrscher zu stören, wurden allenfalls geduldet, weil sie exotische Güter von weit entfernten Orten heranschafften. Als Viehzüchter reisten sie Hunderte Kilometer weit auf der Suche nach Weideland. Lange Zeit wurden sie als Architekten der Fernhandelsnetze angesehen, die den Aufstieg der modernen Zivilisation im heutigen Irak um 3000 vor Christus unterstützten.
Da die Spuren dieser Hirten heute kaum sichtbar sind, stützten sich Forscher stark auf den Vergleich mit modernen Nomaden im Nahen Osten des 20. Jahrhunderts. Doch nun kommen Methoden hinzu, die Hinweise entschlüsseln, die von alten Nomaden hinterlassen wurden. Aufgrund von Daten aus Tiermist, Knochen, Zahnstein und Pflanzenresten schließen Forscher, dass die antiken Hirten hauptsächlich in der Nähe von Stadtgebieten lebten, statt zwischen weit entfernten Orten zu wandern. "Sie waren nicht lange unterwegs, also konnten sie auch keine Fernhändler sein", sagt Emily Hammer, Archäologin an der Universität von Pennsylvania.
Diese Behauptung, die Emily Hammer und der Archäologe Ben Arbuckle von der University of North Carolina in Chapel Hill im Journal of Archaeological Science darlegen, hat eine intensive Debatte darüber ausgelöst, wie einst das urbane Leben erblühte. Nach Ansicht von Abbas Alizadeh von der Universität von Chicago, der seit Jahrzehnten Hirtenvölker wie die Bachtiaren im Südwesten Irans studiert, liegen Hammer und Arbuckle "völlig falsch - ich wette, sie haben noch nie einen Nomaden gesehen".
Einig sind die Archäologen, dass Hirten, kurz nachdem die ersten Menschen vor etwa 10 000 Jahren im Nahen Osten mit der Landwirtschaft begannen, sich um die erst vor Kurzem domestizierten Schafe, Ziegen und Rinder kümmerten. Aber die Forscher streiten, ob diese Gruppen saisonal weite Strecken zurücklegten, um grünere Weiden zu suchen.
Nur wenige antike Texte berichten darüber, wie Güter transportiert wurden
Alizadeh und Archäologen wie Frank Hole von der Yale University behaupten, Hirten am Rande von Mesopotamien seien bereits 7000 vor Christus Hunderte Kilometer weit übers Land gezogen. Sie schließen das aus den Wanderungen moderner Hirten, die Schaf- und Ziegenherden die steilen Täler des Zagros-Gebirges hinauf- und hinuntertreiben. Auch gebe es Ausgrabungen, die auf saisonal genutzte Dörfer hinweisen.
Als die ersten Stadtgebiete entstanden, kamen wertvolle Steine, Metalle und Holz aus Afghanistan, Iran und Anatolien in das südliche Mesopotamien. Um 2000 vor Christus existierte ein organisiertes internationales Handelssystem, das Material von der Indus-Zivilisation wie auch aus der westlich gelegenen Levante in den reichen Stadtstaat Ur im heutigen Südirak lieferte. Doch nur wenige antike Texte berichten darüber, wer diese Güter transportiert hat. "Der Handel ist textlich fast unsichtbar", sagt Piotr Michalowski, ein Keilschriftspezialist der Universität von Michigan in Ann Arbor.
Neue Analysemethoden deuten nun darauf hin, dass die Hirten in Jordanien, Syrien, der Türkei und Iran vor 1000 vor Christus zu nahe an ihrem Heimatort blieben, um als Spediteure infrage zu kommen. So analysierte die Kieler Archäozoologin Cheryl Makarewicz die Isotopenzusammensetzung von 9000 Jahre altem Schaf- und Ziegenzahnschmelz aus der Gegend von Amman. Da Kohlenstoff- und Sauerstoff-Isotope auf örtliche Boden- und Wasserbeschaffenheit schließen lassen, zeigt das, wo ein Tier graste. Demnach wurden die Tiere eher in der Umgebung als in fernen Grasländern gefüttert. Ähnliches stellte ein Forscherteam in der osttürkischen Stadt Çatalhöyük fest.
Dung zeigte zudem, dass die Tiere mehr Heu als wildes Gras fraßen, ein Zeichen, dass sie kaum lange Strecken zurücklegten. Als die Städte entstanden, so argumentieren Hammer, Arbuckle und auch Dan Potts von der New York University, seien die Hirten größtenteils in der Umgebung geblieben, um die städtische Nachfrage nach Fleisch und Milch zu decken sowie Wolle für die mesopotamische Textilindustrie zu liefern. "Es gab Viehverarbeitungszentren", bemerkt Hammer. "Da brachte man die Tiere nicht weit weg."
Doch wenn Nomaden nicht die Fernhändler der antiken Welt waren, wer hat dann die Güter bewegt? Entdeckungen der letzten Jahre in der Türkei, in Iran, im Nordirak und in Syrien deuten auf eine Möglichkeit hin. Archäologen fanden heraus, dass im bronzezeitlichen Nahen Osten viel mehr Städte entstanden sind als ursprünglich angenommen. Der Handel könnte demnach durch soziale Netze, die durch königliche Ehen und wandernde Kaufleute geflochten wurden, in Schwung gehalten worden sein, sagt Potts.
"Es gab viele Unternehmer"
Texte aus der Zeit um 1900 vor Christus, die bei der anatolischen Stadt Kanesh gefunden wurden, enthalten Informationen darüber, wie Händlerfamilien Eselkarawanen organisierten, die tausend Kilometer weit reisten, um Assur, eine Stadt südlich des heutigen Mossul im Irak, zu erreichen. "Es gab viele Unternehmer, und der Handel scheint hauptsächlich in privaten Händen gewesen zu sein", sagt Michalowski.
Erst als domestizierte Dromedare im ersten Jahrtausend vor Christus auftauchten, begannen Nomaden lange saisonale Wanderungen, sagen Hammer, Arbuckle und Potts. "Wir bestreiten nicht, dass Hirten zuvor existierten", sagt Hammer, "nur dass sie lange Strecken zurücklegten und in Zelten lebten. Wir haben die Knochen, die Campingplätze und die Paläobotanik, um dies zu beweisen."
Viele ihrer Kollegen halten trotzdem an der ursprünglichen Sichtweise fest. "Wenn das stimmt, ist das revolutionär", sagt Guillermo Algaze, ein Archäologe an der Universität von Kalifornien, San Diego. Aber er denkt weiterhin, dass mobile Hirten der Kitt waren, der ausgedehnte Handelsnetzwerke in frühen städtischen Gesellschaften zusammenhielt. Steve Rosen, ein Archäologe an der Ben-Gurion-Universität im israelischen Beer Scheva lobt Hammer und Arbuckles Ansatz. Aber er hat eine Reihe archäologischer Stätten in der Negev-Wüste gefunden, die darauf hindeuten, dass Hirten dort schon von 3000 vor Christus an Esel benutzten, um mehr als hundert Kilometer durch eine unwirtliche Gegend zurückzulegen.
Weitere Daten aus Mesopotamien sowie Analysen von Tierknochen und Mist aus neuen Ausgrabungen in Ur, wo Hammer kürzlich gearbeitet hat, dürften helfen, den Streit zu klären. Dann würde sich zeigen, ob marodierende Nomadenstämme oder einheimische Räuber Zimri-Lims Albtraum inspirierten.
Dieser Beitrag ist im Original im Wissenschaftsmagazin "Science" erschienen, herausgegeben von der AAAS. Weitere Informationen: www.aaas.org