Meeresbiologie:Quallen willkommen

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Eine Quallen-Zeichnung des Zoologen Ernst Haeckels, entstanden unter dem Mikroskop

(Foto: TASCHEN Köln/Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen)

Quallen sind ansehnliche Tiere, aber wenig nützlich. Sie vermiesen den Strandurlaub und legen Kraftwerke lahm. Forscher wollen der Plage nun etwas Gutes abgewinnen.

Von Tina Baier

Den Walen geht es schlecht, den Schildkröten geht es schlecht und den Korallen sowieso. Nur den Quallen scheint es immer besser zu gehen. Die ersten Meldungen über ein massenhaftes Auftreten von Medusen kamen um die Jahrtausendwende aus Japan: Riesige Quallenschwärme, die sich in Fischernetzen verfangen, den Fang erdrücken oder durch ihren Schleim ungenießbar machen; Medusen, die mit dem Wasser in Kühlsysteme von Atomkraftwerken gesaugt werden und dort einen "Quallen-Blackout" verursachen. Nicht zu vergessen die albtraumhafte Nomura-Qualle, groß wie ein Schrank, die allein durch ihr Gewicht Boote zum Kentern bringt.

Mittlerweile zeichnet sich immer deutlicher ab: Nicht nur in Japan, in vielen Meeren der Welt haben sich Quallen massenhaft vermehrt und sind zu einer Plage geworden. "Wir haben ein Problem", sagt Jamileh Javidpour vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. In Israel werden die Tiere tonnenweise in Entsalzungsanlagen gespült und legen die Technik tagelang lahm.

In Irland geriet vor einigen Jahren ein riesiger Schwarm Leuchtquallen (Pelagia noctiluca) in eine Lachsfarm. Innerhalb weniger Stunden starben Tausende Lachse an dem Gift der Nesseltiere. Fischer versuchten noch, die Käfige wegzuziehen, doch das Meer hatte sich in eine glibberige Masse verwandelt, in der ihre Boote kaum vorankamen. Und zumindest gefühlt kommt es immer öfter vor, dass Quallen Touristen den Strandurlaub vermiesen, weil sie entweder das Wasser unsicher machen oder - wie kürzlich auf der Nordseeinsel Wangerooge - zu Abertausenden an Land gespült werden und den Strand verglibbern.

Quallen gedeihen, wo andere Tiere ums Überleben kämpfen und sind deshalb so etwas wie ein Indikator, dass ein Ökosystem aus dem Gleichgewicht geraten ist. Die Medusen wirken zart und empfindlich, doch in ihrer Gesamtheit sind die Tiere unverwüstlich. Sie wabern seit mehr als 500 Millionen Jahren durch die Meere und haben schon viel überlebt: Hitzeperioden, Eiszeiten, die Evolution immer neuer Feinde und Nahrungskonkurrenten. Die aktuellen, vom Menschen verursachten Veränderungen der Umwelt, die viele andere Lebewesen bedrohen, machen den Quallen nichts aus. Im Gegenteil: Sie kommen ihnen sogar gelegen. Soweit bekannt ist, hängt das verstärkte Auftreten so genannter Quallenblüten, bei denen sich die Tiere explosionsartig vermehren, mit dem rücksichtslosen Umgang des Menschen mit der Natur zusammen.

Der Klimawandel zum Beispiel und der damit verbundene Anstieg der Wassertemperatur bringt den Stoffwechsel dieser Tiere erst so richtig auf Touren, so dass sie schneller wachsen und sich schneller vermehren können. Dazu kommt, dass in warmem Wasser weniger Sauerstoff gelöst ist als in kaltem. Quallen, deren Glibber Sauerstoff speichern kann, haben damit kein Problem. Viele Fische aber schon.

Sogar der Müll in den Meeren ist den Quallen willkommen. Er verwirrt nämlich ihre Feinde. Meeresschildkröten zum Beispiel verwechseln eine im Wasser treibende Plastiktüte oft mit einer Meduse und verenden dann kläglich wegen des Kunststoffs in ihrem Magen. Die Überfischung ist ein weiteres Geschenk des Menschen an die Quallen. In der Nordsee kann sich deshalb zum Beispiel die Meerwalnuss Mnemiopsis leidyi ausbreiten. Wie viele Fische ernährt sich die Rippenqualle von kleinen Krebstieren. Weil der Mensch die Fische dezimiert, bleibt mehr Futter für die Meerwalnuss übrig, die wächst und gedeiht.

Schließlich fressen die vielen Quallen den wenigen verbliebenen Fischen auch noch die letzten Krebstiere weg. Im Extremfall kann dieses Ungleichgewicht dazu führen, dass Quallen die Herrschaft über ein ganzes Ökosystem übernehmen, so wie im norwegischen Lurefjord. Dort pulsiert fast nur noch die Kronenqualle Periphylla periphylla durchs Wasser. Fische gibt es so gut wie keine mehr. Sie finden im Lurefjord schlicht nichts mehr zu fressen.

Alles was schlecht ist für Fische, ist gut für Quallen

"Einer der Gründe dafür, warum Quallen eine so schwerwiegende Bedrohung für ozeanische Ökosysteme darstellen, betrifft die Energieumwandlung", schreibt die Biologin Lisa-Ann Gershwin in ihrem Buch Quallen - Von der Faszination einer verkannten Lebensform. Sie verwandeln Energie nämlich verkehrt herum. "Normalerweise fressen Tiere mit höherem Energiegehalt solche mit niedrigerem", schreibt Gershwin. So enthalte ein Pfund Thunfisch mehr Energie als ein Pfund Krustentiere, die seine Beute sind. Bei Quallen ist das anders. Sie fressen die Eier und Larven von Fischen, die in der Nahrungskette über ihnen stehen. "Bei Quallenblüten verwandelt dieser Prozess ein energiereiches, von Fischen dominiertes biologisches Netzwerk in ein Ökosystem, das für andere Arten einschließlich des Menschen einen deutlich geringeren Energiewert hat", schreibt Gershwin.

Quallen bestehen zu mehr als 95 Prozent aus Wasser. Der Rest enthält nur das Allernötigste: Geschlechtsorgane, um Nachwuchs zu produzieren, einen Mund, der gleichzeitig ein After ist, um zu fressen und Ungenießbares auszuscheiden. Zudem einen Magen, ein schlichtes Nervensystem und Glibber, der alles zusammenhält. Ein Gehirn haben die Tiere nicht und auch kein Herz. Dafür besitzen Quallen klebrige Lassozellen, mit denen sie Beute fangen oder giftige Nesselzellen, mit denen sie sich zudem auch noch gegen Feinde verteidigen können. Das Gift einiger Arten ist derart stark, dass es sogar für Menschen unangenehm bis tödlich ist.

"Seewespen sind in Australien gefürchteter als Haie", sagt Rainer Kaiser, Kurator des Aquarium Berlin, in dem es auch eine große Quallenzucht gibt. "Man sieht sie kaum und sie schwimmen einem auch noch hinterher." Das Gift der Seewespe soll unbeschreibliche Schmerzen verursachen und tötet einen Menschen in wenigen Minuten, weil es das Herz blockiert. Eine der gefährlichsten Quallen im Mittelmeer ist die Portugiesische Galeere (Physalia physalis), die gerade wieder vor Mallorca gesichtet wurde. Ihr Gift ist zwar für Menschen in den allermeisten Fällen nicht tödlich aber sehr schmerzhaft. Wahrscheinlich deshalb werden Portugiesische Galeeren im Englischen auch "Floating Terror" genannt. In Nord- und Ostsee leben keine für den Menschen tödlichen Quallen. Doch sowohl die blaugrün schimmernde Leuchtqualle (Pelagia noctiluca), als auch die Gelbe Haarqualle (Cyanea capillata) verursachen unangenehme Ausschläge.

Wegen der Nesseln vieler Arten, aber auch weil sie nur wenige Nährstoffe und so gut wie keine Kalorien enthalten, dachte man lange Zeit, dass Quallen für andere Tiere als Beute uninteressant sind und keine große Rolle in der Nahrungskette und überhaupt für das marine Ökosystem spielen. Auch für den Menschen schienen die Tiere vollkommen wertlos zu sein. Nur wenige Wissenschaftler haben sie deshalb erforscht und das ist der Grund, warum über Quallen erstaunlich wenig bekannt ist.

Erst als Medusen immer häufiger in Massen auftraten, begann sich die Wissenschaft für sie zu interessieren. Die erste Veröffentlichung zum Thema Quallenblüten erschien im Jahr 1995. Ein zentraler Aspekt der Quallenforschung war zunächst die Frage, wie man die Glibbertiere möglichst effizient wieder los wird. In Japan hat man beispielsweise einen Schwimmroboter entwickelt, der die Quallen vor Atomkraftwerken schreddert, um zu verhindern, dass sie die Rohre verstopfen.

Die Meeresökologin Jamileh Javidpour will einen anderen Weg gehen. Sie koordiniert das europäische Forschungsprojekt "GoJelly", um herauszufinden, ob und wie sich die Quallenflut sinnvoll nutzen lässt. Die Europäische Union bewilligte sechs Millionen Euro für das Konsortium aus 15 wissenschaftlichen Institutionen in acht europäischen Ländern, das der Plage etwas Positives abgewinnen will.

Thorsten Reinsch von der Christian-Albrechts-Universität in Kiel beispielsweise erforscht, ob sich die Tiere als Dünger für die Landwirtschaft eignen. Ganz neu ist die Idee nicht. "Früher haben die Bauern Quallen vom Strand als Dünger auf die Felder gebracht", sagt Reinsch. Die Medusen enthalten nämlich Stickstoff und Phosphat. Vor allem das Phosphat interessiert den Wissenschaftler, weil es davon vergleichsweise wenig gibt. Reinsch will demnächst im Gewächshaus erproben, ob Pflanzen mit Quallendünger genausogut gedeihen wie mit herkömmlichem Mineraldünger. "Vor allem für Entwicklungsländer wäre das eine kostengünstige Alternative", sagt er. Zudem gibt es Hinweise, dass Quallen sich nicht nur als Dünger eignen, sondern gleichzeitig das Wachstum von Unkraut hemmen. Wissenschaftlich untersucht ist das aber noch nicht.

"Man kann Quallen sowohl warm als auch kalt genießen"

Ein anderes GoJelly-Team beschäftigt sich mit dem Schleim der Tiere: Die sowohl in der Nord- als auch in der Ostsee verbreitete Ohrenqualle Aurelia aurita, jene Art, die neulich die Strände auf Wangerooge verglibberte, produziert einen dicken Schleim. "Die darin enthaltenen Polymere haben die Fähigkeit kleinste Teilchen aufzunehmen", sagt Jamileh Javidpour.

Der unappetitliche Schleim könnte deshalb helfen, ein bislang ungelöstes Umweltproblem in den Griff zu bekommen - die Allgegenwart winziger Plastikteilchen, sogenanntes Mikroplastik in den Gewässern der Erde. Selbst Kläranlagen schaffen es nicht, die mit bloßem Auge nicht sichtbaren Partikel wieder vollständig aus dem Wasser zu entfernen. Die Forscher wollen deshalb aus dem Schleim einen Filter entwickeln, der beispielsweise als zusätzliche Stufe in Klärwerke eingebaut werden könnte, um das Mikroplastik zuverlässig aus dem Wasser zu fischen.

Wie wird man die Medusen wieder los? Einfach aufessen!

Anders als diese beiden Ansätze hat es die Anwendung von Quallenkollagen als Bestandteil von Kosmetika bereits zur Marktreife gebracht. "Die Substanz ist im Stützgerüst der Medusen enthalten und wirkt feuchtigkeitsspendend", sagt Levent Piker, Geschäftsführer der Kieler Firma Oceanbasis GmbH, die eine ganze Naturkosmetik-Linie auf Basis von Quallenkollagen vermarktet. Weniger gut lief der Versuch, Quallenkollagen in der Medizin zu nutzen. Zum Beispiel als Bestandteil eines Wundgels.

Der interessanteste Aspekt des GoJelly-Projekts ist aber, Quallen als Nahrung für Menschen aufzubereiten. Das ist nicht ganz einfach, denn die Tiere schmecken eigentlich nach nichts. Dafür sind sie gesund: kaum Fett, wenig Kohlehydrate, dafür viel Protein und sogar Antioxidantien. In Asien werden Quallen seit Jahrhunderten gegessen - mit Soja oder Sesam, als Salat oder in der Suppe. Javidpour will die Glibbertiere jetzt auch den Europäern schmackhaft machen. Am zartesten soll der Schirm sein, das Innere hat dagegen eine eher gummiartige Konsistenz.

Um Quallen als Lebensmittel akzeptabel zu machen, muss man ihnen ziemlich schnell das Wasser entziehen. Wegen der vielen Bakterien im Wasser verderben sie sonst schnell. "In China verwendet man dafür Aluminiumsalze", sagt Javidpour. Für den europäischen Markt ist dieses Verfahren undenkbar, da Aluminium gesundheitsschädlich ist. Italienische GoJelly-Forscher suchen deshalb nach einer anderen Methode, um die Quallen haltbar zu machen.

In Asien wird vor allem die Art Stomolophus meleagris serviert. "Doch im Prinzip sind auch die Quallen, die in Nord- und Ostsee vorkommen essbar", sagt Javidpour. Die Gelbe Haarqualle zum Beispiel, deren Schirm einen Durchmesser von bis zu einem Meter hat. Oder die etwas kleinere Wurzelmundqualle (Rhizostoma octopus), eine der wenigen Arten, die sich nicht nur im Meer treiben lassen, sondern eigenständig und sogar sehr schnell schwimmen können. Man muss sie nur richtig zubereiten.

Kürzlich habe sie Chips aus Ohrenquallen probiert, sagt Javidpour - genau die Tieren also, die neulich den Strand von Wangerooge verglibbert haben. Eine dänische Forschungsgruppe habe das Rezept entwickelt und sei bereits mit einer großen Supermarktkette im Gespräch. Und? Wie haben die Chips geschmeckt? "Salzig und nach Meer", sagt Javidpour. "Und sie waren crunchy." Doch das soll erst der Anfang sein. Das Team in Italien hat den Auftrag, ein ganzes Quallen-Kochbuch zu erarbeiten. "Man kann Quallen sowohl warm als auch kalt genießen", sagt Javidpour: "Als Sushi, als Salat oder als Nudeln." Sogar mit Schokosoße sollen sie ein Genuss sein.

Die Quallen-Zeichnungen auf dieser Doppelseite sind im Bildband "The Art and Science of Ernst Haeckel" des Taschen-Verlags erschienen.

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