Süddeutsche Zeitung

Medizinische Fehler:Erschreckende Selbstdiagnose

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Mediziner und Pfleger sind angetreten, um Menschen zu helfen. Darum fällt es ihnen schwer, zuzugeben, dass Patienten durch ihr Tun auch Schaden nehmen können. Nun bekennen sich Ärzte und Schwestern erstmals öffentlich zu ihrem Versagen.

Guido Bohsem

Berlin - Matthias Schrappe erinnert sich genau an die Patientin. Sie war 50 und klagte über Herzrasen. Sie hatte einen hohen Puls, war unruhig und voller Angst. Schrappe ist zu der Zeit noch junger Assistenzarzt auf Bereitschaft. Es ist Nacht, und er muss noch andere Stationen betreuen.

Er verordnet ein Beruhigungsmittel. Wenige Stunden später wird er wieder gerufen. Die Patientin kann kaum noch atmen, bekommt im Liegen keine Luft mehr. Auf der Intensivstation wird klar, was Schrappe sofort hätte erkennen müssen: Die Frau hat einen schweren Gefäßverschluss in der Lunge, eine Embolie. Sie überlebt, aber der Mediziner ist schockiert. Am nächsten Tag will Schrappe über die Fehldiagnose sprechen, doch sein Vorgesetzter geht nicht darauf ein.

Es ist ein Beispiel aus der Vergangenheit, doch es ist weiterhin relevant. Immer noch werden in deutschen Kliniken, in Arztpraxen oder Pflegeheimen viele Fehler verschwiegen, verwischt und sogar vertuscht. Zu groß ist die Furcht vor Klagen, zu schwer das Eingeständnis der Fehlbarkeit in einem Berufszweig, dem der Mythos der Unfehlbarkeit anhaftet, nicht zuletzt weil er davon profitiert.

Schrappe und 16 andere anerkannte und prominente Mediziner, Schwestern und Pfleger haben sich jetzt entschlossen nicht mehr zu schweigen. Sie geben ihre persönlichen Irrtümer zu, ihr Versagen. Sie übernehmen in aller Öffentlichkeit Verantwortung. Sie sprechen über Fehler, die ihren Patienten Schmerzen und Leid brachten, einige sogar das Leben kostete. Sie brechen ein Tabu, das immer noch die Ärzteschaft, den ganzen Medizinbetrieb regiert.

"Aus Fehlern lernen", heißt eine vom AOK-Bundesverband finanzierte Broschüre, in der Ärzte ihre Erlebnisse schildern und die am Donnerstag in Berlin vorgestellt wird.

"Die Enttabuisierung bringt eine enorme Entlastung"

Schrappe ist heute Professor, Facharzt für Innere Medizin. Er arbeitet an der Uniklinik in Frankfurt, und er ist Vorsitzender des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, das die Broschüre herausgibt.

"Über Fehler in der Medizin wird auch heute nur sehr zögerlich gesprochen", sagt er. Die öffentlichen Bekenntnisse sollen helfen, das zu ändern. "Ich bin der Meinung, dass eine Enttabuisierung, die Möglichkeit über Fehler zu sprechen, eine enorme Entlastung für die Arbeit von Ärzten, Schwestern und Pflegern bringt. Das wollen wir fördern."

In nahezu allen Bereichen des Arbeitslebens ist eine strenge Fehlerkontrolle üblich. Sie dient dazu, die Arbeit für die Mitarbeiter und Kunden sicherer und das Unternehmen profitabler zu machen. Das gilt beispielsweise für die Luftfahrt. Ausgerechnet aber in der Medizin, in der es oft um Leben und Tod geht, wird erst seit gut zehn Jahren intensiver über Fehler gesprochen. Es begann 1999 in den USA.

Damals erschien dort eine breit angelegte Studie mit dem Titel "To Err is Human" - Irren ist menschlich. Sie lieferte erschreckende Ergebnisse. Mindestens 44000 Menschen, so die Autoren, sterben jährlich in den Vereinigten Staaten durch falsche Behandlungen. Schlimmer noch: Die Hälfte der Todesfälle ist vermeidbar.

"Wir haben uns damals gefragt, ob die Zahlen auch auf Deutschland übertragbar sind", sagt der Mediziner Kai Kolpatzik, der sich für die AOK im Aktionsbündnis um das Thema kümmert. Es stellte sich heraus, sie sind es, wenn auch genaue Daten weiter fehlen.

Mehr Tote als im Straßenverkehr

Nach einer 2007 veröffentlichten Studie des Aktionsbündnisses kommen pro Jahr rund 17.000 Menschen durch medizinische Fehler ums Leben. Die Zahl ist dreimal höher als die der Toten im Straßenverkehr. Frauen trifft es häufiger als Männer.

Zu den Erkenntnissen gehört auch: Die spektakulärsten Fehler passieren bei Operationen, in der Chirurgie. Oft werden aber auch Röntgenbilder zum Beispiel bei der Behandlung von Brustkrebs fehlinterpretiert. Menschen sterben auch, weil sie falsche Medikamente erhalten oder weil ihre Medizin zu hoch oder zu niedrig dosiert wurde.

Als bedeutsame Fehlerquelle gilt auch schlechte Kommunikation, zum Beispiel bei der Übergabe von Patienten. In immer mehr Klinken werden deshalb Meldesysteme, eingerichtet. Dort kann jeder, vom Pfleger bis zum Arzt, anonym Fehler oder Beinahe-Fehler angeben.

"Wichtig ist, dass es danach eine unmittelbare Reaktion, bestenfalls sogar eine Änderung gibt", sagt Kolpatzik. Für Hausärzte gibt es eine Internetseite, auf der Irrtümer berichtet und diskutiert werden ( www.jeder-fehler-zaehlt.de).

Oft sind es einfache Regeln, die das Schlimmste zu vermeiden helfen. So erkranken in deutschen Kliniken im Jahr rund 500.000 Menschen durch Krankenhauserreger. Bis zu 50.000 gelten als vermeidbar.

Wie? Durch eine gründliche Reinigung der Hände mit Desinfektionsmitteln. Dazu läuft seit Ende 2007 die Kampagne "Aktion Saubere Hände". Schrappe fasst es wie folgt zusammen: "Wenn Händedesinfektion ein Medikament wäre, würde es jeder Arzt sofort verschreiben."

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SZ vom 28.02.2008/mcs
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