Meeresbiologie:Leichenschmaus am Meeresgrund

Wenn Wale sterben, bilden sie einzigartige Ökosysteme auf dem Meeresboden: Sie sind die Lebensgrundlage für mehr als 400 Spezies.

Franziska Draeger

Wenn ein toter Wal strandet, entsteht für Anwohner und Strandbesucher meist ein lästiges Problem. Den monströsen Kadaver einfach verrotten zu lassen, ist keine Option.

Buckelwal, AP

Wenn Wale irgendwann tot auf dem Meeresgrund liegen, sind sie ein Festmahl für bizarre Kreaturen.

(Foto: Foto: AP)

Man kann versuchen, den Wal im Sand zu vergraben oder mit schwerem Gerät abzutransportieren. Auch Dynamit kam in solchen Fällen schon zum Einsatz, wie einschlägige Videos auf YouTube belegen. Die weitaus eleganteste Lösung ist: ein Anruf bei Craig Smith.

Der Meeresbiologe von der University of Hawaii wird den Walkadaver meist gern übernehmen - um ihn auf hoher See zu versenken. Dahinter steckt Smiths wissenschaftliches Interesse an den einzigartigen Ökosystemen, die ein toter Wal am Meeresgrund zum Leben erweckt.

Wenn Walleichen zu Boden sinken, oft Tausende Meter tief, entsteht auf dem Grund des Ozeans binnen kurzer Zeit neues Leben. Mehr als 400 Spezies haben Forscher bereits entdeckt, für die Walleichen die Lebensgrundlage bilden.

Viele dieser obskuren Lebensformen stammen aus der Urzeit. So zum Beispiel der Wurm Osedax, der sich von den Knochen toter Wale ernährt und entwicklungsgeschichtlich so alt ist wie die Meeressäuger selbst, wie der Paläontologe Steffen Kiel von der Universität Kiel in einer aktuellen Studie schreibt (PNAS, online).

Bizarre Lebensgemeinschaften

Viele weitere bizarre Kreaturen, die es sonst nirgendwo auf der Welt gibt, gründen auf und in Walkadavern bizarre Lebensgemeinschaften. Die toten Säuger geben dabei nicht nur sonderlichen Organismen Nahrung, von denen die meisten Menschen noch nie etwas gehört haben.

Im verzweigten Nahrungsnetz der Weltmeere hängt auch das Überleben von Fischarten, die der Mensch gerne verspeist, von versunkenen Walen ab. "Wenn es auf dem Meeresgrund keine Walleichen gäbe, würden Hunderte Arten aussterben", sagt Thomas Dahlgren von der Universität Göteborg.

Einfach ist es nicht, das Ökosystem Walkadaver zu erforschen. Zwar liegen auf den Wanderrouten der Säuger etwa alle zwölf Kilometer Überreste eines verendeten Exemplars, schätzt Smith. Leichter als diese zu finden ist es jedoch, gestrandete Wale zu versenken - auch wenn dies Tage dauern kann und "extrem stinkt", wie Smith sagt.

Vor Neuseeland, Portugal, Großbritannien, Kalifornien, Schweden und der Antarktis liegen schon von Forschern versenkte Wale. Mit Hilfe von Unterwasserbooten oder ferngesteuerten Robotern beobachten die Wissenschaftler dann, wie das Leben auf dem Meeresgrund Einzug hält.

"Ein dramatischer Anblick"

Sinkt ein 40 Tonnen schwerer Wal herab, beginnt zunächst eine Zeit des Überflusses für Lebewesen, die ihr Dasein sonst hungrig und vereinzelt im Meeresschlamm fristen. Das Walfleisch bietet auf einen Schlag so viel Futter wie die Planktonreste, die sich in 2000 Jahren am Meeresgrund ansammeln würden.

Explosionsartig vermehren sich die winzigen Ozeanbewohner. Bis zu hundert Jahre lang kann ein toter Wal als Nahrung dienen, schätzt Smith: "Alle Arten von Fischen, Haien und bunten Borstenwürmern tummeln sich am Kadaver. Das ist ein dramatischer Anblick."

Als erste Gäste lockt ein versunkener Wal Schleimaale an, die im schlammigen Boden leben. Die beinahe blinden Kreaturen fressen Lebertran und Muskelfleisch. Schläferhaie und Krabben leisten ihnen Gesellschaft.

Der Schmaus der Zombiewürmer

Was sie übrig lassen, vertilgen Borstenwürmer, Schnecken und Kleinkrebse. Nach einigen Jahren ragt das bleiche, riesige Gerippe aus dem Sand am Meeresboden. "Als 1987 das erste Walskelett entdeckt wurde, hielt es der Pilot des Unterwasserbootes für einen Dinosaurier", erzählt Smith.

Doch dann ist längst nicht Ende: Es beginnt die Zeit der sogenannten Zombiewürmer, zu denen auch Osedax gehört. Sie fressen ihren eigenen Lebensraum auf, und ist ein Wal komplett verspeist, müssen die Wurm-Nachkommen einen neuen Kadaver finden.

Dazu schleudern die Würmer ihre Larven weit hinaus ins Wasser und mit etwas Glück schaffen es zwei oder drei bis zum nächsten Wal. "Zombiewürmer sind die bizarrsten Wesen, die ich kenne", sagt Thomas Dahlgren.

"Auf den ersten Blick wirken sie wie Pflanzen." Von ihrem stielförmigen Körper stehen Fortsätze wie Palmwedel ab, mit denen die Tiere atmen. Die Würmer heften sich an die Walknochen und bilden wurzelartige Fäden, die in das Skelett hineinwuchern.

In den Fäden hausen Bakterien, die das Fett im Walknochenmark spalten und die Nahrung für ihre Wirte vorverdauen. Die Würmer selbst haben nicht mal einen Darm.

"Wie ein schlafender Eisbär"

Beim Leichenschmaus der Zombiewürmer entstehen giftige Gase wie Schwefelwasserstoff. Doch die anderen Walverwerter haben sich angepasst, das Gift kann ihnen nichts anhaben.

Im Gegenteil, einigen Bakterien dient es sogar als Lebensgrundlage, sie gewinnen daraus Energie. Mikroben überziehen das Walskelett wie ein lebender Teppich. "Sie bilden manchmal so pelzige Matten, dass ein toter Wal von weitem aussieht wie ein großer, schlafender Eisbär", sagt Smith.

"Rundwürmer, die die Bakterien fressen, gleiten durch den Mikrobenteppich wie Schlitten durch Schnee", sagt der Biologe. Auch Muscheln profitieren davon, dass sich Bakterien von den Walresten ernähren.

Mikroben, die in den Kiemen der Weichtiere leben, versorgen die Muscheln mit lebenswichtigen Nährstoffen. In der dunklen Tiefsee lassen die Bakterien die riesigen Kadaver orange, pink oder gelb leuchten.

Für Paläontologen ist ein toter Wal nicht nur ein faszinierender Lebensraum, sondern auch einer der Ausgangspunkte, von denen aus sich die unvorstellbare Vielzahl der Meereslebewesen entwickelt haben könnte.

Im Lauf der Evolution halfen Walleichen möglicherweise kleinen Lebewesen, sich in den Ozeanen auszubreiten. Die Muscheln mit ihren hauseigenen Schwefelbakterien etwa können auf dem öden Meeresboden rings um eine Walleiche herum nicht überleben. Um zu einer neuen Nahrungsquelle zu gelangen, brauchen ihre Larven Zwischenstationen wie die Walskelette.

"Vielleicht sind viele Tiere auf diese Weise über Generationen hinweg von mexikanischen Gewässern in kalifornische gelangt", sagt Craig Smith. Die Wale entwickelten mit der Zeit immer fettreicheres Knochenmark und konnten so nach ihrem Tod immer größere Lebensgemeinschaften ernähren.

Vor zwei Jahren stieß ein internationales Paläontologenteam auf einen Fund, der erkennen lässt, wie früh in der Entwicklungsgeschichte des Lebens die Walleichen-Profiteure entstanden sind.

Die Forscher entdeckten Skelette zweier großer Plesiosaurier. Darauf fanden sie Fossilien von Schnecken, die mit denen auf heutigen Walskeletten verwandt sind, sowie Spuren schwefelliebender Bakterien.

Der Lebensraum Walkadaver ist bedroht

Plesiosaurier aber sind vor 65 Millionen Jahren ausgestorben, 20 Millionen Jahre, bevor die ersten Wale lebten. "Die Fauna auf den Skeletten ähnelte sehr stark derjenigen, die ich auf den Knochen der ersten Wale gefunden habe", sagt der Paläontologe Kiel.

Der uralte Lebensraum Walkadaver ist inzwischen bedroht, denn immer weniger Wale leben - und sterben - im Meer. "In den vergangenen zweihundert Jahren haben wir die Zahl der Wale in den Weltmeeren um bis zu 90 Prozent dezimiert", sagt Dahlgren.

Das ist auch eine Gefahr für all jene Tierarten, die auf das Aas der Meeressäuger angewiesen sind. Wale seien schützenswerte Lebensräume, sagt Dahlgren. "Wahrscheinlich sind viele der Arten, die einst an Walkadavern lebten, schon ausgestorben, bevor sie je ein Mensch gesehen hat", vermutet Steffen Kiel.

Wer jedoch einen neuen Walleichen-Bewohner entdeckt, darf auf wissenschaftlichen Ruhm hoffen: Drei Spezies wurden schon nach Craig Smith benannt: eine Napfmuschel und zwei Vielborster.

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