Meeresbiologie:Die Gefährten des Weihnachtsbaum-Wurms

Artenrekord rund um Japan und Australien, Spezialisten vor der Antarktis und Neubürger im Mittelmeer - Forscher ziehen Bilanz einer zehnjährigen Inventur in den Ozeanen.

Katrin Blawat

Noch feilen die 360 Wissenschaftler an ihren Abschlussberichten, bis in genau einem Monat das bislang aufwendigste Projekt der Meeresbiologie zum Ende kommt. Am 4. Oktober wird in London der Abschluss des "Census of Marine Life" gefeiert, der sogenannten Volkszählung in den Meeren.

Meeresbiologie: Der Weihnachtsbaum-Wurm verdankt seinen Namen der Form der Atemorgane. Der Rest des Wurms versteckt sich in selbst gebauten Kalkröhren. Den Wurm entdeckten Forscher in den Gewässern Australiens.

Der Weihnachtsbaum-Wurm verdankt seinen Namen der Form der Atemorgane. Der Rest des Wurms versteckt sich in selbst gebauten Kalkröhren. Den Wurm entdeckten Forscher in den Gewässern Australiens.

(Foto: Census of Marine Life/John Huisman)

Doch mit bloßem Zählen kommt nicht weit, wer dokumentieren will, welche Arten von Pflanzen, Algen, Bakterien, Fischen, Säugern, Würmern, Schnecken, Muscheln, Krebsen und anderem Getier in den Weltmeeren leben. Ein Jahrzehnt lang haben die Forscher Datenbanken durchforstet, Proben genommen, untersucht und mit einer Akribie beschrieben, wie sie nur den Systematikern unter den Biologen eigen ist.

Vollständigkeit dürfe man von dem Census dennoch nicht erwarten, sagen seine Initiatoren. Vor allem über die Tiefsee und die kleinsten Lebewesen wie Bakterien wissen Forscher auch nach dem Großprojekt wenig. Dementsprechend sagen die Daten zur Anzahl der Arten nicht aus, wie viele Spezies es in der betreffenden Region tatsächlich gibt, sondern nur, wie viele Arten nach wissenschaftlichen Standards beschrieben sind. Wie häufig jede einzelne Art vertreten ist, haben die Forscher nicht ermittelt.

Für den Census wurden die Weltmeere in 25 Regionen eingeteilt. Wie zu erwarten war, sind kleinere Lebewesen überall mit mehr Arten vertreten als Fische oder Meeressäuger. Die Erkenntnisse aus einigen Regionen stechen besonders hervor.

So halten die Gewässer rund um Japan zusammen mit denen um Australien den Rekord in Sachen Biodiversität: Mehr als 33.600 Spezies haben die Biologen hier beschrieben. Nur die Würmer sind im Vergleich mit anderen Regionen mit auffallend wenigen Spezies vertreten.

70 Prozent der Arten noch nicht dokumentiert

Die vielfältigen Umweltbedingungen wie etwa große Unterschiede in der Wassertemperatur ermöglichen die hohe Artenvielfalt. Zudem habe Japan wegen wirtschaftlicher Interessen auf die Erforschung der Meereslebewesen stets viel Wert gelegt, schreiben die Forscher, der Wissensstand ist also vergleichsweise hoch. Dennoch seien vermutlich mehr als 70 Prozent aller vorkommenden Arten noch nicht dokumentiert.

Meeresbiologie: Die Glasgarnele - in der englischen Bezeichnung ein "Ghost shrimp" - lebt im Atlantik vor der Südküste Spaniens.

Die Glasgarnele - in der englischen Bezeichnung ein "Ghost shrimp" - lebt im Atlantik vor der Südküste Spaniens.

(Foto: Census of Marine Life/M. R. Cunha)

Noch höher schätzen Forscher den Anteil der nicht beschriebenen Arten in den Gewässern rund um Australien. Unter den insgesamt 33.000 Arten, die man dort heute kennt, befinden sich mehr als 30.000 tierische. Mollusken, dazu gehören Schnecken und Muscheln, und Krebstiere sind die artenreichsten Gruppen. Laut australischer Regierung gelten 18Spezies, darunter Säuger, Vögel, Fische und Reptilien, als gefährdet.

Im Mittelmeer ist die Lage deutlich angespannter. Noch liegt es mit etwa 17.000 Arten - ein Viertel von ihnen Bakterien - im oberen Mittelfeld. Doch Biologen warnen: In keiner anderen Meeresregion ist die Biodiversität derart bedroht. In den kommenden zehn Jahren wird Berechnungen zufolge vor allem der Klimawandel eine Gefahr darstellen. Weitere Risikofaktoren sind Vermüllung - auch durch Munitionsreste aus dem Kosovokrieg - sowie Überfischung und die große Zahl invasiver Arten.

Die meisten der heute bekannten 600 eingewanderten Arten stammen aus dem Pazifik und dem Indischen Ozean sowie aus dem Roten Meer. Auch im Atlantik zeigte die Meeresinventur, dass viele invasive Arten die Gewässer rund um einen Teil Europas als neue Heimat gewählt haben.

Ostsee bei Einwanderern weniger beliebt

Eisfisch

Der Eisfisch hat sich an sein Leben im antarktischen Ozean angepasst, indem er auf rote Blutkörperchen verzichtet. Das macht das Blut dünnflüssiger. Der Fisch muss weniger Energie aufwenden, es durch den Körper zu pumpen.

(Foto: Julian Gutt/AWI)

Die Ostsee hingegen ist bei Einwanderern weniger beliebt. Andererseits gibt es hier auch nur eine einzige endemische Art, die in keiner anderen Meeresregion vorkommt: einen unscheinbaren Seetang. Überhaupt ist die Ostsee das Refugium der Pflanzen und Algen: Etwa ein Drittel aller Arten gehören zu diesen beiden Gruppen.

Im Gegensatz dazu machen Fische nur drei bis sechs Prozent aller Spezies aus - in den Tropen sind es bis zu 28 Prozent. Auch Weich- und Krustentiere sind auffällig wenige vertreten. Insgesamt gehört die Ostsee mit nur etwa 4000 Arten zu den Regionen mit geringer Biodiversität, vergleichbar mit den Gewässern rund um die USA.

Während die Ostsee die Region mit dem kleinsten Anteil endemischer Arten ist, hält der antarktische Ozean den umgekehrten Rekord: Jede zweite der insgesamt 8200 Arten gibt es nur in dieser Region. Mit den extremen Bedingungen wie Kälte, wenig Licht im Winter und einer ganzjährigen Eisfläche kommen vor allem Spezialisten wie der durchsichtige Eisfisch zurecht.

Dementsprechend fanden Forscher auch keine eingewanderten Spezies. Gefährlich kann den Lebewesen im südlichen Ozean jedoch der Klimawandel werden: Teile der Antarktik gehören zu jenen Erdregionen, die sich am schnellsten überhaupt erwärmen.

In der Karibik hingegen liegt es nicht nur am Klimawandel, dass diese Meeresregion ganz oben auf der Gefährdungsliste steht. Dazu trägt auch die zunehmende Besiedlung der Küstenregionen und die daraus folgende Wasserverschmutzung mit Industrieabfällen bei. Korallenriffe, Mangroven und Seegras prägen die bis zu 29 Grad warmen Gewässer Süd- und Mittelamerikas.

12.000 verschiedene Spezies leben hier, darunter mehr als 1300 Fischarten. Vor allem das Gebiet vor den Küsten Venezuelas und Kolumbiens ist sehr artenreich. Pflanzen und Algen kommen hier jedoch, wie in der ganzen Karibik, vergleichsweise selten vor.

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